Ökonomie der Spaltung

GUTE ETAGEN, SCHLECHTE ETAGEN - Armut als Klassenprojekt in Zeiten des staatsparasitären Kapitalismus

06.06.2008 / Von Christoph Spehr, Freitag 23/2008


Ein Viertel der Deutschen ist bedürftig, Hartz IV ist eine soziale Katastrophe, der Armutsbericht zeigt es deutlich. Nur: Armut war auch vor 2002 schon dramatisch verbreitet. Sie ist Teil eines Klassenprojekts von oben, mit dem Eliten die Umbrüche der Produktions- und Lebensweise zu ihrem Nutzen gestalten. Will die Linke darauf eine Antwort finden, muss sie mehr bieten als Umverteilungsideen.

Hartz-Gesetze und Agenda 2010 haben Armut und Ausgrenzung gnadenlos exekutiert - aber sie haben sie nicht erfunden. Als Gerhard Schröder 2003 in der Regierungserklärung verkündete, "wir werden die Leistungen des Staates kürzen", blies er zum sozialpolitischen und arbeitsrechtlichen Angriff auf jene, die bereits durch die vorherige Entwicklung verwundbar geworden waren.

Das Gleiche gilt für den Reichtum, der unverschämte Züge angenommen hat. Deutschland zählt 800.000 Millionäre, jährlich kommen etwa 30.000 weitere dazu. Und das sind die kleinen Fische. In Europa leben 20.000 jener weltweit 95.000 "Ultra-HNWIs" - Ultra-High-Net-Worth-Individuals -, also Multimillionäre, die privates Kapital von mehr als 30 Millionen Euro pro Kopf besitzen. Auch hier hat die Steuer- und Unternehmenspolitik der Schröder-Ära feige dazu beigetragen, die Anhäufung von Reichtum zu steigern. Aber die Entwicklung ist älter und grundsätzlicher.

Was ist hier eigentlich los? Eine linke Kritik, die darauf hinweist, dass man das Geld dringend von da nach dort tragen müsste, ist vollständig berechtigt. Aber sie reicht nicht aus. Es reicht auch nicht, das Entstehen von Mehrheiten, die zum Sozialabbau und zur Zerschlagung alter Klassenkompromisse bereit waren, zu beklagen. Die Verschiebungen auf der politischen Ebene und die Aktionen auf der Ebene der Verteilung sind nicht autonom, sie müssen aus ihrem Verhältnis zu den Umbrüchen der Produktions- und Lebensweise begriffen werden.

Was heute pauschal als "Globalisierung" entschuldigt oder als "Neoliberalismus" verworfen wird, hat seinen Grund in einem tief greifenden Umbruch dessen, wie wir produzieren, arbeiten, leben. Dazu gehören einerseits der Übergang zur globalen Netzwerkproduktion, die Verwissenschaftlichung der Produktion, die flexible Automation. Dazu gehört andererseits die Subjektivierung der Arbeit, die entscheidende Rolle von Kooperation und Interaktion im Produktionsprozess, die neue Bedeutung von Individualisierung, individuellen Fähigkeiten und individueller Entscheidung.

Die Arbeit wächst "über die Fabrik hinaus", in der immer weniger Menschen immer kompliziertere Prozesse steuern, während die Voraussetzungen dieser Prozesse außerhalb der Fabrik immer komplexer werden: ausgefeilte Dienstleistungslandschaften, eng vernetzte Sozialwesen mit sich immer stärker selbst bildenden und produktiv organisierenden Individuen und Gruppen, Innovationsprozesse, deren Steuerung nur noch sehr wenig mit Markt zu tun hat.

Damit muss man umgehen, und der Kapitalismus und seine beherrschenden Eliten haben einen Weg gefunden, der in ihrem Sinne ist. Es ist die Ökonomie der Spaltung, wo auf die objektive Vergesellschaftung der Produktion schizophren geantwortet wird. Ein Teil dieser Vergesellschaftung wird in die privaten Konzerne hineingezogen, in ihre "guten Etagen", wo die Gehälter steigen, wo man sich um die Kreativität der Mitarbeiter ebenso sorgt wie um ihre Kinderbetreuung, wo flache Hierarchien und neue Arbeitsformen angesagt sind. Der andere Teil wird abgetrennt, draußen gehalten, sich selbst überlassen. Das sind die "schlechten Etagen" der Konzerne, die ausgegliedert oder an Subunternehmen und Zulieferer abgeschoben werden. Das ist "die Gesellschaft" und ihre Menschen, von denen einerseits erwartet wird, dass sie "liefern" (flexible Arbeitskraft, Kinder, soziale Stabilität, lebendige Standorte, qualifizierte Reservearmeen), denen aber gleichzeitig erklärt wird: Wie ihr das macht, ist uns eigentlich egal. Und wenn ihr es nicht könnt - eure Schuld.

