Den Aufbruch organisieren: Vorhaben für die kommenden 120 Tage - von Katja Kipping und Bernd Riexinger

Katja Kipping und Bernd Riexinger

12.06.2012 / 12. JUNI 2012

1. Kunst des Zuhörens

Innerhalb der ersten 120 Tage nach dem Göttinger Parteitag wollen wir eine breite Debatte in der Partei über den weiteren Kurs führen. Dazu laden wir alle Mitglieder der Partei ein. Wir wollen die Kunst des Zuhörens praktizieren, die Fähigkeit voneinander zu lernen mit Leben erfüllen und zum Mitmachen einladen. Dafür ist ein intensiverer Erfahrungsaustausch auf allen Ebenen unserer Partei unerlässlich.

Die Parteiarbeit wollen wir partizipativer gestalten. Hierzu werden wir Konzepte entwickeln, die die Erfahrungen aus dem gewerkschaftlichen Organizing und der beteiligungsorientierten Kampagnenorganisation aufgreifen. Die Diskussionen sollen zum einen in einen Entwurf des Bundestagswahlprogramms sowie in eine gemeinsame Wahlstrategie münden, die wir im Herbst 2012 vorlegen werden. Wir werden das Prinzip der offenen Debatte mit der Basis und mit Akteur_innen außerhalb der Partei auch im Prozess der Erstellung des Wahlprogramms für die Bundestagswahl praktizieren.

Neben Regionalkonferenzen und Treffen mit Landesvorsitzenden wollen wir eine gemeinsame Sommertour durch die Gliederungen starten und einige neue Veranstaltungs- und Kommunikationsformen entwickeln:

  • Blog: Hierzu haben wir in einer ersten Maßnahme bereits den Blog "Fragend schreiten wir voran" eingerichtet, in dem alle Mitglieder der Partei sowie Sympathisant_innen aufgerufen sind, ihre Erfahrungen und Einschätzungen mitzuteilen. Wir wollen die Beiträge Anfang September auswerten und in unsere Debatten aufnehmen.
  • Massentelefonkonferenz Ost-West: Als eine weitere Maßnahme wollen wir Kreis- und Ortvorständen jeweils aus einem west- und einem ostdeutschen Bundesland zu Massen-Telefonkonferenzen einladen. Bei diesen Konferenzen befinden sich alle Teilnehmenden in einem telefonischen Konferenzraum und können sich per Chat/ Mail zu Wort melden. Die Vorsitzenden werden vor allem zuhören. Diese Veranstaltungsform ermöglicht es Mitgliedern, deren Wohnorte weiter auseinander liegen, miteinander ins Gespräch zu kommen und kommt denen zu Gute, die abends keine langen Fahrtwege auf sich nehmen können, weil sie z. B. neben dem Babyfon bleiben oder am nächsten Morgen früh auf Arbeit müssen.
  • Telefonkonferenz linker OberbürgermeisterInnen und LandrätInnen: Die Kommunalpolitik ist und bleibt ein Herzstück der LINKEN in Ost und West. Der Fiskalpakt wird auch für die Länder und Kommunen einen zerstörerischen Kürzungs- und Privatisierungsdruck entfalten. Wir wollen, dass diejenigen, die linke Politik vor Ort gestaltend umsetzen, ihre Perspektiven und Ideen in den neuen Aufbruch der LINKEN einbringen. Wir werden uns daher demnächst mit den kommunalen Funktionsträger_innen unserer Partei dazu beraten.
  • Aufstellen für die Landtagswahl in Niedersachsen: Eine zentrale Aufgabe des neuen Vorstandes besteht darin, die Landtagswahl in Niedersachsen zu unterstützen sowie sich für die Bundestagswahl aufzustellen. In einem gemeinsamen Treffen mit den Landesvorstand/Wahlstab Niedersachsen wollen wir gemeinsam beraten, wie die Bundespartei den niedersächsischen Landtagswahlkampf unterstützen kann.

