Wahlfiasko für das bürgerliche Lager

Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen

11.05.2010 / Redaktion Sozialismus

Die wichtigste Botschaft der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen lautet: Schwarz-Gelb hat keine politische Mehrheit mehr. Zwar haben die Wähler ein politisches Votum für NRW ausgestellt, aber es besteht kein Zweifel, dass auch die entsprechende politische Konstellation auf Bundesebene diesem Verdikt unterworfen wurde.

Das Wahlergebnis ist auch dahingehend zu interpretieren, dass die WählerInnen das Gezänk in der Koalition der Kanzlerin Angela Merkel, vor allem die leidige Debatte um Steuersenkungen, abgestraft haben. Im Bundesrat wird die Konsensfindung erheblich schwieriger, wenn auch nicht unmöglich. Die strittigsten schwarz-gelben Projekte, die Steuersenkungen und die Kopfpauschale im Gesundheitswesen, dürften kaum mehr realisiert werden können.

Dem Versuch der schwarz-gelben Regierungskoalition, mit neoliberaler Medizin die Folgen der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise zu bekämpfen, ist eine erdrutschartige Abfuhr erteilt worden. Selbst die AnhängerInnen der FDP sind mehrheitlich der Überzeugung, dass Steuersenkungen kein Ansatz sind, um die ökonomischen und finanziellen Folgen der schweren Wirtschaftskrise zu bekämpfen.

Die bürgerlichen Parteien haben für das Festhalten an der neoliberalen Umverteilungslogik einen hohen Preis bezahlt. Die CDU verlor gegenüber der Landtagswahl 2005 über eine Million Stimmen und die FDP hat wegen ihrer neoliberalen Mantra gegenüber dem herausragenden Wahlergebnis bei der Bundestagswahl 2009 fast 900.000 WählerInnen verloren.

Für NRW wie den Bund gibt es deshalb eine klare Ansage: Die nordrhein-westfälischen BürgerInnen haben Merkel und Westerwelle die rote Karte gezeigt. Steuersenkungen und Kopfpauschale im Gesundheitssystem sind aus Sicht einer Mehrheit der Bevölkerung untaugliche Instrumente zur Bewältigung der anhaltenden Großen Krise. Das Land braucht stattdessen eine neue Perspektive mit einer Stabilisierung der öffentlichen Finanzen, einem steuerbasierten handlungsfähigen Staat und der Inangriffnahme der Sanierung gesellschaftlicher Infrastruktur, so dass das Gemeinwesen sich nicht weiter zerlegt.

Zur Skepsis gegenüber Schwarz-Gelb hat sicherlich auch beigetragen, dass mit der drohenden Staatspleite Griechenlands und anderer europäischer Länder die regierungsamtliche Schönfärberei, die Große Krise sei im Wesentlichen durchgestanden, ad absurdum geführt worden ist.

Und: Die Versuche der Bundesregierung, den europäischen Notoperationen eine spezifisch deutsche Note zu geben, sind kläglich gescheitert. Sowohl das Notpaket für Griechenland wie auch der jetzt aufgelegte gigantische Stabilisierungsfonds von 750 Mrd. Euro - die Größenordnung von einem Drittel des BIP von Deutschland - für Euroland sind gegen die erklärten politischen Strategien der Merkel-Administration zustande gekommen.

Die grandiose Niederlage der CDU (Absturz im Stimmenanteil von 44,8% auf 34,6%) kommt auch darin zum Ausdruck, dass sie 2010 mehr Stimmen verloren hat, als sie 2005 gewonnen konnbte. Ein Drittel der verlorenen WählerInnen protestierte durch Verweigerung der Stimmabgabe und ein Teil wechselte zur SPD (vermutlich die "Johannes-Rau-Wähler" des aufstiegsorientierten, gut qualifizierten Milieus). Dieser Einbruch hatte neben den bundespolitischen Aspekten auch entscheidend mit der schwarz-gelben Regierungspolitik in NRW der letzten fünf Jahre selbst zu tun.

