Rückgang mit Besorgnis

Bernhard Müller: Die Arbeitslosenzahlen im Mai

14.06.2012 / Aus: Sozialismus, 5. Juni 2012

»Die Zahl der Arbeitslosen ist im Mai auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren gefallen.« Diese Botschaft der Bundesagentur für Arbeit liest sich auf den ersten Blick wie eine Fortsetzung der im europäischen Vergleich positiven Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt in Deutschland. Während die rezessiven Entwicklungstendenzen in den südeuropäischen Krisenländer die Arbeitslosigkeit auf immer neue Höchststände treibt (in Spanien z.B. 24,1%), verzeichnet Deutschland im März mit 5,5% immer noch eine deutlich unter dem EU-Durchschnitt (EZ 17 – 10,9%) liegende Arbeitslosenquote.

Auf den zweiten Blick ist allerdings die wachsende Besorgnis um die weiteren Entwicklungsperspektiven auch in der Berliner Republik unverkennbar. Denn erstens fiel der Rückgang im Mai schwächer aus als in den drei Vorjahresmonaten, in denen die Zahl der Arbeitslosen um Durchschnitt um 136.000 gesunken war. Auch die Abstände zu den Vormonaten werden geringer: Im Mai gab es zwar 105.000 Arbeitslose weniger als ein Jahr zuvor. Im Januar wurde der Vorjahreswert aber noch um 264.000 Arbeitslose unterschritten.

Hinzu kommen zweitens die konjunkturellen Risiken, die aus dem erneuten offenen Ausbruch der europäischen Schuldenkrise resultieren: »Nach dem Minus im vierten Quartal 2011 ist das reale Bruttoinlandsprodukt nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im ersten Quartal 2012 saison- und kalenderbereinigt um 0,5% gewachsen. Inzwischen haben aber die konjunkturellen Risiken infolge der europäischen Schuldenkrise zugenommen. So zeigt sich eine Eintrübung im ifo-Geschäftsklimaindex und den ZEW-Konjunkturerwartungen, die beide zuletzt deutlich nachgegeben haben.« (Bundesagentur für Arbeit, Monatsbericht)

Auch die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) gibt sich in ihrem jüngsten Quartalsbericht konsterniert. Aus der erhofften Erholung der Weltwirtschaft ist nichts geworden: »Der Stimmungsumschwung im vergangenen Quartal ist markant… In den vergangenen drei Monaten haben die Zweifel wieder überhandgenommen: am Wirtschaftswachstum in Europa, den USA und China, an der finanziellen Solidität von Staaten und Banken des Euro-Raums, an den Auswirkungen der Haushaltskonsolidierung auf das Wachstum, an der politischen Stabilität im Euro-Raum.«

Vor diesem Hintergrund ist die »Abschwächung der guten Grundtendenz« am deutschen Arbeitsmarkt einzuordnen. Die Arbeitslosigkeit hat sich von April auf Mai um 108.000 oder 4% auf 2.855.000 verringert. Saisonbereinigt errechnet sich für den Mai 2012 allerdings keine Veränderung, nach +18.000 im April und -13.000 im März.

Insgesamt bezogen im Mai 2012 5.191.000 erwerbsfähige Menschen Lohnersatzleistungen nach dem SGB III (Arbeitslosengeld) oder Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Arbeitsuchende nach dem SGB II (Arbeitslosengeld II). Auffällig ist dabei, dass die Zahl der Arbeitslosengeldempfänger saisonbereinigt den vierten Monat in Folge gestiegen ist. Im Mai erhielten 796.000 Personen Arbeitslosengeld nach dem SGB III, 45.000 weniger als im Vormonat. Bereinigt um saisonale Einflüsse entspricht dies allerdings einem Anstieg um 15.000, nach +21.000 im April und +3.000 im März. Gegenüber dem Vorjahresmonat stieg die Zahl der Arbeitslosengeldempfänger erstmals seit März 2010 wieder an – und zwar um 14.000 (+2%).

Die Abschwächung der positiven Entwicklung hängt nicht zuletzt auch mit einer rückläufigen Entlastung durch arbeitsmarktpolitische Instrumente zusammen. Die von der schwarz-gelben Bundesregierung beschlossenen drastischen Einschnitte schlagen vor dem Hintergrund der ablaufenden Konjunktur nun auf den Arbeitsmarkt durch. »Die konjunkturellen Kräfte waren nicht mehr stark genug, um diese Einflüsse auf die Arbeitslosigkeit zu kompensieren.«

So befanden sich im Mai 2012 nurmehr 973.000 Personen in einer von Bund oder Bundesagentur für Arbeit geförderten arbeitsmarktpolitischen Maßnahme. Das waren 21% weniger als vor einem Jahr. So gab es Abnahmen bei Beschäftigung schaffenden Maßnahmen (einschließlich Beschäftigungszuschuss; -42.000), bei Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung (einschließlich der Förderung Behinderter; -33.000), bei der Förderung der Selbständigkeit (-48.000), bei der beruflichen Weiterbildung (einschließlich der Förderung Behinderter; -35.000) sowie bei Maßnahmen mit vorruhestandsähnlichen Wirkungen (Saldo von -38.000).

