„Wirtschaftsjournalismus in der Krise - Zum massenmedialen Umgang mit Finanzmarktpolitik“

(Studie der Otto Brenner Stiftung, Arbeitsheft 63, Frankfurt am Main, März 2010)

09.03.2010 / Hans -Jürgen Arlt, Wolfgang Storz

Kurzfassung der Studie

„Wenn eine Gruppe von Bankern hunderte Milliarden Dollaran Boni dafür kassiert, dass sie weltweit

Billionen Dollar anVermögenund hundert Millionen Arbeitsplätze vernichten, ...“

(John Talbott, ehemaliger Banker von Goldman-Sachs)

... dann wollen wir wissen, welche Rolle derJournalismus dabei gespielt hat.

1. Die wichtigsten Befunde der Studie

Der tagesaktuelle deutsche Wirtschaftsjournalismus ist ein gläubiger Diener des Mainstreams, kein kritischer Träger der Aufklärung. Im Bereich der Wirtschaft, den die Gesellschaft selbst für ihren wichtigsten hält, leistet sie sich einen tagesaktuellen Journalismus, der wenig Information bietet und viel Desorientierung verursacht. Der tagesaktuelle deutsche Wirtschaftsjournalismus hat als Beobachter, Berichterstatter und Kommentator des Finanzmarktes und der Finanzmarktpolitik bis zum offenen Ausbruch der globalen Finanzmarktkrise schlecht gearbeitet; Pfusch am Bau nennt man das im Handwerk. Die besten Tageszeitungen dieser Republik sind erst mit dem Krach der Krise publizistisch und journalistisch “erwacht”. DPA und ARD-Aktuell machten auch dann in ihrer handwerklich schlechten Alltagsroutine einfach weiter wie zuvor.

Die tagesaktuellen Massenmedien haben über Jahre hinweg das Thema Finanzmärkte und Finanzmarktpolitik und das umfangreiche kompetente und prominente kritische Wissen darüber ignoriert. Obwohl ihnen bewusst war, dass die Krise spätestens mit den EZB-Interventionen im August 2007 gegeben war, berichteten sie zwar darüber, verblieben jedoch weitgehend in ihren Routinen. Sie wurden damit ihrer Rolle als Frühwarnsystem der Gesellschaft nicht gerecht. Erst mit dem “offiziellen”, faktisch von Politik und Wirtschaftseliten ausgerufenen Beginn der Krise im September 2008 setzte auch in den Massenmedien eine der Situation angemessenere Berichterstattung ein.

Der Wirtschafts- und in diesem Fall Finanz- und Finanzmarktjournalismus hat sich meist intensiv um die Perspektive der Anbieter und Anleger/Nachfrager gekümmert. Die kritische Darstellung der neuen Finanzbranche, ihr Wandel von einem Dienstleister zu einer Art Finanzindustrie, sowie die Folgen daraus für das Gemeinwohl, also die Perspektiven von Volkswirtschaft und Gesellschaft waren kein Thema.

Es gab nicht nur kompetentes, prominentes und gut zugängliches kritisches Wissen – wie der Literaturbericht in der Studie ausführlich belegt –, es gab zudem in dem Zeitraum von 1999 bis Mitte 2007 mehrere von den Autoren untersuchte bedeutende Ereignisse, die Anlass für eine entsprechende Berichterstattung gewesen wären. Auch diese wurden nicht genutzt, sondern ebenso wie das kritische Wissen ignoriert. Von Mitte des Jahres 2007 an hätten die Massenmedien ihrer Rolle als Frühwarnsystem gerecht werden können und müssen. Sie haben in dieser Frage versagt.

Vor allem SZ, FAZ und HB halten zu lange an einem Deutungsrahmen fest – der Markt reguliert via Preis das Wirtschaftsgeschehen effizient, der Staat soll sich heraushalten –, der den Ereignissen nicht mehr gerecht wurde. Deshalb war sogar ihre zunehmend qualitätsvollere Berichterstattung in der Krise mit einem Orientierungschaos verbunden. Der Wirtschaftsjournalismus verliert seinem Publikum gegenüber kein Wort über seine Defizite der Vergangenheit.