Nachdem die ideologisch auf dem Grundsatz "Privat vor Staat" gegründete Regierungspraxis bereits in den ersten beiden Jahren der CDU-FDP-Koalition zur Zerstörung von Landesstrukturen geführt hatte, war der Ministerpräsident mit einsetzender Krise rhetorisch von der harten Variante des Neoliberalismus abgewichen und forderte Korrekturen an der Sozialgesetzbüchern der Schröder-Fischer-Regierung.

Dadurch sollte vor allem den Vollzeitbeschäftigten mit geringem Arbeitsmarktrisiko die Angst vor dem finanziellen Abstieg im höheren Lebensalter ("Lebensleistung oberhalb der Grundsicherung anerkennen") oder im Falle von Arbeitslosigkeit ("Schonvermögen") genommen werden. Aber es war deutlich, dass dies keine Angebote gegen die zunehmende Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen und für die Menschen, die unter diesen Verhältnissen Arbeitsplätze haben, sein konnte.

Vor allem in der Bildungspolitik der Landesregierung ist deutlich geworden, dass der Appell an den Leistungswillen als Grund für gesichertes Einkommen und soziale Aufwärtsmobilität durch die faktische Abschottung wirkungslos geworden war: Die Studiengebühren verringerten den Anteil der Geburtsjahrgänge, die zur Uni gehen wollen. Das Turbo-Abitur verstärkte den Druck, mehr finanzielle Mittel im Haushalt für Nachhilfe usw. zu mobilisieren. Das so genannte Kinderbildungsgesetz knüpfte den Zugang zur Kinderbetreuung an die finanziellen Spielräume der Eltern. Dieses Thema war für 78% mitentscheidend für ihre Wahl und hier hatte die regierende CDU keinen Kompetenzvorsprung vor der SPD.

Die Landesregierung verzichtete mit Einsetzen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf eine aktive Industriepolitik und unternahm bis auf die Bereitstellung von Bürgschaften nichts, um die Arbeitsplatzverluste zu bekämpfen oder zu kompensieren. In der Energiepolitik trug sie die Politik der Bundesregierung zur Laufzeitverlängerung der AKWs mit und versuchte nur durch die Forcierung von fossilen Großkraftwerken eine Sicherung der Konkurrenzposition der landesansässigen Energiekonzerne.

Die Grünen konnten deshalb aus der Landespolitik auch ein Plebiszit über die Atompolitik machen, während die LINKE mit ihrer Forderung "RWE und E.ON entmachten" nicht durchdrangen, da große Teile der Bevölkerung des Landes mit diesen Konzernen höchstens indirekt etwas zu tun haben. Die Verstaatlichungsforderungen des Landtagswahlprogramms hätten - auf den Bankensektor angewandt - vermutlich eher genutzt.

Die zweite Botschaft der NRW-Wahl lautet allerdings: Trotz des Charakters der Wahl als kleine Bundestagswahl, mit der ja auch über die Kräfteverhältnisse auf Bundesebene (Bundesrat) entschieden wurde, ist es zu keiner stärkeren Mobilisierung der WählerInnen gekommen. Im Gegenteil. Die Wahlbeteiligung ist von 63% in 2005 auf 59,3% gesunken – die 5,5 Mio. NichtwählerInnen sind eindeutig die stärkste "Partei". Es haben mehr BürgerInnen ihre staatsbürgerlichen Rechte nicht wahrgenommen als zusammengenommen CDU und SPD gewählt haben. Deren Stimmenanteil an allen Wahlberechtigten liegt nur mehr bei bescheidenen 20%.

Der Parteienforscher Franz Walter konstatiert zu Recht: "In NRW bestätigt sich offensichtlich ein Trend, der seit 2005 fast alle Landtagswahlen beherrscht hat: Das angeblich sozialdemokratische Problem, dass die Wähler enttäuscht zu Hause bleiben, ist längst bei der Union angekommen. Wahlenthaltung ist die Protestform der bürgerlichen Milieus geworden." (taz vom 10.5.2010)

