Die Rettungsinsel

VON MICHAEL KRÄTKE, DER FREITAG

16.10.2012 / 26.10.2012

Island Die kleine Republik hat vorgemacht, wie man sich aus dem Schlamassel der Finanzkrise befreit. Europa sollte sich ein Beispiel nehmen

Ganz Europa ächzt unter der Finanzkrise. Nur ein kleines Land im hohen Norden scheint inzwischen Licht am Ende des Tunnels zu sehen und sich zum Vorbild zu entwickeln: Die Isländer sind dem Staatsbankrott entkommen, seit 2011 wächst die Wirtschaft der kleinen Inselrepublik wieder. OECD und IWF sind voll des Lobes, die Rating-Agenturen haben Islands Staatsanleihen wieder in den Rang respektabler Geldanlagen erhoben. Schon zweimal konnte sich der isländische Staat am Kapitalmarkt problemlos refinanzieren.

Vor vier Jahren sah das noch anders aus. Am 6. Oktober 2008 rief der Ministerpräsident Geir Haarde den Notstand aus, die Insel drohte im Strudel der Lehman-Pleite unterzugehen. Drei isländische Großbanken, die größten des Ländchens, waren auf den Zug der internationalen Derivatespekulation aufgesprungen und hatten sich gründlich verzockt. Island, eine Insel der Fischer und Bauern, hatte dank des internationalen Spekulationsbooms fast über Nacht einen völlig überdimensionierten Finanzsektor verpasst bekommen. Die Bilanzsummen der drei internationalen Spielerbanken Landsbanki, Glitnir und Kaupthing betrugen zusammen mehr als das Zehnfache des isländischen Bruttosozialprodukts.

Keine Schuldensozialisierung

Nun ging es in den Abgrund. Innerhalb einer Woche waren die drei Großspekulanten bankrott. Das Bruttoinlandsprodukt stürzte bis zum Tiefpunkt der Krise um gute zwölf Prozent ab. Die Arbeitslosigkeit, bis dahin fast ein Fremdwort in Island, schnellte von unter zwei auf gut zehn Prozent empor, die Inflation auf fast 20 Prozent, das öffentliche Defizit auf 13,5 Prozent und die Staatsschuldenquote von bescheidenen 30 auf 130 Prozent. Die isländische Krona verlor fast 50 Prozent ihres Außenwerts. Nur dank eines Milliardenkredits des IWF, der nordischen Nachbarländer und Polens konnte die isländische Regierung den Staatsbankrott vermeiden.

Entscheidend war aber etwas anderes: Die Art und Weise, wie die isländische Demokratie mit der eigenen Bankenkrise und der davon verursachten verheerenden Finanzkrise umging. Um den Zusammenbruch des Geld- und Kreditsystems zu verhindern, wurden alle Banken im Handstreich verstaatlicht. Aber dann wurden die drei großen Zockerbanken in Konkurs geschickt, etliche Banker verhaftet und unter Anklage gestellt, die ausländischen Gläubiger mussten bluten. Gerettet wurde nur das solide Kerngeschäft im Inland, also Zahlungs- und Kreditvermittlung, Spareinlagen. Die Regierung garantierte die Spareinlagen aller inländischen Sparer bis zu einem Betrag von 20.000 Euro, und sie erzwang einen Schuldenschnitt bei den Hypotheken, der viele Isländer vor dem Verlust ihres Hauses bewahrte.

Fantastische Zinsversprechen

Weil die Saga im real existierenden Kapitalismus spielt, ging es ohne eine Einigung mit den ausländischen Gläubigern nicht ab. Vor allem die Sparer der Online-Bank Icesave tobten: Rund 300.000 Briten und rund 120.000 Niederländer hatten, angelockt durch fantastische Zinsversprechen, viel Geld investiert und verloren – fast fünf Milliarden Euro die Briten, nochmal 1,7 Milliarden die Niederländer. Unter dem Druck der britischen und niederländischen Regierung beschloss das isländische Kabinett ein Gesetz zur Teilentschädigung der Auslandsgläubiger, und das isländische Parlament stimmte zu, mit knappster Mehrheit. Es ging um mehr als 3,8 Milliarden Euro, mehr als zwei Drittel des Staatshaushalts.

