Neue Zeitrechnung für Schleswig-Holstein

Von Björn Radke, Aus NORD LINKS (NL)

05.02.2012 / 31. Januar 2012

Fünf Monate vor der Landtagswahl Anfang Mai 2012 in Schleswig-Holstein ist deutlich: Die schwarz-gelbe Regierungskoalition wird schwerlich ihre Mehrheit verteidigen können. Die jüngsten Meinungsumfragen (vom 18.11.2011 Forsa) zeigen vor allem erdrutschartige Verschiebungen bei der FDP, die von 14,9% (Landtagswahl 2009) in die Bedeutungslosigkeit und aus dem Landtag fällt mit drei Prozent. Die CDU verharrt bei 33%. Damit spiegelt sich ein Trend wieder, der auch auf der Bundesebene zu verzeichnen ist: Die WählerInnen wenden sich von der schwarz-gelben Regierungskoalition ab. Diese Koalition wird gerade noch von einem Drittel der Wahlbevölkerung unterstützt.

Die SPD profitiert von ihrer Neuaufstellung mit dem Spitzenkandidaten Torsten Albig. Die Grünen liegen – wie auf Bundesebene mit nachlassendem Hype – im Aufwind und erreichen 17% gegenüber 12,5% bei den letzten Landtagswahlen. SPD und Grüne könnten - rechnerisch gestützt auf 49% – bequem regieren. Laut Umfrage favorisieren derzeit 32% eine Neuauflage dieser 2005 beendeten Koalition. Bei Grünen-Anhängern liegt die Zustimmung sogar bei 67%.

Bei den „kleinen Parteien“ profitieren die „PIRATEN“ von dem Image als „Anti- Partei“ und steigern sich bei den Befragten um das Doppelte auf 6%. Dagegen verliert der SSW 1,3%, wird aber aufgrund seines Sonderstatus als Partei der dänischen Minderheit weiterhin im Landtag vertreten sein. DIE LINKE hat ihre Position (6% bei der Landtagswahl 2009) nicht halten können und ihren Zuspruch halbiert. Mit 3% bewegt sie sich am Rand der politischen Bedeutungslosigkeit. Sicherlich hat dieser Bedeutungsverlust zum Teil bundespolitische Hintergründe. Gleichwohl bleibt die Herausforderung, dass sich die Landespartei auch kritisch überprüfen und sich selbst neu erfinden muss.

Weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün können sich auf überzeugende gesellschaftliche Mehrheiten stützen. Die Herausforderungen für eine Landesregierung sind enorm.Trotz Konjunkturaufschwung und gesunkener Arbeitslosenzahlen: Armut verfestigt sich

Die Zahl der Arbeitslosen ist in Schleswig-Holstein auf den niedrigsten Stand seit 16 Jahren gesunken. Im Dezember waren 98.700 Menschen ohne Job, das sind 5.100 weniger als vor einem Jahr. »Die Zahl der Arbeitslosen wird auch 2012 in Schleswig-Holstein zurückgehen. Bisher deutet kein Indikator darauf hin, dass die positive Entwicklung am Arbeitsmarkt durch die Schuldenkrise beendet wird«, so der Chef der Regionaldirektion Nord. Mit 863.300 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten seien 20.600 zusätzliche Arbeitsplätze im Vergleich zum Vorjahr entstanden. Das sei ein Plus von 2,4%. Beschäftigungszuwächse konnten die Bereiche Dienstleistungen für Unternehmen (+5.000), Gesundheit und Soziales (+4.700) sowie der Handel (+3.900) melden.

Weniger Beschäftigte gab es nur im Bereich Öffentliche Verwaltung (-300), was der von allen Parteien im Landtag – außer der LINKEN – verabredeten „Schuldenbremse“ geschuldet ist. »Die Betriebe suchen Fachkräfte. Da rund 45 Prozent der Arbeitslosen keine Ausbildung haben, wird das Thema Qualifizierung immer wichtiger, um die Vermittlungschancen –insbesondere von Langzeitarbeitslosen - zu verbessern.« Diese Aussage des BA-Chefs Goecke grenzt schon an Heuchelei, weil zugleich die Mittel für die Qualifizierung und Eingliederung der Arbeitslosen im Jahr 2011 dramatisch abgesenkt wurden.

