Flüchtlinge, Kommunalfinanzen und die Euro-/EU-Krise – Herausforderungen für Linke im Jahr 2016

Von Axel Troost

23.12.2015 / 23.12.2015

Das Flüchtlingsthema wird auch im nächsten Jahr das zentrale Thema bleiben. Die Zahl der Flüchtlinge, die aus der Türkei in die Europäische Union kommen, ist zuletzt deutlich gesunken. Statt täglich 6.970 Flüchtlinge im September und Oktober sind seit Anfang Dezember im Schnitt nur noch 3.731 Flüchtlinge pro Tag nach Griechenland eingereist. Entscheidend ist meiner Bewertung nach das Verständnis von den Hintergründen der Fluchtwelle nach Zentraleuropa. Welche Antworten die Parteien darauf finden, wird über die Machtfrage innerhalb der Parteien und in der deutschen Politik überhaupt entscheiden.

Der Auslöser für den starken Anstieg der Zufluchtsuchenden im Jahr 2015 war die plötzliche Kürzung der humanitären Hilfe. Schon im Jahr 2014 musste das UN-Welternährungsprogramm seine Unterstützung für Flüchtlinge in Syriens Nachbarländern auf einen Schlag um dreißig Prozent reduzieren. Das vermittelte den Syrern den Eindruck, die internationale Gemeinschaft lasse sie im Stich.

Die UN-Hilfegesuche wurden nur zu fünfzig Prozent finanziert. Nachdem so viele Flüchtlinge nach Europa gekommen sind, hat sich die Finanzausstattung etwas verbessert. Aber das Syrien-Programm ist immer noch nur zu 54 Prozent finanziert. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat die Mitarbeiterzahl vor Ort reduzieren müssen, die Vorräte in den Nachbarländern nicht wieder aufgefüllt und sämtliche Programme gestrichen, die nicht das unmittelbare Überleben der Menschen betreffen. So können in Jordanien mittlerweile wieder alle Personen von 30.000 Familien das Äquivalent von rund einem Dollar am Tag erhalten.

Die massive Unterfinanzierung wurde von Beginn an nicht ernst genommen. Der Syrien-Konflikt tobte immer weiter und trotzdem wurde kein richtiger Versuch unternommen, die Staaten zusammenzubringen, die Einfluss auf die Kriegsparteien haben. Heute gibt es größeres Interesse diese Staaten zusammenzubringen, um den Krieg zu beenden. Auch die humanitäre Krise wurde nicht ernst genommen, weder in Syrien noch in den Nachbarländern. Würde Europa vereint handeln, wäre die Krise besser handhabbar. Dies wäre ein erster Schritt die Fluchtursachen anzugehen.

Insgesamt bleibt der aktuelle Halbjahresbericht des UNHCR zum Jahresende zwiespältig. Die weltweite Anzahl an Flüchtlingen, die im Vorjahr bei 19,5 Millionen lag, überstieg Mitte 2015 mit 20,2 Millionen Menschen zum ersten Mal seit 1992 die 20-Millionen-Marke. Die Zahl der Asylanträge stieg mit 993.600 Anträgen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 78 Prozent. Zudem vergrößerte sich die Zahl der Binnenvertriebenen um zwei Millionen auf geschätzte 34 Millionen Menschen. Der aktuelle Bericht umfasst nur jene Binnenvertriebene, die UNHCR unterstützt. Die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen weltweit wird erst Mitte 2016 verfügbar sein. Aufgrund dieser Zahlen fürchtet UNHCR, dass 2015 erstmals weltweit mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht sein werden. Knapp eine Million Flüchtlinge und Migranten haben in diesem Jahr bereits das Mittelmeer überquert. Die Konflikte in Syrien und anderswo verursachen nach wie vor unvorstellbares menschliches Leid.

In Folge der weiter ansteigenden Flüchtlingszahlen wird auch der Druck auf die Aufnahmeländer immer größer wird. „Werden nicht entsprechende Maßnahmen getroffen werden, besteht die Gefahr, dass Flüchtlinge auf Ablehnung stoßen und für politische Zwecke instrumentalisiert werden“, mahnt das UNHCR.

