Erst eingesperrt, dann ausgesperrt

Vorabveröffentlichung aus CLARA

09.04.2010 / Von Cora Floh

Der nachfolgende Artikel erscheint am 12. April in der gedruckten 15. Ausgabe des Fraktionsmagazins CLARA[1].

Marcus – Betriebsratsvorsitzender der Leiharbeiter

„Erfahren haben wir von den Kündigungen per Aushang“, erzählt Marcus Peyn, der erste Betriebsratsvorsitzende der Leiharbeiter. Für Peyn liegt auf der Hand, dass die Kündigung mit der Gründung seines Betriebsrates zusammenhängt. Schon zweimal in den letzten zehn Jahren hätten Kollegen versucht, einen Betriebsrat für die Leiharbeiter zu gründen. Jedes Mal wurde Druck ausgeübt und gekündigt. „Die Einschüchterungen hatten immer Erfolg“, weiß Marcus. Doch der 27-jährige ließ sich nicht klein kriegen. Er holte sich Hilfe bei ver.di, wurde von der Bundestagsabgeordneten der Fraktion DIE LINKE, Cornelia Möhring, beraten, und beim dritten Anlauf klappte es.

„Auch wir sind KN“ prangt mitten auf dem kleinen Button. Marcus trägt ihn stolz am Revers, als er seine erste Betriebsversammlung eröffnet. Er hat recherchiert: Seine Leihfirma wurde Ende der 90er von einem leitenden Angestellten der Kieler Nachrichten selbst gegründet. Das kam billiger. Wer früher bei den Kieler Nachrichten (KN) 12,90 Euro laut Tarif verdiente, bekommt heute 6,14 Euro pro Stunde. Die „Tabel-Gruppe“, an die die Leiharbeiter inzwischen verkauft wurden, begründet die Massenentlassung anders als Marcus. Man habe mit den KN über eine höhere Vergütung des Werkvertrags verhandelt, heißt es da. Es sei zu keiner Einigung gekommen, die Entlassungen seien die Folge.

Babette – seit zehn Jahren verliehen

Rund 150 Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter haben sich in der kleinen Kantine des KN-Druckzentrums in Kiel versammelt. Unter ihnen Senioren, die ihre Rente mit der Schichtarbeit aufbessern, Studenten und Hilfsarbeiter oder Frauen, wie Babette Zuske. Die ausgebildete medizinisch-technische Assistentin kam vor neuneinhalb Jahren zur Leiharbeit, eher „per Zufall“. „Ohne uns würde der Laden hier nicht laufen“, sagt die 43-jährige. Denn zum Schluss muss bei aller Automatisierung doch an vielen Stellen Hand angelegt werden. Die Produktionshelfer sorgen dafür, dass den KN Werbung beigelegt wird, die Zeitungen verpackt und palettenweise auf LKW geladen werden.

Babette hat einen Teilzeitvertrag ohne Stundenangaben. Für ihre Nachtschichten bekommt sie einen Arbeitsplan, der ihr die Tage und Anfangszeiten ihrer Schichten nennt. Wann sie fertig ist, weiss sie nie im Voraus. „Manchmal, wenn ich um 22 Uhr beginne, heißt es schon um zwei: Jetzt kannst du gehen“, erzählt sie. Dann fährt kein Bus mehr und Babette hat nur die Wahl, 50 Minuten zu Fuß nach Hause zu laufen oder den Tagesverdienst für ein Taxi auszugeben. An anderen Tagen arbeitet sie 14 oder 16 Stunden am Stück.
Mal kommt sie so auf eine 20-Stunden-Woche, ein andermal auf 55 Stunden. Zu Anfang des Monats weiss sie nie genau, wie viel am Ende herauskommt, wie viel sie im Portemonnaie haben wird. „Das ist ein ständiges Jonglieren“, beschreibt sie ihr Leben. „Du weißt nie, ob der Kühlschrank am Ende des Monats voll ist oder leer bleibt.“

Kadim – gefangen bei der Arbeit

Kadim Akbag geht es ebenso. Seine Berufsausbildung konnte der heute 38-jährige aufgrund eines Unfalls nicht abschließen. Rund 900 Euro verdient er monatlich bei den KN. Viele seiner Kollegen haben am Ende des Monats weniger – die bekommen aufstockend Hartz IV. „Wie können die Gesetze in diesem Land so sein, dass der Staat noch zuzahlt, obwohl ich arbeite?“, fragt sich Kadim und schüttelt den Kopf. Doch das ist nicht das einzige, was im Betrieb gang und gäbe ist, das ihn aufregt.

