Sozialdemokratisches ''Fair play'' - Die SPD und das ''Normalarbeitsverhältnis''

Joachim Bischoff / Richard Detje

23.03.2010

Das SPD-Präsidium hat Vorschläge verabschiedet, deren Umsetzung zu Fairness auf dem Arbeitsmarkt führen soll. Diese Vorschläge sollen "bis zum SPD-Bundesparteitag im September 2010 in öffentlichen Veranstaltungen mit Gewerkschaften, Unternehmern, Wissenschaft, Sozialverbänden, Kommunen und der Bundesagentur für Arbeit beraten (werden). Auf dem SPD-Bundesparteitag werden wir unsere Grundsätze für die Arbeitsmarktpolitik dann endgültig neu fassen und verabschieden".

Die Überlegungen folgen einer bekannten Regieanweisung. Die SPD betont, dass die Agenda 2010 und insbesondere die "Hartz -Gesetze" zur Modernisierung des Arbeitsmarktes grundsätzlich richtig waren. Es sei allerdings jetzt an der Zeit, schonungslos "Fehler" aufzudecken und "Korrekturen" vorzuschlagen.[1] Wir bewegen uns nicht auf einem Nebenkriegsschauplatz symbolischer Politik, sondern auf jenem Feld, dem der letzte sozialdemokratische Kanzler gleichsam eine "Jahrhundertreform" verpasst hatte: dem Arbeitsmarkt.

"Begrenzung der Leiharbeit – Mehr Mitbestimmung – Mindestlöhne – Sozialer Arbeitsmarkt" lauten die Botschaften. Wo die SPD bis Mitte der 1990er Jahre von sozialer Gerechtigkeit gesprochen hatte, die Schröder-SPD daraus eine "Modernisierung" dekretierte, soll jetzt mit "Fairness" eine Korrektur umgesetzt werden.

Begrifflich ist die Metapher aus einer längst untergegangenen Welt des Sports ein Fehlgriff. Sie zeigt, wie beschwerlich der Weg sozialer Erneuerung – wenn nicht gar der programmatischen Neugründung – sein wird. Die begrenzte Reichweite dieser selbstkritischen Korrektur wird an einem Punkt überdeutlich: die SPD anerkennt, dass die Agenda-Politik große Teile der Bevölkerung verärgert hat: "Sucht man nach den Ursachen dieser Ablehnung, wird schnell deutlich, dass die Skepsis Vieler gerade jenen Bestandteilen der Reformen galt und gilt, die, weil eindimensional auf das Ziel der Aktivierung ausgerichtet, mit den Gerechtigkeits- und Moralvorstellungen unserer Arbeitskultur nicht in Einklang stehen. Wer arbeitet, will ordentlich zurechtkommen und ein gutes und sicheres Leben führen können... Und sicher wären die anstrengenden Bestandteile der Arbeitsvermittlungsreform besser akzeptiert worden, wenn sie von vorneherein mit einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn verbunden gewesen wäre...Viele müssen mit nur mäßig steigenden oder sogar sinkenden Löhnen zurechtkommen. Diese Entwicklung hat – wenn auch nicht ausschließlich – ökonomische Ursachen. Sie erzeugt anhaltenden Verdruss. Und das bekamen und bekommen auch sozialdemokratisch geprägte Regierungen zu spüren, wo es ihnen nicht gelingt, diesen Trend umzukehren."

Damit wird auch ausgesprochen: Es geht um mehr als Fairness auf dem Arbeitsmarkt, es geht darum, der Lohnarbeit die Würde zurückzugeben und es geht darum, ob die Überwindung der tiefgreifenden sozialen Spaltung in der Gesellschaft überwunden werden kann.

Die demografische Illusion

Die FDP will für ihre Klientel die soziale Spaltung ("spätrömische Dekadenz") verfestigen; die so genannten Leistungsträger wollen weiterhin den Löwenanteil des erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtums haben; daher sollen die Lohnabhängigen und die dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten sich mit weniger Einkommen zufrieden geben. Teile der CDU sind nicht weit entfernt von dieser Logik: Der rechte Flügelmann Koch fordert Hartz IV nur bei Gegenleistung und kann sich selbst eine zeitliche Begrenzung von Sozialleistungen vorstellen.

