Genug Gemeinsames

Es ist Zeit für eine linke europäische Vision, die für Solidarität und Weltoffenheit steht. Her mit dem sozialistischen Europa!

29.01.2018 / Gabi Zimmer

Ein Gefängnis auf einer Insel im Mittelmeer. Drei Inhaftierte schreiben heimlich ihre Vision zur Zukunft Europas auf Zigarettenpapier — das war 1941. Dieser Text der Antifaschisten Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni wird als das Manifest von Ventotene berühmt. Es ist einer der wichtigsten Entwürfe zur europäischen Integration.

2017, bei den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der EU-Gründung, nehmen die Regierenden in der EU dieses Manifest völlig selbstverständlich für sich in Anspruch. Sie verschweigen, dass Spinelli eine sozialistische europäische Integration vorschwebte, die zuerst die Freiheit der Menschen garantieren und künftige Kriege zwischen den Staaten in Europa verhindern sollte. Im Gegenteil, sie haben nicht nur Armut und Arbeitslosigkeit über einige EU-Staaten gebracht. Mit dieser Politik wurde das Vertrauen der Menschen in die EU zerstört. Bei der feierlichen Unterzeichnung der Römischen Verträge warfen Spinelli-Anhänger Flugblätter von der Galerie des Teatro Adriano, um gegen das entstehende »Monster« zu protestieren. Es sind heute wie damals dieselben Eliten, die dieses Manifest genauso vereinnahmt haben wie die europäische Idee eines friedlichen Miteinanders der Menschen ohne Grenzen.

Die von rechten und neoliberalen Regierungen und Konzernen besetzte EU steckt in einer grundlegenden Krise. Die Kürzungsdiktate, die Rettung privater Banken, die Privatisierung des Öffentlichen und die autoritäre, undemokratische Euro- Politik haben nicht nur Armut und Arbeitslosigkeit über einige EU-Staaten gebracht. Diese Politik zerstört das Vertrauen vieler Menschen in die EU. Sogar der EU-Austritt Großbritanniens wird von den Regierenden missbraucht, um eine Militärunion auf den Weg zu bringen, statt die soziale Spaltung zu bekämpfen. Die Erklärung der Regierungen zum 60. Jahrestag liest sich wie ein Weiterso ohne Vision. Die Vorschläge zur Zukunft der EU von Kommissionspräsident Juncker verharren im neoliberalen Dogma. Eine soziale und solidarische EU bleibt in weiter Ferne. Die Europäische Säule sozialer Rechte ist ein erster Schritt, doch ohne echte soziale Rechte wird daraus kein soziales Fundament.

Neu denken

Ich stimme dem französischen Philosophen Etienne Balibar zu, für den es zwischen der neoliberalen und der sozialistischen Orientierung für Europas Zukunft keinen Mittelweg geben kann. Wenn wir als Linke in Europa die EU wirklich vom Kopf auf die Füße stellen oder sie neu gründen wollen, müssen wir Teil einer breiten Debatte um die Zukunft Europas werden. Mich stört am gegenwärtigen Streit um unsere europapolitischen Positionen nicht, dass fast alles in Frage gestellt wird (EU, EURO). Mich stört, dass die verschiedenen ProtagonistInnen meinen, jeweils die richtigen Antworten zu haben und sich nicht miteinander austauschen. So bleiben nicht nur wichtige Fragen offen, wir verspielen auch die Chancen auf breite Bündnisse, auf die Veränderung der Kräfteverhältnisse in der EU und in den Mitgliedstaaten.

Seit Spinelli, Rossi und Colorni ihre Vorstellungen von einem friedlichen, sozialistischen Europa entwickelten, haben sich Bedingungen entscheidend verändert. Das Verhältnis zwischen Globalisierung und der Entwicklung Europas, die Stärkung der Rechte lokaler Akteure und ihrer Einbindung in globale Entscheidungen sind ebenso neu zu denken wie die Rolle von Regionen und neue Formen von Souveränität. Das bezieht sich auf so zentrale Herausforderungen wie Migration, Klimawandel, transnationale Solidarität, fairen Handel, Mobilität und Kommunikation weltweit.

Für den Kommunisten Spinelli war klar, dass mit der Wiederherstellung des Nationalstaates die reaktionären Kräfte »...jenes Volksempfi nden für sich [gewinnen], das am weitesten verbreitet ist ...und am leichtesten zur Beute reaktionärer Manipulation wird: Das patriotische Gefühl.« Sollte die jetzige EU scheitern, sollten die Nationalstaaten wieder alleine das Steuer übernehmen, werden Nationalismus und egoistische Eigeninteressen die Politik prägen. Wer könnte diese Politik besser umsetzen als rechtsnationale Parteien? Eine weltoffene, internationalistische Linke hätte das Nachsehen. Armut, soziale Ungerechtigkeit und wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den europäischen Staaten würden bleiben.