Aber der isländische Präsident Ólafur Ragnar Grímsson verweigerte die Unterschrift unter das Gesetz. Die Isländer waren begeistert und verlangten eine Volksabstimmung. Beim Referendum am 6. März 2010 stimmten 93 Prozent der Isländer gegen das Gesetz. Die Regierung legte aus Angst um ihre Kreditwürdigkeit ein neues Gesetz vor. Diesmal sollte die Entschädigung bis 2046 in Raten gezahlt werden, jährlich nicht mehr als fünf Prozent der Staatseinnahmen. Wieder verweigerte der Präsident seine Unterschrift, und auch beim zweiten Referendum im April 2011 stimmte eine Mehrheit von 57 Prozent der Isländer dagegen. Der Versuch, die Verluste der ausländischen Gläubiger auf Kosten der isländischen Steuerzahler zu „sozialisieren“, war zum zweiten Mal gescheitert.

Eigene Krisenpolitik

Dennoch entkamen die Isländer der Fuchtel ihrer ausländischen Geldgeber nicht. Der IWF, die nordischen Länder und Polen gaben ihre Kredithilfen von insgesamt 4,75 Milliarden Dollar nicht ohne Auflagen frei. Aber den Isländern gelang es, die IWF-Gewaltigen von einem Krisenprogramm zu überzeugen, das nach IWF-Maßstäben höchst ungewöhnlich war. Sie wurden nicht zu einem „Sparplan“ und „Reformpaket“ à la Merkel verdonnert, sondern konnten ihre eigene Krisenpolitik machen.

Es gab Entlassungen, es gab Lohnkürzungen, es gab Einschnitte bei den Sozialausgaben. Aber die Sozialleistungen wurden deutlich weniger beschnitten als andere Staatsausgaben, die Regierung griff den überschuldeten Privathaushalten mit staatlichen Beihilfen und einem Schuldenschnitt unter die Arme. Steuern wurden erhöht, aber in erster Linie für die Besserverdienenden und Wohlhabenden. Private Investitionsruinen wurden übernommen und mit öffentlichen Geldern fertiggestellt. Die Bauindustrie kam wieder in Gang.

Kein Defizit

Auch die drastische Abwertung der Krona half. Tourismus, Energie- und Fischexport und die IT-Branche profitierten davon. Zwar stiegen die Privatschulden, die viele Isländer in ausländischer Währung eingegangen waren. Dafür ist die isländische Wirtschaft von ausländischen Importen wenig abhängig, der Absturz der Krona schadet ihr also kaum. Unterm Strich begann die kleine, aber feine, auf wenige international konkurrenzfähige Branchen konzentrierte Wirtschaft wieder an zu wachsen. Inzwischen ist die Arbeitslosigkeit auf 4,8 Prozent gesunken. Das Defizit im isländischen Staatshaushalt wird dank reichlich sprudelnder Steuereinnahmen in diesem Jahr (fast) verschwinden.

Inzwischen hat Island mehr als die Hälfte seiner Auslandsschulden zurückgezahlt, vorzeitig. Fällig wären die Rückzahlungen erst zwischen 2013 und 2018 geworden, aber die Regierung in Reykjavík kann sich das Geld heute am Kapitalmarkt billiger borgen und rund 30 Millionen Euro Zinsen pro Jahr sparen.

Es ist ein Lehrstück für den Rest Europas, für Griechenland, für Spanien, für Irland, für Portugal und andere. Vor allem aber für die Deutschen. Es zeigt, dass der Kurs des Bankenrettens um fast jeden Preis und des Sparens auf Teufel komm raus plus „Reformpakete“ im Stil der Agenda 2010 weder ökonomisch vernünftig noch „alternativlos“ ist.