Schwarz-gelber Steuersenkungspopulismus

03.08.2009 / von Rudolf Hickel, Blätter für deutsche und internationale Politik, 8-2009

Ob Steuersenkung oder Schuldenbremse: Betrachtet man die wirtschaftspolitischen Vorschläge der vergangenen Wochen – die offenbar auch jene des Bundestagswahlkampfs sein werden –, kann man den Eindruck gewinnen, wir hätten die Krise bereits hinter uns. Nicht die Wirtschaftskrise wird zunehmend als Problem gesehen, sondern das Wachstum der Staatsschulden sowie die angeblich drohende Inflation. Doch weit gefehlt: Die eigentlichen Krisenfolgen werden uns erst nach den Wahlen erreichen. Völlig zur Unzeit wird gegenwärtig, insbesondere im CSU-geführten Bundeswirtschaftsministerium, bereits an einer Exit-Strategie aus der unabdingbaren Staatsverschuldung gearbeitet. Dies könnte verheerende Folgen haben. Gerade ein Ende der Konjunkturpolitik mittels staatlicher Ausgaben ließe die Schulden steigen. Ruhig bleiben, müsste deshalb eigentlich die Devise lauten – aber die zunehmend populistischen Steuersenkungsparolen überlagern derzeit alles.

Im anhebenden Wahlkampf liegen die Hauptursachen für die verheerend falsche Prioritätensetzung. Dabei zeigt bereits ein kurzer Blick, dass der Schuldensprung des letzten Jahres konjunkturell bedingt ist, dass es sich um die Folge der globalen Wirtschaftskrise handelt. Mitte Mai legte eine hochkarätige Gruppe von Finanzexperten ihre Schätzung der Steuereinnahmen bis 2013 vor. Demnach muss gegenüber der letzten Schätzung vom Herbst 2008 mit einem bedrohlichen Absturz kalkuliert werden. Ursprünglich sah der Bund für 2010 nur 6 Mrd. Euro Neuverschuldung vor, ab 2011 sollte gar die Nullverschuldung erreicht sein. Nach der Vorlage des Frühjahrsgutachtens der wirtschaftswissenschaftlichen Institute muss jetzt infolge der Krise mit einem Absturz des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um real sechs Prozent gerechnet werden. Allein durch die Anpassung der Konjunkturprognose reduzieren sich die erwarteten Steuereinnahmen um rund 30 Mrd. Euro. Insgesamt wird für 2009 mit einer Neuverschuldung von 86 Mrd. Euro gerechnet und für 2010 von weiteren 72 Mrd. Euro, die bis 2013 auf 46 Mrd. Euro zurückgehen sollen. Kurzum: Bis 2013 erwarten die Schätzer einen Steuereinbruch bei den öffentlichen Haushalten von über 316 Mrd. Euro.

Die Hauptursache dieses gigantischen Steuerlochs liegt auf der Hand. Bei der letzten Prognose im Oktober 2008 – also bereits nach Zusammenbruch von Lehmann Brothers – wurde für 2009 gemäß der Regierungsvorgabe viel zu optimistisch gerechnet, nämlich mit einem, wenn auch hauchdünnen, Zuwachs der gesamtwirtschaftlichen Produktion. Nun erleben wir eine globale Krise mit gewaltigen nationalen Steuerausfällen. Dazu kommen wachsende Krisenkosten, etwa für die schnell gestrickten Banken-Hilfspakete und für die Konjunkturprogramme. Allein durch die Rettungsmaßnahmen der Banken werden die öffentlichen Haushalte in dreistelliger Milliardenhöhe belastet.

Was ist angesichts der massiven Steuereinbußen zu tun? Grundfalsch wäre es, ob der Neuverschuldung in Panik zu verfallen. Verheerend wäre eine vorzeitige Exit-Politik, ein Schwenk zurück zur alten Sparpolitik – ohne Blick auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. In dieser Krise dürfen die Staatsausgaben grundsätzlich nicht gekürzt werden. Das ist die Lehre des letzten Jahrhunderts, nicht zuletzt aus der katastrophalen Notverordnungspolitik Heinrich Brünings in der Weltwirtschaftskrise am Ende der Weimarer Republik.

