Vorwärts zu den Wurzeln

Die Gewerkschaften werden an Bedeutung gewinnen, wenn sie die richtigen Weichen stellen. Ein Ausblick in sieben Thesen

03.05.2010 / Von Ulrich Brinkmann, Oliver Nachtwey, DER FREITAG

Gewerkschaften sind wie Tennisvereine, gibt sich die landläufige Meinung gewiss: Einstmals attraktiv für eine breite Masse, sind sie heute nur noch ein Schatten alter Stärke. Sie wirken wie aus der Zeit gefallen, Relikte einer Sozialkritik am Kapitalismus, überkommene Organisatoren des Klassenkampfes, später der Sozialpartnerschaft.

Doch die globale Finanzkrise und die Debatte um Prekarisierung haben den Gewerkschaften wieder neue Aufmerksamkeit verschafft. Selbst in den urbanen Kreativmilieus gelten sie plötzlich wieder als schick, spätestens seit den meisten klar ist, dass der Weg der gepriesenen Jobnomaden nicht ins gelobte Land einer Digitale Bohème führt. Sondern in die Armut.

Wir sind der Überzeugung, dass die Gewerkschaften in den nächsten Jahren massiv an Bedeutung gewinnen werden. Dazu braucht es Weichenstellungen und eine ehrliche Analyse.

Neuer Krisenkorporatismus

Die Krise hat die Gewerkschaften übel erwischt. In den Jahren zuvor hatte das gewerkschaftliche Selbstbewusstsein erstmals seit langem wieder zugenommen. Die Angst um ihre Jobs verschob bei vielen Beschäftigten die Perspektive. Die Sicherung von Arbeitsplätzen nahm vor allem in den weltmarktorientierten Branchen die oberste Priorität ein. Nun aber herrscht wieder die tarifpolitische Defensive. Hart erstrittene Tarifverträge werden betrieblich nicht mehr automatisch umgesetzt sondern nachverhandelt – mit einer klaren Tendenz nach unten.

Die zarten Pflanzen offensiver, konfliktorientierter Betriebspolitik haben kaum Wurzeln in der Breite schlagen können. Die Regierung hat auf die Krise nicht nur mit einer teuren Abstützung der Finanzindustrie, sondern auch mit massiven sozialpolitischen Interventionen reagiert – nicht zuletzt aus Sorge vor unkontrollierten Protesten, Bossnapping und Bargaining by Riot. Der soziale Frieden in der Krise ist den Gewerkschaften zu verdanken – denen wurde ihre Kooperationsbereitschaft durch eine massive Ausarbeitung der Kurzarbeit versüßt. Die Gewerkschaften reagieren bislang pragmatisch auf die Ängste der Beschäftigten. So wichtig es ist, kurzfristig Beschäftigung zu sichern: Den Gewerkschaften fehlt ein Rezept, selbst wieder in die Offensive zu kommen.

Neue Kultur der Beteiligung

Teilweise aus der Not geboren, teilweise gezielt vollziehen einige Gewerkschaften – vor allem Verdi, die IG Metall, aber auch die IG BAU und die NGG – einen strategischen Wandel. Nachdem man in den letzten Jahren sowohl an Mitgliederstärke, an betrieblicher, tariflicher und politischer Macht verloren hat, heißt die Devise: Wandel. Die Organisationen werden oftmals unsentimental verschlankt und auf Effizienz getrimmt, gleichzeitig rücken die Mitglieder wieder in den Vordergrund. Was so selbstverständlich klingt, ist es nicht. Als es noch gut lief, haben die Gewerkschaften Mitglieder „aufgenommen“. Jetzt will, ja muss man sie aktiv organisieren. Zahlreiche Gewerkschaften experimentieren mit dem „Organizing“-Ansatz der US-Gewerkschaften, stellen aber fest, dass sie noch eine lange Strecke der Erneuerung vor sich haben.

Die neue Kultur der Gewerkschaften zielt auf die Absage des überlieferten Stellvertreter-Prinzips. Die neue Kultur ist eine Beteiligungskultur, die Mitglieder und Beschäftigte aktiv in Willensbildung, Strategiefindung und Organisierung einbezieht. Straffere Organisationen und Beteiligungskultur, sind kein prinzipieller Widerspruch, gleichwohl wird es in den Gewerkschaften über diese Frage Konflikte geben.

Der DGB ist tot. Er lebe hoch

Der Dachverband der Gewerkschaften verliert an Bedeutung – und wird mehr denn je gebraucht. Der Deutsche Gewerkschaftsbund übernimmt eine wichtige Koordinierungsfunktion, aber er steht durch die Finanzkrise der Einzelorganisationen ebenfalls unter Druck und vor spürbaren finanziellen Einsparmaßnahmen. Vor allem aber für die kleinen Gewerkschaften, die sich keine Stabsabteilungen etwa für die Wirtschafts- und Sozialpolitik leisten können, ist er ein wichtiges Zentrum für Koordination, Austausch und Information bei politischen Kampagnen.

Auch in der breiten Fläche haben diese kleineren Gewerkschaften vielfach keine Anlaufpunkte für ihre Mitglieder; da macht es sich besonders schmerzhaft bemerkbar, wenn die Hauptamtlichen des DGB in der Fläche – wie geplant – nun verschwinden sollen. Man setzt stattdessen auf das Ehrenamt und möchte aus der finanziellen Not eine Beteiligungstugend machen: mehr Rechte für engagierte freiwillige Funktionsträger. Fragt man nach, so weiß kaum jemand, woher diese Ehrenamtlichen kommen sollen – viele Einzelgewerkschaften selbst haben in diesem Bereich mehr Probleme als Lösungen.