Schauen wir auf Europa und seine beteiligten nationalen Regierungen und Institutionen, dann ist unübersehbar, dass die politischen Akteure die Warnung des UNHCR weiterhin nicht ernst genug nehmen. Täglich erreichen aus der Türkei noch immer knapp 4.000 Menschen pro Tag Griechenland. Der leichte Rückgang seit Ende November sei nicht zwingend auf Maßnahmen von türkischer Seite zurückzuführen, heißt es in dem Bericht Luxemburgs, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft ausübt.

Angesichts dieser Prognosen sind die Ergebnisse des jüngsten EU-Gipfels ein Ausdruck der Krise des europäischen Projektes selbst. Schon in ihrer Regierungserklärung hängte die Kanzlerin die Erwartungen tiefer: Deutschland werde sich weiter für einen dauerhaften und verbindlichen Mechanismus zur Verteilung der Flüchtlinge in Europa einsetzen. Der Gipfel der EU-Mitgliedstaaten hat aber keinen Fortschritt gebracht.

Es ist auch heute noch nicht gesichert, wie die EU-Zusagen von drei Milliarden Euro für die Türkei eingelöst werden. Die EU und die türkische Regierung hatten Ende November vereinbart, dass die Türkei im Gegenzug für Visa-Erleichterungen für türkische Bürger mit Milliardenhilfen den Zustrom von Migranten eindämmt. So bleibt die bittere Erkenntnis, dass auf EU-Ebene die Elemente der Abschottung und Re-Nationalisierung zunehmen. „Es ist im Interesse aller, die Zahl der Menschen, die in Europa Zuflucht suchen, zu reduzieren“, so Merkel. Heißt in der Konsequenz: Sozialdemokraten, Christdemokraten, Liberale und Grüne im Europaparlaments haben einem verstärkten Schutz der europäischen Außengrenzen zugestimmt. Nach dem Plan der EU-Kommission soll Frontex zu einer Küsten- und Grenzschutzbehörde ausgebaut werden, die an allen Außengrenzen der EU eingesetzt wird, notfalls auch gegen den Willen der betroffenen Staaten. „Natürlich berührt der Grenzschutz ganz wesentliche Fragen nationalstaatlicher Souveränität“, räumte Merkel ein. Es sei aber „ermutigend und richtig“, dass diese Diskussion jetzt geführt werde. Unsere Kritik bleibt: Abschottung, Obergrenzen und eine Verschärfung des repressiven Asylsystems sind keine humanistische Lösungen.

Trotz all dieser wenig ermutigenden Entwicklungen dürfte die Finanzierung der UN-Hilfsorganisation doch verbessert werden. Die Finanzierung der Flüchtlingsmigration bleibt politisch aber weiter umkämpft. Aktuell gehe ich von über einer Million Flüchtlingen in diesem Jahr aus und nehme an, dass diese Anzahl über zusätzlich 750.000 Personen im Jahr 2016 und 500.000 weitere Flüchtlinge im Jahr 2017 merklich zurückgehen kann. Auf die öffentlichen Haushalte werden mit Sicherheit höhere Belastungen zukommen. Solange die konjunkturelle Entwicklung stabil bleibt, sind die öffentlichen Finanzen kein Problem.

94 Prozent der größten norddeutschen Kommunen bewältigen die deutlich gestiegenen Kosten für Flüchtlinge in diesem Jahr ohne zusätzliche Kredite. Auch alle norddeutschen Bundesländer außer Bremen geben an, dass sie 2015 bisher keine neuen Kredite für die hohen Mehrkosten der Flüchtlingshilfe aufnehmen mussten. Die Kosten konnten vielerorts durch höhere Steuereinnahmen, Haushaltsreserven oder geringere Zinsbelastungen finanziert werden. In 27 Prozent aller Kommunen entstanden oder vergrößerten sich allerdings Haushaltsdefizite. Ein Großteil der Befragten äußerte Sorgen mit Blick auf das kommende Jahr. Es bleibt also die Aufgabe für eine weitere Verbesserung der Finanzausstattung für die Städte und Gemeinden einzutreten.

Ich wünschte mir, dass DIE LINKE offensiv dafür eintritt, dass die deutsche Regierung statt den Ausbau der repressiven Elemente gegenüber den Blockaden vieler EU-Staaten durchzusetzen, für die Durchsetzung des Resettlement-Programms entsprechende Entschlossenheit aufbringt und selbst in die Vorleistung tritt, auch wenn dies 2016 eine weitere Herausforderung darstellt. Nur hier liegt eine Perspektive, um eine Steuerung der Fluchtbewegung zu erreichen.