Diese sich in den NRW-Wahlen fortsetzende Krise der politischen Repräsentanz spielte allerdings in der Auswertung der Wahlergebnisse durch die politischen Akteure so gut wie keine Rolle. Die (gefühlten) Sieger der Wahl haben sich vielmehr selbst gefeiert. Die Sozialdemokratie hat ihr "Comeback" bejubelt, obwohl sie gegenüber der Landtagswahl 2005 fast 400.000 Stimmen verloren hat und von den Zeiten als eindeutig stärkste politische Kraft im Land zwischen Rhein und Ruhr meilenweit entfernt ist. Die punktuelle Korrektur der Schröderschen Agenda Politik (Mindestlohn, Vermögenssteuer) reichte lediglich aus, um das Wählerpotenzial aus der verlorenen Bundestagswahl zu halten, aber nicht darüber hinaus Wählerstimmen zu aktivieren und so einen sozialdemokratischen Beitrag gegen eine weitere "Demokratieentleerung" (Wilhelm Heitmeyer) beizusteuern. Über ein Projekt zur Gestaltung des Gemeinwesens in NRW und im Bund in Zeiten der Großen Krise verfügt sie nach wie vor nicht. Dazu passt, dass ihre Lichtgestalten aus vergangenen Zeiten wie Steinbrück oder Steinmeier nach wie vor bei der Bestimmung über den Kurs der Partei kräftig mitmischen.

Die SPD hat den prozentualen Stimmenanteil gegenüber der Bundestagswahl zwar deutlich (von 28,5% auf 34,5%) steigern können, doch tritt sie in absoluten Stimmen auf der Stelle (2,675 Mio.). Bei der Abwahl der rot-grünen Regierung Steinbrück in Düsseldorf konnte die SPD immerhin noch über drei Millionen Stimmen einfahren. Sie hat also noch eine Menge an Vertrauensverlust zu überwinden und konnte ihr Ziel, DIE LINKE aus dem Landtag herauszuhalten, nicht erreichen.

Eine klare Mehrheit gibt es in NRW nur für eine große Koalition aus Sozial- und Christlichdemokraten, doch die ist für die Beteiligten eine höchst unattraktive Variante. Gleichwohl trauen nur wenige politische Beobachter der SPD zu, gestützt auf die Grünen und die LINKE einen politischen Kurswechsel einzuleiten.

Die Grünen haben sich nicht zu Unrecht als "wahre" Sieger der NRW-Wahl gefeiert. Sie konnten gegenüber der Landtagswahl 2005 430.000 Stimmen hinzugewinnen und damit das bei der Bundestagswahl erreichte Wählerpotenzial ausschöpfen. Entscheidend für dieses relativ gute Abschneiden war sicherlich, dass sie als einzige politische Kraft gerade auch für das Land ein erkennbares Projekt der sozial-ökologischen Erneuerung anzubieten hatten.

DIE LINKE wiederum konnte von ihren 790.000 bei der Bundestagswahl im letzten Herbst nur 435.000 WählerInnen halten. Dies ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen: Bei den Arbeitern erreichte sie nur einen Stimmenanteil von 11% und bei den Arbeitslosen von 16%. Die Wahlkampfthemen und die Wahlkampfführung waren zu wenig auf die Themen Arbeit und soziale Gerechtigkeit fokussiert. Das Plakatthema "Bildung - gebührenfrei" war nur für 23% der WählerInnen der LINKEN entscheidend bei der Stimmabgabe, die soziale Gerechtigkeit für 55% und für fast 80% der NeuwählerInnen die Verweigerung der Griechenlandkredite durch die Bundestagsfraktion.

Als Plus kann DIE LINKE in NRW verbuchen, dass die Verankerung in der Fläche immer breiter wird, sich die Stimmenanteile in den ländlichen Gebieten dem Landesdurchschnitt annähern und die Stimmenzahl um ein Viertel über der letztjährigen Kommunalwahl liegen. DIE LINKE schnitt vor allem dort gut ab, wo sie bereits vor dem Landtagswahlkampf die Finanznot der Kommunen thematisiert und bis in die Tiefe der Zivilgesellschaft den latenten Widerstand gegen die Zerstörung der sozialen und der freizeit-kulturellen Infrastruktur unterstützt hat: Duisburg mit rot-rot-grünen Kooperationsvereinbarungen, Wuppertal in der Verbindung von Stadtratsarbeit, offiziellen Verbandsstrukturen und außerparlamentarischem Protest, Dortmund passiv durch den Wahlbetrug der SPD-Seilschaften. Hier fielen die Wahlergebnisse relativ besser aus als in den früheren Hochburgen Gelsenkirchen, Recklinghausen, Oberhausen, Herne usw.. Der mit viel Geld geführte "Frauenwahlkampf" hat keine Erhöhung des unterdurchschnittlichen Stimmenanteils bei Frauen gebracht (4%).