Armut heute ist Teil eines Klassenprojekts von oben: einer definierten, interessengeleiteten Vision, die Umbrüche der Produktions- und Lebensweise so zu gestalten und zu nutzen, dass sie bestimmten Eliten nützen. Klassenprojekt heißt: Es werden Zugeständnisse gemacht und soziale Gruppen eingekauft - mit der gespaltenen Lohnentwicklung; mit einem absurden Bildungssystem, das keine andere Funktion mehr erfüllt als die, bürgerlichen Schichten einen privilegierten Zugang zu den guten Jobs zu verschaffen.

Klassenprojekt heißt heute auch: Ein Großteil der Gewinne beruht auf Extraprofiten, auf einer nicht-nachhaltigen Vernutzung von Arbeitskraft, lokalen Ökonomien, Sozialwesen. Wir verbrennen sehr wenige Menschen in sehr wenigen Jahren auf hochintensiven Arbeitsplätzen, während die produktiven Fähigkeiten aller anderen brachliegen oder sie zu Tätigkeiten von frühindustrieller Stumpfheit herabgewürdigt werden. Wir erleben den Übergang vom Stamokap zum Stapakap, vom staatsmonopolistischen Kapitalismus zum staatsparasitären Kapitalismus, der sich durch Privatisierung und Patente für Leistungen bezahlen lässt, die er gar nicht mehr erbringt.

Hierauf braucht es eine neue Antwort. Das gesamte Instrumentarium politischer Regulierungen, wie wir sie kennen, greift heute immer weniger. Unsere Beschäftigungspolitik richtet sich auf "individuelle Zugangshemmnisse", während sie in der Praxis längst dazu dient, jene Arbeiten von geringerer Produktivität und höherer lokaler Bindung zu finanzieren, ohne die es nicht geht. Unsere Sozialpolitik denkt in "Problemgruppen", während sie in der Praxis längst die Funktion hat, alles zu bezahlen was über den Lohn nicht mehr bezahlt wird: Bildung, Erziehung, Kultur, Kooperation, individuelle Bewältigung der rapide veränderten Produktions- und Lebensweise. Unsere Wirtschaftspolitik träumt noch von der "Ansiedlung" von Unternehmen oder der standortbindenden Subventionierung produktionsrelevanter Tätigkeiten wie Forschung und Entwicklung, während sie in der Praxis nur noch erfolgreich sein kann, wenn sie sich auf die integrierte Entwicklung moderner Stadtgesellschaften als kreativ-innovative Umfelder richtet.

Es braucht, mithin, ein Klassenprojekt von unten. Dazu gehört eine eigene Antwort auf die objektiven Umbrüche, eine Alternative zur Ökonomie der Spaltung. Dazu gehört ein ehrliches Aushandeln der Interessen von abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen, von denen, die unten der Intensivierung der Arbeit leiden, und denen, die unter der Komplexität der Lebensweise leiden.

Wer erwartet, dass sich in diesem Klassenprojekt von unten die eine soziale Gruppe der anderen einfach ideologisch unterwirft, wird scheitern. Frauen wollen keine schulterklopfende "Aufwertung anderer gesellschaftlicher Arbeit", sie wollen eine Arbeits- und Lebensweise, in der alle gleichermaßen produktiv und gesellschaftlich tätig sein können, in der man sich nicht entscheiden muss zwischen Lohnarbeit und Kindern, zwischen Einkommen und Selbstbestimmung, zwischen Recht auf Arbeit und Recht auf Kreativität. Qualifiziert Beschäftigte wollen mehr als Grundsicherung und Sozialpolitik, sie wollen die Sicherheit, entsprechend ihrer objektiven produktiven Bedeutung bezahlt, gewertschätzt und an unternehmerischen Prozessen und Entscheidungen beteiligt zu werden. Die Bewohner der benachteiligten Stadtteile und Sozialräume können nicht zufrieden sein mit Investitionsprogrammen, die an ihnen vorbeigehen, die nicht ihre lokalen Ökonomien und ihre Selbsttätigkeit stützen. Und so weiter.

Billiger geht es nicht. Die Linke kann eine Weile damit fahren, dass sie von den Menschen dafür benutzt wird, sichtbaren Protest gegen das Klassenprojekt von oben auszudrücken. Auf die Dauer wird das nicht reichen. Armut als Klassenprojekt von oben verliert derzeit an Popularität bis hinein in die Mittelschichten. Aber ohne ein modernes Klassenprojekt von unten, das eine alternative Gestaltung entwirft und ein gleichberechtigtes Bündnis aufbaut, kann das herrschende Projekt nicht abgelöst werden.

Christoph Spehr ist Sozialwissenschatler und arbeitet für die Fraktion der Linken in der Bremer Bürgerschaft. Die Partei veranstaltet am Samstag, dem 7. Juni, eine Armutskonferenz. www.armutskonferenz-bremen.de