Der Staat in der Pflicht

Da die externe Nachfrage durch die globale Krise ausfällt (möglicherweise sogar unwiederbringlich) 1 , muss zur Stärkung der Binnenachfrage vorerst der Staat die gesamtwirtschaftliche Führungsrolle übernehmen – in erster Linie über öffentliche Investitionsprogramme, die, um ihre gesamtwirtschaftliche Wirkung zu verbessern, auch über Kreditaufnahme finanziert werden müssen. Ganz in diesem Sinne wurde mit dem am 1. Juli in Kraft getretenen zweiten Konjunkturprogramm wenigstens teilweise auch die Nachfrage gestärkt.

Kurzfristig trägt diese Expansionspolitik zur konjunkturellen Stärkung vor allem der lokalen Wirtschaft bei, was auch für höhere Steuereinnahmen sorgen wird. Langfristig profitieren künftige Generationen, etwa von der Finanzierung der Maßnahmen für eine bessere Umwelt und für Bildung.

Im Einzelnen können durchaus auch Steuersenkungen vernünftig sein, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das betrifft aber vor allem die unteren Einkommen, bei denen Lohnerhöhungen von drei Prozent durch die sogenannte Kalte Progression in der Regel sofort weggesteuert werden (der sogenannte Mittelstandsbauch ist davon weit weniger betroffen). Wenn die Nachfrage stimuliert werden kann, dann durch Senkung der Belastung bei den sozial Schwachen, insbesondere durch Senkung der Mehrwertsteuer. Die Anhebung des Normalsteuersatzes ab 2007 auf 19 Prozent sollte deshalb zurückgenommen werden. Schließlich war die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik bereits bei ihrer Einführung gesamtwirtschaftlich falsch und führte beim Handwerk und bei kleinen und mittleren Unternehmen zu erheblichen Kostenbelastungen. Bei einer Senkung um drei Prozent wären zwar Steuerausfälle im Umfang von rund 22 Mrd. Euro zu erwarten; diese würden durch staatliche Mehreinnahmen jedoch aufgefangen. Denn von einer Senkung des Normalsteuersatzes um drei Prozentpunkte profitieren über entsprechende Preissenkungen die Konsumenten, die mehr konsumieren – und somit die deutsche Wirtschaft und damit letztlich, über Steuereinnahmen, auch der Staat. Dagegen wird eingewendet, viele Unternehmen würden die Steuerentlastung durch den Staat nicht in reduzierten Preisen weitergeben. Angesichts der massiven Nachfragedefizite sowie der Konkurrenz gerade auch im Einzelhandel ist jedoch durchaus mit einer Weitergabe des reduzierten Steuersatzes in sinkenden Preisen zu rechnen.

Zwar ist gerade bei sozial Schwachen der Anteil von Gütern und Dienstleistungen, die mit dem ermäßigten Steuersatz von 7 Prozent belastet werden, vergleichsweise hoch. Aber bei einer nahezu kompletten Verausgabung der Sozialeinkommen für den Konsum wirkten auch Entlastungen bei den dann künftig nur noch mit 16 Prozent besteuerten Produkten. Entlastet würde auch das Handwerk, und Schwarzarbeit könnte zurückgedrängt werden. Wenn die Handwerksfirma auf der Rechnung nicht mehr 19 Prozent, sondern nur noch 16 Prozent Mehrwertsteuer einfordern muss, stärkt dies die Unternehmen. Schließlich profitieren vor allem die kleinen und mittleren Zulieferer, die die Mehrwertsteuererhöhung ab 2007 kaum über die Preise an die monopolistischen Abnehmerfirmen, etwa der Automobilproduktion, weitergeben konnten.