2. DIE LINKE - Schutzfaktor gegen Prekarisierung und Stress am Arbeitsplatz - Postkartenaktion

In der Bundesrepublik arbeiten mittlerweile knapp 23 Prozent aller Beschäftigten zu Niedriglöhnen - in Teilzeit, Leiharbeit, Minijobs oder als Aufstockerin und Aufstocker. Das Vermögen der Reichsten in unserer Gesellschaft hat sich seit Ausbruch der Krise hingegen immer weiter vermehrt. Während in diesem Land 1,4 Millionen Menschen mit Löhnen von weniger als fünf Euro abgespeist werden haben die Millionäre in diesem Land ein Vermögen in der Höhe der öffentlichen Schulden erlangt - 2,2 Billionen Euro.

Trotz dieser unsozialen Verwerfungen äußert sich die gegenwärtige Wirtschaftskrise in Deutschland anders als in Griechenland oder Spanien. Und sie wird von den Bürger_innen anders erlebt. Die Krise besteht in einer zunehmenden Prekarisierung der Lebens- und Arbeitswelt, in zunehmendem Druck, Stress und steigender Angst. Diese Prekarisierung hat verschiedene Gesichter: Stress im Job, das Gefühl, in immer kürzerer Zeit immer mehr schaffen zu müssen, Angst vorm Verlust des Jobs, und sei er noch so schlecht bezahlt, oder das Gefühl, aus Angst vor Hartz-IV-Sanktionen oder dem Gefühl, als Erwerbslose auf dem Amt nicht als Bürgerin zu gelten und anderen demütigenden Erfahrungen.

Dabei werden die verschiedenen Gruppen gegeneinander auszuspielt, z.B. der Arbeiter der Stammbelegschaft gegen die Leiharbeiterin, die Verkäuferin mit Dumpinglohn gegen den Erwerbslosen oder der Migrant gegen die "Deutsche". Linke Politik muss die gemeinsamen Interessen, die zwischen den verschiedenen Gruppen der Beschäftigten, der Erwerbslosen, der Prekarisierten - sowohl derjenigen, die am Laptop arbeiten als auch derjenigen, die den Wischmopp schwingen- herausarbeiten und eine gemeinsame Sprache finden.

Wir wollen deshalb unsere parlamentarischen und außerparlamentarischen Aktivitäten für einen flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohn, gegen Leiharbeit und für Gute Arbeit fortsetzen. Wir werden deshalb u.a. eine öffentlichkeitswirksame Aktion zum Urlaubbeginn starten, in der wir den Menschen in diesem Land sowohl einen schönen und erholsamen Urlaub wünschen als auch auf die zunehmende Prekarisierung und den wachsenden Stress am Arbeitsplatz hinweisen. Politisch werden wir bei dieser Aktion deutlich machen, dass die LINKE der Schutzfaktor gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Stress am Arbeitsplatz ist.

3. Aufklären und Widersetzen: Fiskalpakt ist eine Zwangsjacke für die Demokratie und eine Bremse für Investitionen - Ein Bewegungsratschlag

In den kommenden Monaten werden wir eine weitere Zuspitzung der Situation erleben, wenn der Fiskalpakt in Kraft tritt. Der Fiskalpakt wird mittelfristig dringend notwendige Investitionen in Infrastruktur, ökologische Umgestaltung und Bildung verhindern.

Die Krise ist aber nicht entstanden, weil einige Länder über ihre Kosten gelebt haben. Schuld an der Krise sind vielmehr die drei "U"s: Unterregulierung der Finanzmärkte, Ungleichgewichte in der Außenhandelsbilanz und Ungleichgewichte in der Einkommensverteilung. Eine wirksame Krisenbekämpfung muss genau da ansetzen. Das heißt: es bedarf Maßnahmen zur Umverteilung von oben nach unten, höhere Löhne in Deutschland zur Verringerung des Leistungsbilanzüberschusses und eine couragierte Regulierung der Finanzmärkte, z.B. mit einem Verbot der Hedgefonds.

Durch die Beschränkung der souveränen parlamentarischen Haushaltsrechte steckt der Fiskalpakt die Demokratie in eine Zwangsjacke der Alternativlosigkeit. Konjunkturprogramme, um wirtschaftlichen Krisen aktiv begegnen zu können, werden mittelfristig nicht mehr möglich sein. Diese von der Regierung Merkel betriebene und in Europa durchgesetzte Politik wird negative Folgen für Europas Ansehen bei den Bürgerinnen und Bürgern haben, weil sie Europa nur noch mit Entdemokratisierung und Sozialabbau in Verbindung bringen. Die Akzeptanz der Europäischen Union wird weiter sinken.