Die Unterbeschäftigung, die die tatsächliche Arbeitslosigkeit sehr viel besser wiederspiegelt als die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen, belief sich im Mai auf 3.863.000. Gegenüber dem Vormonat hat sie um 95.000 oder 2% abgenommen. Das Saisonbereinigungsverfahren errechnet für Mai 2012 ein Minus von 8.000, nach -19.000 im April und -29.000 im März. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Unterbeschäftigung (ohne Kurzarbeit) um 303.000 oder 7% verringert. Dieser Rückgang ist ganz überwiegend auf den drastischen Abbau der Zahl der in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen befindlichen Arbeitslosen zurückzuführen. Dadurch fiel die Abnahme der Unterbeschäftigung im Vorjahresvergleich (noch) deutlich stärker aus als bei der Arbeitslosigkeit.

Sinkende gesellschaftliche Kosten der Arbeitslosigkeit

Der Beschäftigungsaufbau hat im Verein mit dem Umbau der sozialen Sicherungssysteme (Hartz IV und die folgenden »Reformen«) die gesellschaftlichen Kosten der Arbeitslosigkeit deutlich gesenkt. So beliefen sich die gesamtfiskalischen Kosten der registrierten Arbeitslosigkeit in Deutschland nach einer neueren Untersuchung des IAB[1] in 2011 auf 56,4 Mrd. Euro, das waren gut 31 Mrd. Euro weniger als im Jahr 2005.

Den größten Teil davon bilden mit 31 Mrd. Euro oder 55% die Ausgaben (2005: 53%). Sie umfassen das Arbeitslosengeld I (ALG I) und das Arbeitslosengeld II (ALG II), jeweils einschließlich der abgeführten Sozialversicherungsbeiträge. Beim ALG II sind die Leistungen für Unterkunft und Heizung (KdU) sowie für diverse Mehrbedarfe enthalten, die an Haushalte mit arbeitslosen Personen gezahlt werden. Des Weiteren gehören dazu etwaige Aufstockungsbeträge für ALG-I-Empfänger, deren Leistung geringer ist als die Grundsicherung nach dem SGB II. Bis zum Jahr 2010 wurde außerdem befristet ein Zuschlag zum ALG II gewährt, wenn Arbeitslose aus ALG I in ALG II übergingen (§ 24 SGB II). Enthalten ist schließlich auch das Sozialgeld für nicht erwerbsfähige Personen, die zu Bedarfsgemeinschaften von Arbeitslosen gehören. Denn wenn diese nicht arbeitslos wären, würde für jene meist auch kein Sozialgeld gezahlt.

Die Einnahmenausfälle des Staates wegen Arbeitslosigkeit betragen 25 Mrd. Euro, das sind 45% der gesamtfiskalischen Kosten (2005: 47 %). Sie ergeben sich überwiegend aus den Mindereinnahmen bei den Sozialbeiträgen und zum kleineren Teil aus Steuerausfällen – jeweils im Vergleich zu einer Situation ohne Arbeitslosigkeit.

So nehmen die Träger der Sozialversicherung weniger ein, denn die Beiträge für arbeitslose Leistungsempfänger sind geringer als jene, die aus einem Arbeitseinkommen abgeführt würden. Die höchsten Beitragsausfälle im Jahr 2011 verzeichnete dabei mit knapp 9,1 Mrd. Euro die Rentenversicherung. Den Krankenversicherungen sind Einnahmen in Höhe von 4,3 Mrd. Euro entgangen, der Pflegeversicherung 0,6 Mrd. Euro. Bei der Arbeitslosenversicherung schlägt der Beitragsausfall voll zu Buche, weil es für Arbeitslose keine Ersatzzahlungen gibt. Die BA hat im Jahr 2011 wegen der Arbeitslosigkeit 1,7 Mrd. Euro weniger eingenommen. Im Jahr 2005 waren diese Mindereinnahmen mit 6,2 Mrd. Euro noch weit höher. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Beitragssatz im Zeitraum 2005 bis 2011 von 6,5 auf 3,0% gesunken ist.

Die Steuermindereinnahmen wegen Arbeitslosigkeit beliefen sich 2011 auf 9,5 Mrd. Euro. So hat der Staat 8,0 Mrd. Euro weniger Lohn- und Einkommensteuer eingenommen und das Aufkommen der Verbrauchssteuern war um 1,5 Mrd. Euro geringer, denn die Privathaushalte schränken in der Regel ihre Konsumausgaben ein, wenn ihr Budget durch Arbeitslosigkeit schmäler wird.