Und die SPD? Die Vorsitzende der NRW-SPD verstrickte sich auch in einer Fortschreibung der Ein-Euro-Jobs. Auf die Schnelle[2] musste das durch eine neue "Beschlusslage" richtiggestellt werden. Dabei ist – wie jeder zumal in Krisenzeiten weiß – der Arbeitsmarkt ein abhängiges oder nachgelagertes Feld. Ohne dass die SPD "Fehler" und "Korrekturen" auf dem Feld der Wirtschaftspolitik in Zeiten einer Systemkrise des Finanzmarktkapitalismus benennt, lässt sich schwer sagen, wie Beschäftigung gesichert und neu organisiert werden soll. In der Tat: "Das Ziel Vollbeschäftigung ist alleine mit arbeitsmarktpolitischen Mitteln nicht erreichbar." (3) Doch gerade auf dem Feld der Wirtschaftspolitik ist die Überwindung des Erbes der Schröder- und Vor-Schröder-SPD am schwersten.

Wie beschwerlich aber auch der arbeitsmarktpolitische Weg ist, zeigt sich dort, wo das SPD-Präsidiums die Rahmenbedingungen der Politik in den kommenden zwei Jahrzehnten beschreibt. Neben Globalisierung – und damit Wettbewerbsfähigkeit – waren die vermeintlichen Zwänge der "demografischen Herausforderung" eine der tragenden Säulen der Politik der Schröder-SPD. Und so wird das heute auch noch im Präsidium gesehen. Von dem arbeitsmarktpolitisch fatalen Beschluss zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit – Rente mit 67 – ist keine Rede, an der "Begrenzung der weit verbreiteten Praxis der frühen Verrentung" wegen "steigende(r) Lebenserwartung" (2) hält man fest.

Im Unterschied zur Renten- und Gesundheitspolitik ist die demografische Illusion auf dem Feld der Arbeitsmarktpolitik auch verlockend. Denn so scheinen sich die Probleme gleichsam im Selbstlauf zu lösen: "Nach drei Jahrzehnten, die von einem Überangebot an Arbeitskräften geprägt waren, stehen nun in Deutschland drei Jahrzehnte bevor, die vor allem durch einen Mangel an ausreichend qualifizierten Arbeitskräften geprägt sein werden." (2)[3]

Die Verlockung ist doppelt: Erstens, weil Vollbeschäftigung aus der Perspektive einer radikal anderen Politik der Verteilungs- und Wirtschaftssteuerung herausgelöst wird. Zweitens, weil die jakobinische Illusion der Bildung als entscheidender Stellschraube der Gesellschaftsreform reaktualisiert werden kann.

Der arbeitsmarktpolitische Grundgedanke des SPD-Präsidiums ist schlicht: Das Fortpflanzungsverhalten der Deutschen sorgt für eine Anpassung des Arbeitskraftangebots an die Arbeitskraftnachfrage und durch energische bildungspolitische Anstrengungen wird es möglich sein, auch bislang unqualifizierte und bildungsferne Jahrgänge auf der high road von Wettbewerb und Strukturwandel mitzunehmen.

Dass jene high road sich durch steigende Produktivkraftentwicklung über eine tendenziell stagnierende Wirtschaftsentwicklung (die Keynessche Langfristprognose) auszeichnet, folglich die demografische Komponente gleichsam ausgebremst wird, scheint noch nicht Gegenstand der Beratungen im SPD-Präsidium gewesen zu sein.[4]

Komplikationen im Abnabelungsprozess von eigener Regierungsverantwortlichkeit dokumentieren jene Ausführungen, in denen der "Verdienst" (1) der Hartz-Gesetze – ein in die politische Alltagssprache eingegangener Begriff, den das SPD-Präsidium nicht ein einziges Mal benutzt – gewürdigt wird. "Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war ein richtiger Schritt, um die Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland aufzubrechen." (12)

Von wegen, Genossen! Das gehört in die Rubrik "Fehler"! Schaut euch die einschlägige Befragung des Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)[5] der Bundesagentur für Arbeit an: Drei Viertel sind nach einem Jahr immer noch im Hartz IV-Regime, und auch von dem Viertel der "Aussteiger" hat nur knapp die Hälfte einen neuen Job. Davon wiederum verdient wiederum die Hälfte weniger als 7,50 Euro brutto die Stunde.

Und auch die "Ein-Euro-Jobs" gehören in die Rubrik "Fehler". Sie wurden 2005 im Rahmen der Arbeitsmarktreformen eingeführt. Auf Druck der Politik haben Kommunen und Wohlfahrtsverbände bereits 360.000 solcher Jobs geschaffen. Sie bringen Arbeitslose nur selten in eine feste Anstellung.[6] Diese Jobs sind eine hartnäckige Bedrohung der bestehenden Lohnarbeitsverhältnisse. Sie müssten eigentlich Zusatzjobs und gemeinnützig sein, gleichwohl unterlaufen sie die Pflichtaufgaben der Kommunen sowie reguläre Arbeitsverhältnisse. Wer einen Zusatzjob hat, bekommt weiterhin Arbeitslosengeld II und Wohngeld sowie zusätzlich ein bis zwei Euro je geleisteter Arbeitsstunde. Wer sich verweigert, dem werden die Sozialleistungen gekürzt oder gestrichen.