Mehr politische Autonomie

Durch die Etablierung der Linkspartei haben die Gewerkschaften an politischer Autonomie und sogar an Einfluss gewonnen. Die lange und enge Verbindung von SPD und Gewerkschaften hat sich etwas gelöst, die Christdemokraten haben den Wert der Gewerkschaften (wieder) entdeckt. Mit sozialer Kälte kann man derzeit keine Wahlen gewinnen und bislang haben sich die DGB-Organisationen als nützliche Ordnungspartner erwiesen. Kurzum: Die Gewerkschaften sind autonomer und einflussreicher, aber auch gleichzeitig politisch volatiler. In der Krise agieren sie konstruktiv am Krankenbett des Finanzkapitalismus. In der Zukunft werden sie um eine stärkere Betonung ihre Rolle als Gegenmacht kaum herumkommen.

Schöne neue Arbeitswelt

Die Arbeitsgesellschaft ist nicht am Ende, im Gegenteil: Kurz vor der Krise waren mehr Menschen in Deutschland lohnabhängig beschäftigt als jemals zuvor. Gleichzeitig verändert sich die Arbeitswelt auf doppelte Weise: Es gibt zum einen immer mehr neue Jobs im Dienstleistungssektor, in den IT-Bereichen, in den neuen ökologischen Industrien. Zum anderen heißt Arbeit nicht mehr Auskommen, soziale Sicherheit und würdevolles Leben. Vor allem Frauen, Migranten und junge Menschen werden in prekären Jobs ausgebeutet. Sowohl in den neuen Branchen als auch unter den prekär Beschäftigten sind die Gewerkschaften bislang kaum existent. Für IT-Angestellte, Leiharbeiter und vor allem Frauen sind Gewerkschaften als Interessenvertretung und in ihrem Organisationsalltag noch wenig attraktiv. Aber hier liegt auch die Chance: Die überwiegende Mehrzahl der Beschäftigten aus der neuen Arbeitswelt sind im Prinzip bereit sich zu organisieren, zumal ihr Problemdruck wächst. Wenn die Gewerkschaften es schaffen, mit ihren attraktiven Konzepten von Guter Arbeit diese Gruppen zu gewinnen, können sie neue Organisationsmacht erlangen. Diese hätte in der für Ablaufstörungen anfälligen Just-In-Time-Ökonomie ein starkes Druckpotenzial.

Anerkennung: die Wurzeln

Gewiss: Lohnerhöhungen sind wichtig, ohne sie wird es nicht gehen. Aber für zeitgemäße Arbeitskämpfe und Mobilisierungen unterschiedlicher Beschäftigungsgruppen reicht eine quantitative Lohnpolitik nicht mehr aus. Viele moderne Beschäftigte sind hochqualifiziert und haben ein ausgewiesenes Berufsethos. Auch die Geringqualifizierten wissen oft genau, dass der reibungslose Betriebsablauf ohne sie nur schwerlich aufrecht zu erhalten ist und sie wichtige Arbeiten leisten. Deshalb haben die Gewerkschaften vermehrt die Fragen der „Anerkennung“ in ihre Mobilisierungen einbezogen. Einige Beschäftigtengruppen haben sich mittlerweile außerhalb der DGB-Gewerkschaften organisiert: Ärzte, Piloten und Lokführer. Im Kern haben sie Anerkennungskämpfe geführt. Die IG BAU hat es im letzten Jahr erstmals vermocht, einen Streik im Bereich der Gebäudereiniger zu organisieren. Als „Aufstand der Unsichtbaren“ war dies ein Arbeitskampf um Anerkennung – der erste von prekär Beschäftigten. Ganz ähnlich verlief der erfolgreiche Kita-Streik von Verdi. Hier wie dort verhalfen die Auseinandersetzungen vormals „vergessenen“ Beschäftigten und rückten Schattenthemen (wie etwa die Gesundheit) in den Fokus. Solche Anerkennungspolitik hat Potenzial: Vorwärts zu den Wurzeln ist die Devise. Anerkennung und Verteilung – nichts anderes ist in dem klassischen Slogan der Arbeiterbewegung zusammengedacht: „Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tageswerk“.

Zukunft der Demokratie

Die Zukunft der Gewerkschaften liegt in einer Politik der Demokratie. Die Logik des Kapitalismus ist mit dem Hunger des Ungeheuers in Dantes göttlicher Komödie vergleichbar: Noch heißer lechzt er nach, als vor dem Fraße. Die Krise ist aber auch ein Produkt der Verkümmerung der Demokratie, in der Politik nur noch vorgeblich alternativlosen Sachzwängen gehorcht. Selten war das allgegenwärtige Prinzip der Privatisierung von Gewinnen und der Sozialisierung von Verlusten so offenbar wie im Umgang mit den Krisenfolgen. Dieses politische Prinzip der einseitigen Interessenwahrung lebt vor allem von intransparenten Verfahren, mangelnder Information und fehlenden Teilhabechancen. Die Zukunft der Gewerkschaften ist daher an eine Offensive um mehr Demokratie gebunden: am Arbeitsplatz, im Betrieb und in der Gesellschaft.