Der wichtigste Faktor bei diesem Rückgang der Kosten ist sicherlich der Beschäftigungsaufbau. So ist die gesamte Unterbeschäftigung seit ihrem Höchststand im Jahr 2006 von rd. 6 Mio. Personen um insgesamt rd. 2,2 Mio. auf rd. 4,3 Mio. Personen im Jahr 2011 gesunken. Im Krisenjahr 2009 war temporär ein leichter Anstieg zu verzeichnen.

Daneben aber beruht die Reduktion der gesellschaftlichen Kosten von Arbeitslosigkeit ganz wesentlich auf den von Rot-Grün auf den Weg gebrachten Hartz IV-Reformen und dem was dann in der Folgezeit von der Großen Koalition und Schwarz-Gelb an weiteren Veränderungen beschlossen worden ist. Neben der Verkürzung des Bezugs von Arbeitslosengeld und der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe auf niedrigem Hartz IV-Niveau waren dies vor allem:

  • Senkung des Beitragssatzes für die Arbeitslosenversicherung durch die große Koalition aus CDU und SPD bis 2009 von 6,0% auf 2,8%. Die logische Folge war eine drastische Absenkung des Einnahme- und damit auch des Ausgabenniveaus. So konnte die BA 2006 noch mit Einnahmen von 55,4 Mrd. Euro arbeiten. Zum teilweisen Ausgleich der Mindereinnahmen durch die Beitragssatzsenkung ab 2007 erhält die BA in jedem Kalenderjahr einen Beitrag des Bundes, der dem Aufkommen eines Prozentpunktes des allgemeinen Mehrwertsteueraufkommens eines Jahres entspricht. Das waren 2010 noch 8 Mrd. Euro. Der soll nun aber schrittweise bis 2015 auf die Hälfte eines Mehrwertsteuerpunktes abgesenkt werden. 2015 erhält die BA dann nur mehr 4,7 Mrd. Euro.
  • Einführung eines »Eingliederungsbeitrags« durch Schwarz-Rot seit 2008, mit dem die Versicherten die Hälfte der Eingliederungs- und Verwaltungsausgaben des Hartz IV-System mitfinanzieren. Das waren 2011 insgesamt 4,5 Mrd. Euro. Hinzu kommen noch bestimmte Förderleistungen für die BezieherInnen von Hartz IV, die sich auf nochmals etwa 600 Mio. Euro im Jahr summieren. Die 4,5 Mrd. Euro, die sich der Bund aus den Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung 2011 zweckentfremdet aneignet hat, entsprechen immerhin 17,7% des gesamten Beitragsaufkommens. Damit hat sich der Bund mehr Geld aus den Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung herausgenommen, als er insgesamt für die Arbeitsförderung aller Hartz IV-EmpfängerInnen zur Verfügung gestellt hat.

Wenn ab 2013 zwar der Eingliederungsbeitrag entfällt, es dafür aber auch keine Zuschüsse des Bundes aus dem Mehrwertsteueraufkommen mehr gibt, dann gehen der Arbeitslosenversicherung unter dem Strich weitere Bundeseinnahmen in Milliarden-Höhe verloren.

Die von Schwarz-Gelb noch forcierte Senkung der Kosten der Arbeitslosigkeit hat volkswirtschaftlich gesehen allerdings ein kontraproduktiven Effekt. Durch die weitere Ausblutung der Arbeitslosenversicherung und Absenkung des Niveaus der Sozialleistungen für Langzeitarbeitslose fehlen wichtige Stabilisatoren, die dazu beigetragen haben, dass Deutschland die Krisenkonstellation des Jahres 2009 relativ schnell überwinden konnte.

Hinzu genommen werden müssen zudem die ökonomisch-sozialen Folgen der Politik der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts[2] (massive Ausbreitung von Leiharbeit, Mini Jobs, Working Poor etc. und deutlicher Anstieg der Armutspopulation), die neben dem Verzicht auf aktive Arbeitsmarktpolitik unter den Bedingungen der sich abzeichnenden konjunkturellen Eintrübung ihre negativen Wirkungen weiter entfalten werden.

Keine schönen Aussichten für Beschäftigte und Arbeitslose der Berliner Republik.

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[1] Hans Uwe Bach/Eugen Sitznagel, Kosten der Arbeitslosigkeit. Druck auf die öffentlichen Budgets lässt nach, IAB-Kurzbereicht 8/2012
[2] Siehe dazu etwa Eric Seils: Beschäftigungswunder und Armut. Deutschland im internationalen Vergleich, Böckler-Impuls 9/2012; Karl Brenke, Geringer Stundenlöhne, lange Arbeitszeiten, in DIW-Wochenbericht 21/2012; Wilhelm Adamy, Harz IV – Bedürftigkeit von Erwerbstätigen, DGB 10.1.2012