Lernprozesse

Aber wir wollen auch die Frage "Wo, bitte, bleibt das Positive" nicht unbeantwortet lassen. Das SPD-Präsidium verabschiedet sich

von einer auf Lohnkostensenkung gründenden Wettbewerbspolitik, die jüngst in Frankreich jenseits diplomatischer Geflogenheiten offen kritisiert wurde. Gefordert wird eine "Kehrtwende in der Lohnquote" (8), was – wenn das ernst gemeint sein sollte, aber dies wird nicht expliziert – Umverteilung zu Lasten der Gewinn- und Vermögenseinkommen über eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik hinaus bedeuten würde, von einer Niedriglohnstrategie durch die Forderung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro in der Stunde; die Anhebung des Hartz IV-Regelsatzes auf 440 Euro wäre konsequent, taucht aber – ohne Abstimmung mit der Fiskalpolitik? – nicht auf, von geschlechtsspezifischer Lohndiskriminierung, auf die Lohndumping hauptsächlich abgeladen wird.

Positiv zu bewerten ist auch

die Kehrtwende in der Regelung der Leiharbeit, um deren Funktion als "Lohndrückerei" (6) abzuschalten, die rigorose Begrenzung befristeter Arbeitsverhältnisse, indem deren sachgrundlose Genehmigung aufgehoben wird, die Ablehnung wilder Flexibilisierung, indem diese an tarifliche Regelungen gebunden wird (7), die Milderung des Drucks zum automatischen Absturz in das Hartz IV-Regime durch Verlängerung des ALG I um weitere 12 Monate, was die SPD an die Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen koppelt.

Und es gibt weitere positive Meldungen, u.a,

– Ausbau der Mitbestimmung, indem die Schwelle der Parität auf 1.000 Beschäftigte gesenkt wird – wohlweislich, dass hier von "Parität" keine Rede sein kann, wegen des Doppelstimmrechts des Arbeitgeber-Vorsitzenden, Erweiterung des Katalogs der im Aufsichtsrat zustimmungspflichtigen Geschäfte – wobei interessant wäre, vom SPD-Präsidium zu erfahren, ob das auch für Verlagerungen, Betriebsschließungen und betriebsinternen Restrukturierungen analog des VW-Gesetzes gilt, denn das würde eine tatsächliche Veränderung der Machtverhältnisse in den industriellen Beziehungen bedeuten.[7]

Fazit

Wie bereits vermerkt: Wer über einen "sozialen Arbeitsmarkt" sozialdemokratische Erneuerung anpeilt, sollte über die Hartz-Gesetze nicht schweigen. Diese Sprachlosigkeit stellt soziale Erneuerungsfähigkeit unter Generalvorbehalt.

Wie ebenfalls vermerkt: Eine Erneuerung sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik steht aus.

Wenn nicht das präsidial-sozialdemokratische Zeitalter demographie-bedingter Vollbeschäftigung ansteht, stellen sich neue Anforderungen an eine wirtschaftsdemokratische Alternative. Die gilt es auszuarbeiten.

[1] Beschluss des SPD-Präsidiums vom 15. März 2010. Zitate aus der 18-seitigen Beschlussfassung.
[2] Die Hektik liest man u.a. daran ab, dass ein "Präsidium des SPD-Präsidiums" den Beschluss herbeigeführt haben soll.
[3] Für das SPD-Präsidium zeichnet sich nicht nur Vollbeschäftigung als arbeitsgesellschaftliche Zukunftsperspektive, sondern die Gefahr eines demografiebedingten Arbeitskraftmangels ab: "Schon jetzt steht dager fest, dass sich in Deutschland eine mehrere Millionen große Arbeitsmarktlücke auftun wird." (10)
[4] Die Wirtschaftsabteilung von ver.di hat dazu hervorragend aufbereitetes Material vorgelegt.
[5] Die IAB-Umfrage dürfte auch für das SPD-Präsidium "diskussionswürdig" sein, hat das Institut doch ansonsten eine positive Bilanz der Hartz-Reformen vorgenommen.
[6] Dies zeigt ebenfalls eine Untersuchung des IAB.
[7] Siehe hierzu Michael Schumann in: Berthold Huber (Hrsg.), Kurswechsel für Deutschland. Die Lehren aus der Krise, Frankfurt a.M. 2010.