Das deutsche Mehrwertsteuersystem gilt weltweit als vergleichsweise verteilungsgerecht. Verteilungspolitisch würden durch eine Entlastung vor allem die Einkommensschwachen gestärkt – mit positiven Folgen für die Gesamtnachfrage: Denjenigen, die alles in den Konsum stecken, muss man etwas geben, den anderen, Besserverdienenden, hingegen sollte nicht nur in Zeiten der Krise eher etwas zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben genommen werden. Deshalb sind die insbesondere in der Union regelmäßig aufkommenden Debatten über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer regelrecht absurd. Dadurch wird die reale Kaufkraft belastet und das angestrebte Ziel der Haushaltskonsolidierung verfehlt. Diejenigen hingegen, die über Jahre von Steuersenkungen profitiert haben, sollten jetzt etwas an die Gesellschaft zurückgeben. Deshalb sollten Steuererhöhungen bei den Spitzenverdienern und Vermögenden zur Finanzierung staatlicher Aufgaben durchgesetzt werden. Steuererhöhungen müssten am Prinzip der ökonomischen Leistungsfähigkeit ansetzen: höherer Spitzensteuersatz, höhere Erbschaft- und Schenkungsteuer, Vermögen- und Börsenumsatzsteuer, wie von SPD und Linkspartei vorgesehen. Die Frage bei alledem ist nur: Wo liegt die Schmerzgrenze, ab der die Steuer wirtschaftsschädlich wirkt?

Voodoo-Ökonomie

Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass die Entlastung der Unternehmen aufgrund ausbleibender Wachstumswirkung lediglich die Staatsschulden nach oben getrieben hat. Deshalb sind generelle Steuersenkungen mit dem Schwerpunkt auf die Unternehmen absurd – zumal insbesondere bei der FDP nicht einmal eine Gegenfinanzierung vorgesehen ist. Wer damit wirbt, handelt schlicht haushaltspolitisch unverantwortlich – und bereitet den nächsten Wahlbetrug vor. Steuersenkungen mit dem Ziel, über mehr Wirtschaftswachstum höhere Steuern zu erzielen, sind eine Form der „Voodoo-Ökonomie“, denn die Selbstfinanzierungseffekte treten nicht oder nur erheblich schwächer als prognostiziert ein (wie selbst der frühere Bundesfinanzminister Theo Waigel inzwischen eingesteht).

Dauerhaft muss die Finanzierung öffentlicher Aufgaben über die stärkere Belastung der Einkommensstarken und Vermögenden erfolgen. Die Erhöhung des Spitzensteuersatzes ist dringend erforderlich. Daher sollten sich die im Bundestag vertretenen Parteien bereits jetzt darauf einigen, nach der Bundestagswahl ab 2010 den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer generell auf 48 Prozent zu erhöhen. Immerhin lag er noch vor wenigen Jahren bei 53 Prozent. Wer wollte da behaupten, dass eine ohnehin moderate Erhöhung in Zeiten der Krise unzumutbar wäre?

Sofort die Mehrwertsteuer zu senken und später die Einkommensteuer zu erhöhen, ist kurz- und mittelfristig ein probates Mittel zur Stärkung der Binnenwirtschaft. Ergänzt werden sollte diese Steuerpolitik durch ein Zukunftsinvestitionsprogramm, das der Wirtschaft durch die Realisierung öffentlicher Investitionen in die Infrastruktur Produktionsaufträge verschafft. Auch Sozialleistungen, insbesondere der Hartz-IV-Regelsatz, sollten als Teil des Konjunkturprogrammes erhöht werden.

Insgesamt hängt die Bewertung der Neuverschuldung stets von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ab. Daraus folgt, dass die Finanzpolitik die wirtschaftliche Entwicklung stärken muss – gerade in Zeiten der Krise. Eine voreilige Exit-Strategie in der Absicht, die Neuverschuldung durch Steuererhöhungen oder die Kürzung von Staatsausgaben abzubauen, hätte gegenteilige Folgen: Am Ende fällt die Staatsverschuldung gemessen am BIP höher aus, weil die Wirtschaft schrumpft und schließlich sinkende Steuereinnahmen die Neuverschuldung nach oben treiben.