DIE LINKE hat mit ihrem Plädoyer für einen radikalen Politikwechsel den Einzug in den Landtag geschafft und ist damit endgültig im politischen System dieses Landes etabliert. Allerdings hat sie vor allem für NRW nicht deutlich machen können, was dieser Politikwechsel konkret bedeutet und wie er sich einordnet in die grundsätzliche Perspektive eines dringend notwendigen Umbaus der kapitalistischen Ökonomie, zu dem als wesentlichstes Element die Regulierung der Finanzmärkte gehört. Insofern hat DIE LINKE zwar gegenüber 2005, als WASG und PDS noch getrennt antraten, mit 430.000 WählerInnen einen deutlichen Stimmenzuwachs erzielt, konnte aber ihr Potenzial aus der Bundestagswahl nicht annähernd ausschöpfen.

Mit der NRW-Wahl ist das schwarz-gelbe Regierungsprojekt schon nach wenigen Monaten zu Ende. Ein ungestörtes Durchregieren ist nicht mehr möglich, weil im Bundesrat die Mehrheiten fehlen. Das Finden von Bewegungsformen für die inneren Widersprüche der bürgerlichen Koalition und das konzeptlose Durchwurschteln durch den Krisenprozess werden durch die veränderten politischen Kräfteverhältnisse noch komplizierter.

Ein schwarz-gelber Kurswechsel wird sich daraus nicht ergeben. So plädiert der niedersächsische Ministerpräsident Wulf als Schlussfolgerung aus dem NRW-Wahldebakel: "Die Regierungskoalition muss die Wünsche der bürgerlichen Wähler nach Konsolidierung und Haushaltssanierung ernster nehmen als bisher … Eine Steuerreform mit moderaten Entlastungen, die vor allem Gerechtigkeitsprobleme beseitigt und zu einer Vereinfachung führt, würde zu einer klugen Politik genau so gehören wie verlässliche Maßnahmen bei der Bildung und glaubhafte Einsparungen."

Die bürgerliche Koalition hat weder ein Zukunftsprojekt für die Gestaltung des Gemeinwesens, noch nur eine Ahnung wie eine Regulierung der Finanzmärkte und eine Re-Stablisierung der öffentlichen Finanzen in die Wege zu leiten ist. Der angedrohte Übergang zu einer massiven Sparpolitik wird sich deshalb schwierig gestalten - es sei denn es gelingt, die nur wenig erneuerte Sozialdemokratie darin einzubinden. Aber solange die SPD dabei nur die "steinernen" Sanierungskonzepte von Steinmeier und Steinbrück mit einbringen wird, wird dies kein Qualitätssprung in der Antikrisenpolitik auch einer großen Koalition bewirken.

Die Mandatsverteilung im Landtag von NRW würde auch eine rot-rot-grüne Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und LINKEN ermöglichen. Die Grünen haben bereits am Wahlabend diese Konstellation nicht ausgeschlossen, vermutlich mit der taktischen Überlegung, den schwarzen Peter an die SPD weiter zu reichen. Da die Stimmverhältnisse für Rot-Grün nicht ausreichten, könne man auch mit den LINKEN sprechen, war von den Grünen zu hören. "Tabuisierung und Dämonisierung der LINKEN hilft nicht. Die SPD muss klären, ob sie bereit ist, sich von der Linkspartei wählen zu lassen."

Allerdings gilt es weithin als ausgeschlossen, dass die SPD auf DIE LINKE zugeht. Ein Bündnis mit dieser von ihr als "regierungsunfähig" bezeichneten Partei würde die internen Spannung enorm verschärfen. Zudem müsste DIE LINKE in kürzester Zeit gerade bezogen auf NRW ihre eigenen Vorstellungen von einem Politikwechsel konkretisieren. Dazu gehörte auch ein Konzept für einen gesellschaftlich gesteuerten Strukturwandel in NRW.