Die Diskussion, wie Bund und Länder in Zeiten der Schuldenbremse und des Fiskalpakts auf die daraus folgenden finanzpolitischen Erfahrungen reagieren werden, hat im Grunde schon begonnen. Zudem ist die Lage in der Eurozone weiterhin fragil. Denn natürlich hat die Austeritätspolitik der Vergangenheit in einigen Ländern durch eine gesunkene volkswirtschaftliche Wertschöpfung und gestiegene Arbeitslosigkeit dauerhafte Mehrausgaben ausgelöst. Dies wird sich bei einem ungünstigeren konjunkturellen Verlauf noch stärker rächen.

Neben die finanzpolitischen Auswirkungen der Flüchtlingsmigration treten die europäischen Herausforderungen. Diese sind entgegen der öffentlichen Wahrnehmung nicht geringer geworden. Das gegenwärtige Handeln der einzelnen Regierungen in Europa macht deutlich: Die Divergenzen innerhalb der EU haben ihre Ursache nicht in der massiven Zuwanderung. Grund für die wachsenden Divergenzen unter den Ländern sind die ökonomisch-finanziellen Zentrifugalkräfte. Der Junckerplan und die Maßnahmen zur Verschärfung der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsländer verstärken die Prozesse der sozialen Spaltung.

In der Wirtschafts- und Schuldenkrise der vergangenen Jahre sind Kinder und Jugendliche in der Europäischen Union die größten Verlierer. 26 Millionen junge Menschen sind nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Die Gefahr eines sich verschärfenden Verteilungskampfes zwischen den (nicht nur) jungen einheimischen Abgehängten und den Zufluchtsuchenden wird durch die Politik vergrößert.

Beim EU-Gipfel wurde einmal mehr klar, dass es in der Europäischen Wirtschaftsunion keinen umfassenden Ansatz zur Überwindung der Stagnation und Spaltung gibt. Alle wollen einen Austritt Großbritanniens im Prinzip vermeiden. Aber die Verständigung auf eine wirtschaftspolitische Konzeption fehlt. Von den vier Kernforderungen Großbritanniens ist eine bezeichnenderweise zum Knackpunkt mutiert: Die rapide gestiegene Zuwanderung nach Großbritannien soll gedrosselt werden, indem Immigranten aus dem EU-Raum in den ersten vier Jahren bestimmte Sozialleistungen nicht mehr erhalten sollen. Noch sehen die Europäer in der Mehrheit darin eine Verletzung des Prinzips der Personenfreizügigkeit. Kein Mitgliedsstaat will einen „Brexit“, also einen Austritt der Briten aus der EU, aber die Lösungsvorschläge blieben nebulös.

Gleichermaßen bleibt auch der Umgang mit den Krisenländern wie Griechenland, Portugal und Spanien durch die Sparpolitik bestimmt. Die Linksregierung in Athen kämpft nach wie vor gegen die weitere Schrumpfung der Wirtschaftsleistung. Ziel ist ein kurzfristiger Anstieg des realen Wirtschaftswachstums auf 1,75 Prozent. Je höher das Wirtschaftswachstum, umso eher lassen sich tragfähige öffentliche Finanzen in Griechenland erreichen. Immer weniger Menschen in Griechenland haben ein eigenes Erwerbseinkommen, immer mehr leben von Zahlungen aus den Sozialhaushalten, wie Renten und Arbeitslosengeld, oder von Zuwendungen ihrer Familie. Und im Rahmen des Sparkurses, den die griechische Regierung auf Weisung der internationalen Geldgeber verfolgen muss, stehen weitere Einschnitte bevor. Die Zahlen sind alarmierend: Von den 10,9 Millionen Griechen sind knapp 4,8 Millionen im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 65 Jahren. Erwerbstätig sind aber nur 3,6 Millionen. Die Zahl der Arbeitslosen beläuft sich auf knapp 1,2 Millionen, die der Rentner und Pensionäre auf annähernd 2,7 Millionen. Unter dem Strich haben also von den knapp elf Millionen Einwohnern des Landes 7,3 Millionen kein eigenes Erwerbseinkommen. Das aktualisierte Programm gegen die humanitäre Krise haben die Gläubiger zum Anlass genommen, die fällige Tranche von 1 Mrd. Euro aus dem dritten Memorandum auszusetzen.