Im Klartext:

  • 263.527 Schleswig-HolsteinerInnen oder 9,3% der Bevölkerung sind gegenwärtig auf Sozialleistungen angewiesen.
  • Die Zahl der »Aufstocker«, d.h. der Beschäftigten, die von ihrer Arbeit nicht leben können und deshalb zusätzlich Hartz IV beziehen müssen, hat sich über die Jahre seit 2009 verfestigt (aktuell:49.406 Beschäftigte).
  • Selbst bei sozialversicherungspflichtiger Vollbeschäftigung sind immer noch 18.480 Menschen hilfsbedürftig.
  • Bedrückend ist auch die steigende Zahl (seit Nov 09 um 4.000) der RentnerInnen (31.425), die Grundsicherungsleistungen beziehen, weil sie von ihrer Rente allein nicht leben können.
  • Völlig inakzeptabel ist die sich seit Jahren verfestigende Anzahl der Kinder in Armut (63.264). (Alle Zahlen Dezember 2011)

Die finanzielle Lage Schleswig-Holsteins ist desaströs. Anfang 2012 erreichten die Schulden des Landes mit gut 27,6 Mrd. Euro ihren derzeitigen Höchststand. Schleswig-Holstein ist damit das am zweithöchsten verschuldete westliche Flächenland nach dem Saarland. Schon im Sommer 2011 hat der Stabilitätsrat eine drohende »Haushaltsnotlage« festgestellt.

Vor neuer Zeitrechnung?

»Für die Finanzplanungen von Bund und Ländern hat 2010 eine neue Zeitrechnung begonnen. … Für das Land wurde durch den Stabilitätsrat am 23. Mai 2011 festgestellt, ›dass im Land Schleswig-Holstein eine Haushaltsnotlage droht‹. Die vom Land Schleswig-Holstein ergriffenen Konsolidierungsmaßnahmen werden ausdrücklich anerkannt und ihre konsequente Umsetzung empfohlen. Das Land ist damit in der Pflicht, ein Sanierungsprogramm vorzulegen. Die Überwachung der Einhaltung der Maßnahmen obliegt dem Stabilitätsrat.« (so Rainer Wiegard, Finanzminister des Landes Schleswig-Holstein im August 2011).

Neue Zeitrechnung bedeutet aber auch Einschränkung der Haushaltssouveränität. Endes des Jahres 2011 waren Berlin, Bremen, Saarland und Schleswig-Holstein verpflichtet, dem Stabilitätsrat ein Sanierungsprogramm für die kommenden fünf Jahre vorzulegen, das ausweist, mit welchen Maßnahmen die Nettokreditaufnahme und damit das Defizit gesenkt werden können. Wegen der eingeschränkten Steuerautonomie dürften hierfür vor allem Ausgabesenkungen in Frage kommen.

Neue Zeitrechnung bedeutet: Jeweils im Mai, d.h. im Jahresrhythmus, entscheidet der Stabilitätsrat, ob weitere Maßnahmen erforderlich sind. Reichen die angestoßenen Maßnahmen nicht aus, oder wurden sie nicht ausreichend umgesetzt, kann der Stabilitätsrat zur verstärkten Haushaltssanierung auffordern. Die betroffenen Bundesländer (und auch Sachsen-Anhalt) erhalten bereits Konsolidierungshilfen in Höhe von 800 Mio. Euro p.a. zur Senkung der strukturellen Verschuldung bis zur endgültigen Umsetzung der Schuldenbremse auf Länderebene (2020). Sie mussten sich deshalb bereits jetzt einer verschärften Überwachung ihrer Haushalte unterwerfen. Im Falle der Missachtung von konkreten Sanierungsplänen droht ihnen der Verlust dieser Hilfen. Für Schleswig-Holstein beträgt der Anteil an der Konsolidierungshilfe ca. 80 Mio. Euro p.a. (nach »Deutsche Bank Research« 8.2011).

