Falsche Produkte am falschen Ort

Regierungsbericht zur deutschen Einheit beruht auf Halbwahrheiten und verbreitet Illusionen

17.10.2010 / Von Klaus Steinitz, Neues Deutschland vom 13.10.2010

Wie jedes Jahr veröffentlichte die Bundesregierung auch in diesem Jahr einen Bericht zum Stand der deutschen Einheit, der schnell wieder von der politischen Bühne verschwunden war. Er enthält aber auch neue Akzente und Argumente, die es zweckmäßig erscheinen lassen, ihn etwas näher zu betrachten.

Zur Charakterisierung der Ausgangslage 1990 für die wirtschaftliche Erneuerung genügen den Autoren wenige Zeilen. Diese enthalten eine Sammlung von Halbwahrheiten und Entstellungen der widersprüchlichen wirtschaftlichen Entwicklung der DDR: völlig ineffiziente Wirtschaft, hohe verdeckte Arbeitslosigkeit, ein Sozialismus der dazu führt, dass Substanz verzehrt wird, anstelle Substanz aufzubauen. Und »Die falschen Güter wurden in den falschen Mengen und an den falschen Orten produziert.« Insbesondere die letzten beiden Aussagen sind an Absurdität kaum zu überbieten. Es ist nicht allzu viel ökonomischer Sachverstand notwendig, um zu begreifen, dass eine Gesellschaft nicht über 40 Jahre durch Verzehr der Substanz existieren kann.

Zahlungsunfähigkeit der DDR nicht mehr behauptet

Warum soll es falsch gewesen sein, Kapazitäten z .B. des Schiffbaus in den Ostseestädten Rostock, Stralsund, Wismar, des Werkzeugmaschinenbaus an den traditionellen Maschinenbaustandorten Leipzig, Chemnitz, Berlin, oder der Mikroelektronik in Dresden zu errichten und zu erweitern? Dort wurden Produkte hergestellt, nach denen eine große Binnen- und Exportnachfrage bestand und für deren Entwicklung und Herstellung in diesen Zentren günstige Bedingungen – wissenschaftlich-technische Potenziale und gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer –, vorhanden waren.

Es ist auffällig, dass im vorliegenden Bundesbericht darauf verzichtet wird, das alte Argument wieder anzuführen, die DDR habe auf Grund ihrer Westverschuldung unmittelbar vor der Zahlungsunfähigkeit gestanden. Die Auslandsschulden (netto) gegenüber dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet betrugen 1989 rund 20 Milliarden DM. Diese Größe entspricht den West-Ost-Transfers (netto) von nur zwei Monaten. Bei der Größe des BIP der DDR 1989 ist das eine Verschuldungsquote von rund 6 bis 7 Prozent. Das ist recht harmlos gegenüber den Verschuldungsquoten mehrerer EU-Länder (Griechenland, Spanien, Portugal, Irland) von beträchtlich über 50 Prozent. Da all dies gegen die Zahlungsunfähigkeit der DDR spricht, haben die Autoren des Berichts vielleicht gedacht, dass es doch besser ist, dieses Argument wegzulassen.

Etwas überrascht liest man im Zusammenhang mit der Aufgabe, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zwischen Ost und West zu stärken: »Vorurteilen muss begegnet, Klischees müssen überwunden werden.« Oder: »Aus Ostdeutschland kamen jedoch auch fruchtbare Impulse für die Weiterentwicklung des gesamtdeutschen Gesundheitswesens ...« »Nicht alles im Leben der Ostdeutschen konnte und musste verändert werden. Nicht alles im Leben der Westdeutschen war erstrebens- und erhaltenswert.«

Warum waren für solche Erkenntnisse 20 Jahre erforderlich und wie schlagen sie sich in der Aufarbeitung der DDR-Geschichte nieder? Auf die zweite Frage muss leider mit »überhaupt nicht« geantwortet werden. Bei der Aufzählung der Aufgaben zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte ist nur die Rede von der Aufklärung über die SED-Diktatur und der Überwachung durch die Staatssicherheit.

Kein gleichwertiges Leben in Ost und West in Sicht

Nach wie vor wird ein verzerrtes Bild von Aufbau Ost gegeben, indem allen Berechnungen der wirtschaftlichen Entwicklung das Jahr 1991 zugrundegelegt wird, das Jahr mit dem tiefen Absturz der Wirtschaft – um fast ein Drittel – und insbesondere der Industrie – um zwei Drittel – in den neuen Bundesländern. Die Wahl des Basisjahres wirkt sich natürlich sehr stark auf die Darstellung der Ergebnisse von Aufbau Ost aus. So erhöhte sich die Wertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes bis 2008 gegenüber 1991 auf etwa das Zweieinhalbfache, obgleich das absolute Volumen der Wertschöpfung in diesem Jahr noch unter dem des Jahres 1989 lag. Der im Bericht ausgewiesene Anstieg des relativen Niveaus des BIP je Einwohner in Ostdeutschland von 2000 bis 2008 auf knapp 71 Prozent des westdeutschen Niveaus beruht ausschließlich auf dem Rückgang der Bezugsbasis, der Bevölkerungszahl in den neuen Bundesländern. Deren Anteil am gesamtdeutschen BIP ist faktisch unverändert geblieben: 2000 betrug er 11,4 und 2008 11,6 Prozent.

Der Bericht behauptet, dass bis 2019 gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland erreicht werden können. Notwendige Voraussetzungen und konkrete Schritte werden nicht genannt, die Realisierungschancen nicht analysiert. So bleiben die Aussagen inhaltsleer und illusionär.

Der Autor ist Wirtschaftswissenschaftler und Vorstandsvorsitzender des Vereins »Helle Panke« in Berlin.