Das bekannteste Beispiel für diese Fehlentwicklung durch eine voreilige Exit-Strategie ist Japan: Zu Beginn der 90er Jahre platzte dort die Immobilien- und Aktienblase. Die Politik reagierte viel zu spät mit konjunkturstabilisierenden Nachfrageprogrammen. Erst nach sieben Jahren zeichnete sich eine Erholung ab, aber die Staatsschulden waren auf knapp 100 Prozent des BIP gewachsen. Deshalb wurde, im Rahmen einer Exit-Strategie, die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte angehoben. Die Folge war, dass sich die Deflation rasant ausbreitete. Binnen drei Jahren stieg die Schuldenquote von 93 Prozent vor auf 135 Prozent nach der Steuererhöhung. Mit einer aktiven Expansionsstrategie des Staates hätte diese Schuldenfalle vermieden werden können.

Hier zeigt sich, was auch für Deutschland gilt: Bei der Finanzpolitik müssen stets die Rückwirkungen auf das Wirtschaftswachstum berücksichtigt werden. Die Exit-Strategie ist der gescheiterte Versuch einer kameralistischen Finanzpolitik, die die Einflüsse auf das Wirtschaftswachstum ignoriert. Soeben hat Christina Romer, US-amerikanische Starökonomin und Obama-Beraterin, festgestellt, dass auch die New-Deal-Politik Franklin D. Roosevelts zu früh, nämlich bereits 1937, abgebrochen wurde und deshalb nicht ihre ganze Kraft entfalten konnte.

Gefahr von Deflation statt Inflation

Der Kampf gegen die Staatsneuverschuldung wird regelmäßig mit der angeblich grassierenden Inflationsgefahr begründet: Im Zusammenspiel von expansiver Geldpolitik und Neuverschuldung entstünde ein gigantisches Inflationspotential. Durch diese Behauptung wird davon abgelenkt, dass wir uns in Wirklichkeit in einer Phase der Deflation befinden: Was droht, ist Preisverfall auf breiter Front und damit Gewinnverfall mit nachfolgendem Investitionsrückgang. Selbst wenn es nach Bewältigung der Krise aufgrund der größeren sich um Umlauf befindlichen Geldmenge zu einer sich beschleunigenden Inflation kommen sollte, wäre diese schnell mit den Instrumenten der Geldpolitik zu bekämpfen. Positiv ausgedrückt: Hätten wir heute eine Inflationsrate von zwei Prozent, die die Europäische Zentralbank als obere Grenze akzeptiert, dann hätten wir die derzeitige Rezession bereits überwunden und wieder ausreichende Nachfrage gegenüber dem vorhandenen Angebotspotential.

Es bleibt also dabei: Jetzt stellt sich die Aufgabe, mit aktiver Finanzpolitik die Wirtschaftskrise zu überwinden und zu einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung zu finden. Eine Exit-Strategie in Deutschland zum Abbau der Neuverschuldung würde die Schuldenfalle vergrößern und nicht verringern. Künftigen Generationen würde damit eine schwere Last aufgebürdet.

Zur Stärkung des Wirtschaftswachstums bedarf es deshalb weiterhin auch schuldenfinanzierter Programme. Ein Zukunftsinvestitionsprogramm gerade in den Feldern Bildung, Wissenschaft und ökologischer Umbau nützt künftigen Generationen. Staatliche Ausgabenkürzungen würden dagegen die kaum in Gang gekommene Konjunktur abrupt wieder abwürgen. Am Ende stiege der Anteil der Staatsschulden am BIP wieder an, würde man wegen des anhaltenden Steuerschwundes Leistungskürzungen vornehmen. Eine Spirale nach unten wäre die Folge, mit einem immer schwächeren Staat, der allenfalls als Lückenbüßer taugt.

Ein wirklicher Ausstieg aus der Schuldenkrise ist deshalb nur möglich, wenn man die Wirtschaftskrise nachhaltig bekämpft. Die beste Schuldenbekämpfung ist und bleibt jedoch die mittelfristige Generierung neuer Einnahmen. Die Wirtschaftskrise verlangt deshalb unkonventionellen Mut zu einer adäquaten Antikrisenstrategie. Denn wir sind noch lange nicht über den Berg.

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(1) Vgl. Tilman Santarius, Nie wieder Exportweltmeister, in: „Blätter“, 7/2009, S. 9-12.