Schleswig-Holsteins Landesregierung muss, um die Konsolidierungshilfen von 720 Mio. Euro bis 2020 zu erhalten, nach der Verwaltungsvereinbarung mit dem Bund ein strukturelles Finanzierungsdefizit von 1,3 Mrd. Euro abbauen. Im Mai 2011 prognostizierten die Steuerschätzer für Schleswig-Holstein Einnahmen in Höhe von 7,11 Mrd. Euro für das Jahr 2012. Das sind zwar 220 Mio. Euro mehr als im November 2010 geschätzt, jedoch 430 Mio. Euro weniger als in der Ursprungsplanung vorgesehen. Damit fehlen gegenüber der Ursprungsplanung für die Jahre 2011 und 2012 rund 1,09 Mrd. Euro in der Landeskasse.

Die offene Frage ist, ob die zugrunde liegenden Prognosen für die Steuereinnahmen des Landes für 2012 belastbar sind. Tatsache ist, dass die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch große Unsicherheit geprägt sind. Für 2012 erwartete die Bundesregierung ursprünglich noch ein reales Wachstum von 1,8%. Diese Erwartung hat Schwarz-Gelb in Berlin nun schon auf 1,0% runter gerechnet. 2011 hatte das Wachstum noch 3,0% betragen. Damit haben sich die Erwartungen mehr als halbiert! Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist der weitere Verlauf der Euro-Schuldenkrise.

Vor diesem Hintergrund sind die vorliegenden Planungen schon als abenteuerlich zu bezeichnen, wonach die Landesregierung mit dem Haushalt 2011/2012 das strukturelle Defizit auf 900 Mio. Euro im Jahr 2011 bzw. 780 Mio. Euro im Jahr 2012 zurückführen wollte. Das tatsächliche Defizit beträgt rund 1,2 Mrd. Euro bzw. 920 Mio. Euro. In den Jahren bis 2015 soll das strukturelle Defizit auf rund 560 Mio. Euro sinken. Verändern sich die Rahmenbedingungen, z.B. durch verminderte Einnahmen, ist ein noch drastischerer Kurs der Einsparungen und Kürzungen im Bereich des Öffentlichen Dienstes zu befürchten.

Die Allparteienkoalition der »Schuldenbremse«

Der Landesrechnungshof hat die Haushaltslage des Landes drastisch beschrieben und einen Auftrag an die politischen Akteure vorgegeben: »Schleswig-Holstein steht nach wie vor finanziell am Abgrund. Für die Zukunft des Landes ist von entscheidender Bedeutung, dass der jetzt eingeschlagene Sanierungskurs nicht verlassen wird. Daran dürfen auch Proteste gegen Sparmaßnahmen oder Landtagswahlen nichts ändern. Regierung und Opposition stehen gemeinsam in der Verantwortung für unser Land. Sie müssen den Bürgern erklären, warum es notwendig ist, Standards zu senken, Leistungen zu kürzen und Steuern zu erhöhen.«

Die »Schuldenbremse« verpflichtet die politischen Parteien, das strukturelle Defizit im Jahreshaushalt von 1,3 Mrd. Euro bis 2020 vollständig abzubauen. Im diesem Jahr will die CDU/FDP-Koalition weitere 300 Lehrerjobs streichen, bis zum Ende des Jahrzehntes nochmals gut 3.000 Stellen und damit sogar mehr, als durch den Schülerrückgang rechnerisch verzichtbar wären. Dagegen macht nun aktuell der Koalitionspartner FDP Front, der Wahlkampf rückt näher. Bildungsminister Klug forderte die Streichung von 485 Lehrerstellen zurückzunehmen. Einem Antrag der Opposition aus SPD, Grünen und SSW, die eh geplanten Einsparungen von 300 Lehrerstellen zurückzunehmen, lehnte die schwarz-gelbe Koalition mit ihrer Ein-Stimmen-Mehrheit ab.

Besonders entschieden hat Schleswig-Holstein im öffentlichen Dienst gespart. Hier soll bis 2020 nicht nur jede zehnte der gut 50.000 Stellen im Landesdienst wegfallen. Gekürzt wird auch bei den Bezügen selbst. Beamte erhalten weder Weihnachts- noch Urlaubsgeld.