2. Besondere Erkenntnisse über die Arbeit von DPA

Der Journalismus von DPA besteht im Kern aus dem Zusammenfügen von Zitaten und Stellungnahmen der jeweils wichtigen Akteure rund um aktuelle wichtige, meist regierungsoffizielle Ereignisse.

Es werden selten, wenn, dann nur sehr unzureichend Zusammenhänge hergestellt und Ereignisse erläutert - etwa die Darlegung von Motiven, Wirkungen, Interessen, die hinter Ereignissen und Entscheidungen stehen. Werden DPA-Meldungen in den Medien selbst unbearbeitet abgedruckt oder verlesen, was bei regionalen und lokalen Medien die Regel ist, dann ist davon auszugehen, dass das “normale” Publikum die Informationen nicht versteht und kaum einordnen kann.

In den DPA-Meldungen dominieren meist die jeweils offiziell wichtigsten Akteure, vor allem also die Vertreter von Regierungen, Fraktionen, Parteien und wichtigen Verbänden. Deutungshoheit in der Finanzmarktpolitik hat die Regierung. Ihrer Interpretationslinie passt DPA sich an wie der Autofahrer im Nebel dem weißen Mittelstreifen.

Das mehrfach erwähnte umfassende kritische Wissen und deren Vertreter werden bei dieser Art des DPA-Journalismus nur beiläufig oder nicht zur Kenntnis genommen.

3.Besondere Erkenntnisse über die Arbeit von ARD-Aktuell

Die Redaktion ARD-Aktuell ließ sich von der Finanzmarktkrise in ihrer Routine nicht stören. Das Grundprinzip der “Tagesschau”, in den 15 Minuten eine Vielzahl von Themen “anzubieten”, wurde in den untersuchten Sendungen nicht unterbrochen. Und es gab nach “Ausbruch” der offenen Krise nur zwei „Brennpunkte“, also nur zwei Sondersendungen.

Da die Sachverhalte kaum erläutert und inhaltliche Zusammenhänge hergestellt werden, ist mit gutem Grund davon auszugehen, dass die Berichterstattung zu dem hier interessierenden Thema vom größten Teil des Publikums nicht verstanden wird.

Die Redaktion arbeitet “perspektivenarm”: Das heißt, im Mittelpunkt der Arbeit stehen die jeweils offiziell wichtigsten Akteure, Vertreter der deutschen Regierung zuallererst, Bankenvertreter, wenige Wissenschaftler und deren Sichtweisen.

Der Befund der “Perspektiven-Armut” gilt für die Informationsarbeit ebenso wie für die Kommentierung. Das direkte Geschehen an der Börse und deren Perspektive nehmen in der Wirtschafts-Berichterstattung einen ungewöhnlich umfangreichen Platz ein.

4. Weitere bemerkenswerte Ergebnisse

In Verbindung mit einer Untersuchung von Sebastian Dullien kann gesagt werden, dass nur eine sehr kleine Schar von Wirtschaftswissenschaftlern regelmäßig und damit sehr häufig in den Massenmedien zu Wort kommt: Rürup, Sinn, Gerke, ... – das war’s.

Die Autoren untersuchen die Berichterstattung des tagesaktuellen (Wirtschafts-) Journalismus über die Finanzmarktkrise und die Finanzmarktpolitik. Jedoch: Das Wort “Finanzmarkt-Politik” gab es viele Jahre gar nicht. Es tauchte erst in den ersten Monaten der Krise vereinzelt auf. Ein kleiner, aber vielsagender Fund, der die Einschätzung stützt: Finanzmärkte werden (oder wurden) als politikfreie Räume angesehen.

Die Krise heißt bis heute „die Krise“. Sie hat also noch keinen Namen. Deshalb haben die Autoren sich erlaubt, sie zu taufen: die erste weltweite Krise der Großen Spekulation.