Wie so eine »reaktionäre Manipulation « aussehen kann, zeigt der Brexit. Die Kampagne der Brexit-Befürworter war geprägt von fremdenfeindlichen Parolen, dem Versprechen neuer nationaler Souveränität und Lügen über kommende soziale Verbesserungen. Die sozialen Versprechen werden nicht eingelöst. Im Gegenteil: Beschäftigungs- und Sozialschutz in Großbritannien und in den verbleibenden EU-Staaten sind ebenso Verhandlungsmasse wie europäische Bürgerrechte.

Ohne eine EU-weite Strategie, ohne gemeinsame Schlagkraft haben wir als Linke den herrschenden Eliten wenig entgegenzusetzen. Das zeigt die gnadenlose Erpressung der griechischen SYRIZA-Regierung mehr als deutlich. Unter Linken hat diese Niederlage eine heftige Debatte ausgelöst, wie wir künftig mit der EU und dem Euro umgehen sollten. Einige werfen unseren SYRIZA-GenossInnen Verrat an linken Idealen vor. Der Umgang der EU mit Griechenland zeigt, dass die herrschenden Finanz- und Wirtschaftseliten die Austeritätspolitik nicht aus ihrem neoliberalen Werkzeugkasten entfernen wollen.

In Griechenland hat die Troika die Linken gespalten. Diese Debatte könnte auch die Linken in Europa spalten. Deshalb sollten die laufenden linken Debatten und Foren zur EU offen und nicht ausgrenzend geführt werden, uns nicht gegeneinander aufbringen und keine neuen strukturellen Gräben schaffen. Linke müssen aufeinander zugehen und nicht um Meinungsführerschaften untereinander kämpfen. Ankündigungen, mit jeweils eigenen Listen und KandidatInnen zu den nächsten Europawahlen anzutreten, sind nicht nur kindisch, sondern gefährlich.

Eine gespaltene Linke — in den Nationalstaaten und auf EU-Ebene — wird nichts an den europäischen Machtverhältnissen ändern. Feixende Nutznießer wären die Rechtsnationalen und Marktradikalen. In den meisten EU-Staaten wächst die extreme Rechte, Menschenrechte von Migrantinnen werden mit Füßen getreten und in einigen EU-Ländern werden Demokratie und Rechtsstaat offen angegriffen.

Dabei gibt es für Linke in der EU genug Gemeinsames. Wir stehen geschlossen gegen die neoliberale Austeritätspolitik, gegen die Kürzungsdiktate in der Sozial-, Bildungs- und Gesundheitspolitik. Für eine radikale soziale Wende braucht die EU mehr als nur Vertragsänderungen. Ein soziales Fortschrittsprotokoll muss zuerst soziale Grundrechte über die Freiheiten im Binnenmarkt stellen. Der Kampf gegen Armut, soziale Ausgrenzung und Obdachlosigkeit hat Priorität für alle Linken. Wir wehren uns gegen die Privatisierung des Öffentlichen und die Liberalisierung der Wasser-, Strom- und Daseinsvorsorge. Soziale und ökologische Mindeststandards in der EU werden von immer mehr Linken gefordert. Alle Linken lehnen die Militarisierung der EU entschieden ab. Und kein Linker dürfte es ablehnen, die wahren Ursachen unfreiwilliger Migration zu beseitigen und eine menschenwürdige Migrationspolitik zu gestalten.

Der Präsident der Europäischen Linken Gregor Gysi hat »Mut zum Kompromiss« gefordert, um gemeinsam den wahren Gegnern entgegenzutreten. Dem stimme ich zu. Dieser Mut muss über linke Parteien hinausgehen. Abgeordnete der GUE/NGL, unter ihnen auch Spinellis Tochter Barbara, haben deshalb linke Intellektuelle aus mehreren EU-Staaten gebeten, sich erneut vom Ventotene-Manifest inspirieren zu lassen. Welche Fragen müssen gestellt, welche Debatten organisiert, welche Kämpfe geführt werden, um ein anderes Europa zu gestalten? Wir wollen als linke Europaabgeordnete das Gespräch mit ihnen. Ihre Beiträge veröffentlichen wir in einem E-Book, das wir Ende Januar in Brüssel vorstellen. Es ist unser Beitrag für eine gemeinsame Debatte. 77 Jahre nach dem Manifest von Ventotene werden wieder Menschen auf Inseln im Mittelmeer eingesperrt. Es ist unsere Aufgabe, diese unmenschliche Politik zu beenden. Es ist Zeit für eine neue gemeinsame, linke Vision von einem solidarischen, sozialistischen und weltoffenen Europa!

Gabi Zimmer ist Vorsitzende der Fraktion der Vereinigten Linken/ Nordische Grüne (GUE/NGL) im Europaparlament.