Manchmal artet der Druck bei KN in Arbeitszwang aus. Wie am Freitag. Kadim wollte um acht Uhr morgens nach zehn Stunden Arbeit nach Hause gehen, „da sagte der Pförtner zu mir: Ich kann dich nicht rauslassen – Anweisung von oben!“ Vorsorglich waren die Türen abgeschlossen. Kadim ging zurück in die Halle und arbeitete bis zehn Uhr weiter. Er traute sich nicht, Rabatz zu machen. „Das nächste Mal rufst du mich sofort an“, sagt Marcus zu ihm. „Das ist Freiheitsberaubung!“
„Eure Arbeitszeit darf maximal zehn Stunden betragen“, erklärt Marcus Peyn seinen Kollegen. „Wer länger arbeitet, verliert den Versicherungsschutz!“ Der Betriebsratsvorsitzende fordert alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf, solche Vorfälle künftig den Schichtleitern zu melden. Die Kollegen sind unsicher. Immerhin brauchen sie alle das Geld, da kommt eine lange Schicht nicht ungelegen.

Heino – der Gewerkschafter

„Lasst euch nicht einschüchtern!“, appelliert auch Heino Stüve. „Immerhin habt ihr es nach zehn Jahren erstmals geschafft, euch einen Betriebsrat zu wählen.“ Der ver.di-Mann kümmert sich um die mehr als 130 Kündigungsklagen, die inzwischen von den Leiharbeitern eingereicht wurden. Und kann erste Erfolge verbuchen: Die Kündigungen der Betriebsratsmitglieder sind hinfällig. Und die schleswig-holsteinischen Arbeitsgerichte können bisher nicht erkennen, inwiefern der Betrieb von Tabel in Kiel tatsächlich gänzlich eingestellt wird. Immerhin hat die Firma angekündigt, sie wolle sich erneut um den Auftrag bewerben, wenn die KN ihn ausschreiben. Stüve ist da optimistisch. Viele Kündigungen könnten unbegründet sein. Und auch die Arbeitsbedingungen in dem Laden wird er mit dem Betriebsrat umkrempeln: „Eure Arbeit hier erinnert doch an die von Galeerensklaven!“

„Genau“, ruft einer, „wir sollten streiken!“ Kadim lacht. Gleichzeitig weiss er nicht so recht, ob er dem neuen Kampfgeist seiner Kollegen trauen soll: „Wenn ich sage, ich gehe jetzt, kriege ich anschließend keine Schichten mehr“, gibt er zu Bedenken. Einige Kollege murmeln zustimmend. „Solche Repressalien wird es mit ver.di nicht mehr geben“, verspricht Stüve.

Reinald – der Arbeitsrechtler

Arbeitgeber, die sich in vorkapitalistischen Zeiten wähnen, sind Reinald Berchter nicht unbekannt. Doch wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter. Dass Leiharbeitsfirmen gegründet werden, um Löhne zu drücken, ist für den Hamburger Arbeitsrechtler selbstverständlich. „Im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz ist zwar im Grundsatz vorgeschrieben: Gleiches Geld für gleiche Arbeit“, erläutert der Jurist, der den Kieler Betriebsrat berät. „Doch unter der Regierung Schröder wurde hier eine Öffnungsklausel eingeführt, die mehr oder weniger alles möglich macht.“ Dass Firmen ihre eigenen Zeitarbeitsfirmen gründen, ist seither keine Seltenheit. Nicht selten grenzten die Löhne solcher Firmen an Sittenwidrigkeit, meint Berchter.

„Benachteiligungen wird es bei uns nicht mehr geben!“, verspricht Marcus Peyn derweil in der Kantine. „Wir sind jetzt euer Sprachrohr!“ Als sich einer seiner Kollegen bei ihm „herzlich für das Engagement“ bedankt, lacht der 27-jährige: „Wisst ihr, wenn mir jemand unsere Geschichte vor 10 Jahren zu meiner Schulzeit erzählt hätte, hätte ich gesagt, du spinnst ja.“ Heute weiss er, das ist die Realität. Und er schließt die Betriebsversammlung mit seinem persönlichen Credo: „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“

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