Gerechtigkeit? Gerecht? Es geht bei dem Thema um das Verdienen und Verbrennen von hunderten Milliarden Euro. Aber das Wort “Gerechtigkeit” und seine anverwandten Variationen spielen in der Berichterstattung so gut wie keine Rolle. Da diese Dimension keine Rolle spielt, wird in den Massenmedien auch diese Frage so gut wie nicht gestellt: Wer zahlt die Zeche?

Diese Krise war nur möglich, weil weltweit immer mehr Milliarden Euro nach renditeträchtigen spekulativen Anlagen suchten. Dieses wiederum war nur möglich, weil der private Reichtum in den vergangenen Jahren immens gewachsen ist. Diese Ursachendeutung von Gewerkschaften, tendenziell linken Parteien und sozialen Bewegungen wird auch in den Qualitätszeitungen, auch in der TAZ, auch auf dem Höhepunkt der Krisenbeschreibungen nur am Rande erwähnt.

5. Schlussfolgerungen der Autoren

I. Das journalistische System sollte anhand dieses Themas zu einer selbstkritischen Diskussion bereit sein und diese dann auch führen. Es sollte aus den erkannten eigenen Defiziten und den offenkundigen von anderen Akteuren in Politik und Wirtschaft eine große journalistische Aufgabe ableiten: die Debatte über dieses gesamtgesellschaftliche Versagen zu initiieren und ein nachhaltiges Forum dafür zu bieten. Ein wichtiger Punkt in dieser Debatte: Hat das heutige journalistische System überhaupt die Arbeits- und Produktionsbedingungen, die es benötigt, um seinen Aufgaben nachzukommen?

II. Es hat in unserer Gesellschaft nicht an kompetenten, prominenten und gut zugänglichen Warnungen vor den Risiken des Finanzmarktes gefehlt. Wie Redaktionen künftig mit kritischem Wissen umgehen, das sich in einer minoritären Lage befindet und vom Mainstream ignoriert oder abgelehnt wird, halten wir für die wichtigste Lernfrage zur Großen Spekulation.

III. Der Wirtschaftsjournalismus muss seinen Blick auf die Akteure, über die er berichtet, grundlegend verändern: Manager und Unternehmer sind natürlich auch Stimmen der Kompetenz. Aber zuerst verstehen sie sich als Vertreter eigener Interessen, als Öffentlichkeitsarbeiter im Dienste der eigenen Sache. Entsprechend müssen sie in den Medien auch präsentiert und bewertet werden. Es muss zur Regel werden, die Verflechtung von Interessen und die Verflechtung der Akteure in Interessen kontinuierlich offen zu legen.

IV. Der Journalismus sollte im Grundsatz bedenken, ob er nicht deutlich mehr Ressourcen auf die Arbeit des Erklärens und Analysierens verlagert zu Lasten der Ressourcen für das Ziel der Aktualität.

V. Das öffentlich-rechtliche System, das materiell und letztlich auch inhaltlich unter erheblich besseren Bedingungen arbeitet als das privatwirtschaftlich organisierte Mediensystem, sollte prüfen, ob es nicht erheblich mehr an Lasten übernehmen kann, kompetente aufklärerische journalistische Arbeit zu übernehmen.

6. Untersuchungsdesign I: Hintergrund der Studie

Es gibt im Wesentlichen vier Gründe für die Stiftung und die Autoren, dass diese Studie angefertigt wurde und vorgelegt wird.

a) Es handelt sich mit der schwerwiegendsten Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise der letzten 60 Jahre um ein gesellschaftliches Ereignis höchsten Ranges.

b) Finanzmärkte stellen mit Geld und Krediten Gesellschaft und Wirtschaft ein quasi-öffentliches Gut zur Verfügung. Damit hat die Finanzmarktbranche eine herausragende Bedeutung und muss deshalb per se unter besonders aufmerksamer Beobachtung des journalistischen Systems stehen; erst recht da diese Branche so selbstverständlich an Krisen leidet wie der Normalsterbliche im Herbst an Schnupfen.

c) Es gab von Beginn der Krise an eine Debatte über die Rolle der Massenmedien und der Qualität ihrer Arbeit. Die Studie soll diese Debatte befördern.

d) Diese Krise und die Auseinandersetzung über sie ist von grundlegender Bedeutung, da sich in ihr wie in einem Brennglas grundlegende gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen der vergangenen Jahrzehnte widerspiegeln bis hin zur Frage nach der Zukunft der Risikogesellschaft.