Der Wiederaufbau der Krisenländer muss mit einer grundlegenden Reform der Währungsunion verknüpft werden, die die einseitige – und für die Beschäftigten in Deutschland und die Ökonomien der Krisenländern gleichermaßen negative – Ausrichtung der deutschen Wirtschaft auf den Export überwinden hilft. Das kann nur durch eine sehr viel stärker koordinierte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik erreicht werden – und das setzt notwendig die grundsätzliche Bereitschaft voraus nationale Politikspielräume zugunsten gemeinsamer europäischer Ziele zurückzunehmen. Europa und vor allem Deutschland müssen die neoliberale Konsolidierungspolitik aufgeben und die Herausforderung wachsender Flüchtlingszahlen zu einer europaweiten Investitionsoffensive nutzen.

DIE LINKE fordert daher für Deutschland ein Sofortprogramm in Höhe von 25 Mrd. Euro, um die Handlungsfähigkeit des Staates in seinen originären Aufgabenbereichen wieder herzustellen und einen generellen Ausbau sozialer Dienstleistungen und öffentlicher Infrastruktur für alle zu ermöglichen:

  • Soforthilfe an die Kommunen/Länder zur Erstversorgung der Flüchtlinge: 10 Mrd. Euro;

  • Bundessonderprogramm sozialer Wohnungsbau mit 500 000 Wohnungen in Mischnutzung für Menschen mit geringen Einkommen und Flüchtlinge in Höhe von 8 Mrd. Euro;

  • einen Ausbau arbeitsmarktpolitischer Qualifizierungs- und Integrationsproramme sowie ein Programm „Gute öffentlich geförderte Beschäftigung“ im Umfang von 200.000 Stellen; eine Gesundheitskarte für alle Asylsuchenden sowie Zugang zu sämtlichen Leistungen, die auch gesetzlich Krankenversicherten zustehen; kostenfreie und qualitativ hochwertige freiwillige Sprachkurse; Bundeszuschuss für Bildung (Schulen, Kitas); Ausbau sozialer Beratungsstellen und zusätzliches Personal und Fachleute in den öffentlichen Verwaltungen (7 Mrd. Euro).

Mittelfristig gilt es, die Kommunen nicht im Regen stehen zu lassen. Die Kosten für das gesamte Asylverfahren müssen vom Bund übernommen werden. Die Erstaufnahme Geflüchteter ist komplett vom Bund zu tragen. Das Geld dafür ist vorhanden. Auf mittlere Sicht muss der Bund die Kosten für die Unterbringung von Flüchtlingen vollständig übernehmen. Der Bund muss zudem Bundesimmobilien unentgeltlich für Wohnzwecke zur Verfügung stellen. Um dies zu finanzieren, brauchen wir kurzfristig neue Kreditaufnahmen der öffentlichen Hand – derzeit verursachen diese so gut wie keine zusätzlichen Zinsausgaben. Diese Kredite müssen mittelfristig gedeckt werden durch eine verbesserte Einnahmesituation aus einer entsprechenden Besteuerung hoher Unternehmensgewinne, Vermögen und Einkommen.

Angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen im kommenden Jahr sollte aus meiner Sicht DIE LINKE diese Themen der Bekämpfung der sozialen Spaltung ins Zentrum ihrer Politik rücken. Die Umfragen der jüngsten Zeit zeigen, dass der Aufwind des Rechtspopulismus zwar seine Stärkung durch die Flüchtlingskrise erhält, entscheidend aber sind die wahrgenommenen gesellschaftlichen Zustände wachsender sozialer Ungleichheit, die den Nährboden des Rechtspopulismus bilden. Dem Anwachsen der AfD auf mittlerweile zweistellige Prozentzahlen ist mit den klassischen Reflexen des Antifaschismus nicht bei zu kommen. Es wird auch darauf ankommen, ob es gelingt in der gesellschaftspolitischen Linken von der Mitte die Debatte darüber zu intensivieren, mit welchen Reformkräften in diesem Land der sich abzeichnenden Rechtsverschiebung entgegengetreten werden soll. Ich werbe dafür, diese Debatte offensiv in die Milieus der Sozialdemokratie und Grünen hineinzutragen.

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