Da SPD und Grüne der »Schuldenbremse« zugestimmt haben, dürfte selbst ein Regierungswechsel im Mai 2012 kaum etwas ändern. Die SPD will bis 2020 zwar »nur« etwa 1.500 Lehrerstellen kappen, hat bisher aber offen gelassen, wo stattdessen gespart werden soll. Für Torsten Albich bedeutet dies: »Eine sozialdemokratisch geführte Landesregierung wird deshalb solide, langfristig und klug wirtschaften. Sie wird sparsam sein im besten Sinne. Wir werden wieder Vorsorge betreiben für unser Land. Die Probleme öffentlicher Verschuldung können nur gelöst werden, wenn wir sie aus drei Richtungen heraus angehen: Verzicht. Verbesserung. Vorsorge.«

Bei einem durchaus möglichen knappen knappen Ausgang der Wahl, ist auch die Option einer Großen Koalition wieder möglich. Dazu haben der SPD-Spitzenmann Albig und CDU-Spitzenmann De Jager ein »Fairness-Abkommen« geschlossen. Beide wollen keinen polarisierenden Wahlkampf führen, wie ihre Vorgänger Carstensen und Stegner. Die Berliner Koalition und die jüngsten Äußerungen Sigmar Gabriels (»Wir kämpfen nicht gegen Frau Merkel, sondern gegen die Schuldenkrise«) sind doch deutliche Signale.

Ein wirklicher Politikwechsel im Lande müsste statt einer perspektivlosen Sparpolitik darauf abzielen, die wirtschaftlichen Strukturen zu stärken, die Einkommensverhältnisse zu verbessern, öffentliche Dienstleistungen auszubauen und die in den letzten Jahren verfestigte Armut zu bekämpfen. Dazu gehört auch, die Situation der Kommunen zu verbessern.

Die Kommunen stärken!

Die Landesregierung unterstützt mit jährlich 95 Mio. Euro die finanziell besonders angeschlagenen Kommunen bei der Konsolidierung ihrer Haushalte. Die kommunalen Konsolidierungshilfen stehen erstmals im Jahr 2012 zur Verfügung. Konsolidierungshilfen werden unter der Bedingung gewährt, dass die betroffenen Kommunen ihre eigenen Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung mit dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts deutlich intensivieren. Im Klartext: Die Kommunen sollen vor Ort noch weiter einsparen und Leistungen zurückfahren.

Die Kommunalen Landesverbände haben angesichts ihrer Situation sehr wohl berechtigte Kritik an dieser Art von »Notverordnung«, die ihresgleichen in der jüngsten Entwicklung zur Installierung eines »Sparkommissars« für Griechenland findet: die Aufhebung nationaler bzw. kommunaler Haushaltssouveränität.

Die Kommunen fordern ein kommunales Existenzminimum, das heißt eine finanzielle Mindestausstattung der Kommunen als absolute Untergrenze. Die Schuldenbremse darf keine Vollbremsung auf Kosten der Kommunen werden.Die Kommunen sind strukturell unterfinanziert. Dies hat zu hohen Defiziten geführt, die nun erst einmal abgebaut werden müssen.

Eine andere Politik, die die strukturelle Schwäche der Kommunen überwindet, müsste aus verschiedenen Elementen bestehen:

  • Installierung von Bürgerhaushalten für die Kommunen;
  • Neuausrichtung der Belastungen zwischen Land und Kommunen;
  • Wahrung des öffentlich–rechtlichen Status der Sparkassen (noch relativ stabil als Finanzdienstleister) bei Präzisierung des Geschäftsmodells und Verbot von Spekulationsgeschäften;
  • Überprüfung von Infrastrukturprojekten: Schaffung von neuen Arbeitsplätzen;
  • Überprüfung der nächsten Steuerschätzung und Aufteilung in Neuinvestition und Schuldentilgung;
  • Verstärkter Kampf der Steuerhinterziehung durch Aufstockung von Steuerprüfern;
  • Auf Bundesebene ist eine andere Steuergesetzgebung vonnöten, die die ständige strukturelle Verteilung des Reichtums nach oben unterbindet und umkehrt.