Wir wissen aber auch, dass die Gefahren des Fiskalpaktes in weiten Teilen der Bevölkerung noch nicht bewusst sind. Die Erzählung, dass wir uns in einer Staatschuldenkrise statt in einer Finanzmarktkrise befinden, verfängt. Die Logik, wer Schulden hat, müsse sparen, scheint plausibel. Hieran sind SPD und Grüne mitschuldig.

Wir sind uns daher unserer Verantwortung bewusst, dass wir eine wichtige gesellschaftliche Aufklärungsarbeit zu leisten haben und werden deshalb u.a. in Form eines Bewegungsratschlages das Gespräch mit den Gewerkschaften, den sozialen Bewegungen und mit unseren Partnerparteien in Europa suchen. Wir werden unsere Beteiligung am Bündnis "Umfairteilen" verstärken und den Kampf für eine wirksame Vermögensbesteuerung in den Mittelpunkt unseres Politikangebots für die Bewältigung der Folgen der europäischen Banken- und Wirtschaftskrise stellen. Wir werden mit den anderen europäischen Linksparteien über eine entsprechende europaweite Initiative sprechen.

4. Eine Offensive für das Öffentliche

Durch die Veränderungen der Arbeitswelt verändert sich auch der Blick auf die soziale Frage. Zunehmend wird die soziale Frage mit einem individuellen Recht des Menschen auf Teilhabe am politischen, sozialen und kulturellen Leben verbunden. Die Bereitstellung des Lebensnotwendigen - der Gemeingüter, Commons - entwickelt sich zur neuen sozialen Idee im Kapitalismus des 21. Jahrhundert. Die Eliten in Wirtschaft und Politik führen stattdessen einen Feldzug gegen das Öffentliche und für Privatisierungen. Während die Verluste der Banken und der Finanzwirtschaft sozialisiert werden, werden seit Jahrzehnten profitable öffentliche Unternehmen privatisiert.

Diesem Ausverkauf der Gemeingüter setzen unzählige lokale Initiativen erfolgreich die Überzeugung entgegen: Privatisierung ist Diebstahl öffentlichen Eigentums. So manches Bürgerbegehren konnte die Privatisierung der kommunalen Stadtwerke oder Krankenhäuser verhindern. Dies war auch ein Erfolg unserer Partei. Eine Offensive fürs Öffentliche kann daran anknüpfen, sollte aber nicht bei reinen Abwehrkämpfen stehen bleiben. Sozialistische Politik heißt eben auch, Wirtschaftsdemokratie voranzutreiben sowie Formen solidarischer Ökonomie, wie Genossenschaften oder Kooperativen, und Rekommunalisierungen zu befördern. Als Voraussetzung dafür setzen wir uns für eine Steuerpolitik ein, die die Kommunen ausreichend finanziert.

Übersetzt auf Landes- und Kommunalpolitik könnte dies bedeuten, sich für kostenloses WLAN für alle oder die Rückgewinnung der Stromnetze in öffentliche Hand - als Voraussetzung für dezentrale, ökologische Stromproduktion und Sozialtarife - einzusetzen. Mit der Gründung der Genossenschaft "Fair Wohnen", die von linken Abgeordneten unterstützt wurde, wird zum einen ein ganz konkreter Versuch unternommen, um die TLG-Wohnungen vor dem Ausverkauf zu retten. Zum anderen konnte damit deutlich gemacht werden, dass wir die Eigentumsfrage nicht nur stellen, sondern sie im Jahr der Genossenschaften auch konkret beantworten. Unser Werben in Ost wie West für die Genossenschaft "FairWohnen" geht definitiv über die nächsten 120 Tage hinaus.

Wir sind der Überzeugung, dass das Genossenschaftsmodell eine wichtige Antwort auf die Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus ist. Wir werden deshalb die Gründung von Genossenschaften auf verschiedenen Praxisfeldern, beispielsweise in der Debatte um die Zukunft der Schlecker-Läden oder in die absehbaren politischen Auseinandersetzungen um Krisenhilfen für Unternehmen, einbringen und stark machen.