7. Untersuchungsdesign II: untersuchte Medien

Es sollten zwei Arten von Massenmedien untersucht werden:

a) Die herausragenden überregionalen Tageszeitungen, für welche die Themen Wirtschaft und Finanzen eine wichtige Rolle spielen und die mit Ausnahme der TAZ zudem personell, fachlich, finanziell und publizistisch so stark sind, dass sie eine qualitativ hoch stehende Arbeit leisten können.

b) Herausragende Medien, die vergleichbar gut ausgestattet sind und die direkt oder indirekt ein Millionen-Publikum informieren. Deshalb wurden die ARD-Formate „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ ausgewählt; die „Tagesschau“ erreicht in der Regel täglich zehn Millionen Zuschauer. Und deshalb wurde die „Deutsche Presseagentur“ ausgewählt, die mit ihren Angeboten fast alle anderen aktuellen Medien in Deutschland beliefert, vor allem auch die Regionalzeitungen. Es ist davon auszugehen, dass bei den Regionalzeitungen und weiteren regionalen und lokalen Medien die nationale und internationale Wirtschaftsberichterstattung wesentlich von DPA geprägt wird.

8. Untersuchungsdesign III: Ausgangsfragen und Auswertungen

Die Autoren gingen von drei erkenntnisleitenden Fragen aus:

  • hat der Wirtschafts- und Finanzjournalismus über die hier interessierenden Themenbereiche umfassend informiert?
  • lieferte er Orientierung?
  • wurde er seiner Funktion als Frühwarnsystem gerecht?

Die Autoren haben in dem Zeitraum von Frühjahr 1999 bis Herbst 2009 insgesamt 16 bedeutende Ereignisse ausgesucht und untersucht. Es wurde anhand dieser 16 Ereignisse die Berichterstattung der überregionalen Tageszeitungen „Handelsblatt“ (HB), „die tageszeitung“ (TAZ), „Süddeutsche Zeitung“ (SZ), „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) und „Financial Times Deutschland“ (FTD) – insgesamt 822 Artikel – ebenso untersucht wie die Berichterstattung von „Tagesschau“ (TS) und „Tagesthemen“ (TT) mit 141 Beiträgen und der Basisdienst der „Deutschen Presseagentur“ (DPA) mit 212 Meldungen (siehe S. 54 – 150 der Studie).

Es wurden zu weiteren fünf bedeutenden Ereignissen Fallstudien angefertigt (siehe S. 41 – 54 der Studie).

Mit sieben leitenden Redakteuren und drei Wissenschaftlern wurden Intensiv-Interviews geführt (siehe S. 151 - 226 der Studie).

In einem Literaturbericht werden alle wesentlichen Erkenntnisse über die Arbeitsbe-dingungen des Wirtschafts- und Finanzjournalismus und über die Themenbereiche Finanzmärkte, Finanzmarktkrise und Finanzjournalismus aufgearbeitet (siehe S. 227 – 265 der Studie).

Zu den Autoren:

Hans-Jürgen Arlt war Redakteur bei den Nürnberger Nachrichten, bevor er Pressesprecher und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit des DGB wurde. Er ist heute Kommunikationsberater und Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut in Berlin

Wolfgang Storz war Chefredakteur von „metall“ und zuletzt Chefredakteur der Frankfurter Rundschau. Er arbeitet heute als Publizist und Lehrbeauftragter an den Universitäten Kassel und Frankfurt

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Kontakt und Rückfragen:

Otto Brenner Stiftung Wilhelm-Leuschner-Straße 79 60329 Frankfurt am Main

Telefon: 069/6693-2808 Fax: 069/6693-2786

Die Studie kann bei der Otto Brenner Stiftung elektronisch bestellt werden und steht zum Download unter www.otto-brenner-stiftung.de sowie hier im Anhang als PDF-Dokument bereit