Die Krise – nichts gelernt aus der Geschichte?

Die Aufgabe der Linken ist gigantisch. Mit Sektierertum ist sie nicht zu meistern.

19.06.2009 / Von Ulrich Maurer, Clara, 18. Juni 2009

Zurzeit findet in den Wirtschaftsblättern und unter Konjunkturexperten eine Debatte über die Aussichten der Jahrhundertkrise statt. Der Streit geht um drei Buchstaben: V, U oder L. V bedeutet: Nach der tiefen Krise folgt ein umso stärkerer steiler Aufschwung. U heißt: Nach einer längeren Stagnation folgt eine kräftige Aufwärtsbewegung. L steht für das japanische Beispiel der »verlorenen Dekade«. In jüngster Zeit geht der Trend der Experten in Richtung »Badewanne«, das heisst eines lang gezogenen U. Alle diese Auguren leiden unter Gedächtnisverlust. Sonst hätten sie den schlimmsten Fall mit bedacht. Die Weltwirtschaftskrise, die 1928/29 begann, endete erst mit dem 2. Weltkrieg.

Zwar knallen in den internationalen Börsen schon wieder die Sektkorken ob eines Kursanstiegs der Indizes um 50 Prozent. Zwar liest man in den Gazetten Überschriften wie: »An den Devisenmärkten geht wieder die Post ab« (Financial Times Deutschland) oder »Rückkehr der Renditejäger« (Handelsblatt). Der berühmte Ausspruch Walter Ben-jamins »Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe«, ist in linken Magazinen wieder häufiger zu finden.

Verdummung bis zum Wahltag

Die Rückwirkung der Finanzkrise auf die Realwirtschaft war ein wesentlicher Beschleuniger beim Ausbruch der weltweiten Wirtschaftskrise. Die Phase der Rückwirkung des dramatischen Umschlags von Wachstum in Schrumpfung auf die Finanzsphäre steht erst bevor. Nach den zweitklassigen Immobilien, den Kreditkarten und den Auto- und Bildungskrediten werden nun immer stärker die Unternehmenskredite und -anleihen von der Abwärtsspirale erfasst. Das trifft wiederum die Banken. Der Präsident der Finanzaufsicht Sanio warnte Ende Mai: »Wir sind ziemlich sicher, dass unsere Banken in ein paar Monaten die volle Wucht der schärfsten aller bisherigen Rezessionen in ihren Kreditportfolios spüren werden.«

Wieso ist die Zukunft der Krise wichtig für uns? Die unruhigen Zeiten sind mitnichten vorbei. Massenentlassungen größeren Ausmaßes stehen ins Haus. In diesem und im folgenden Jahr muss allein der Bund neue Schulden von knapp 50 bzw. 90 Milliarden Euro machen. Die Regierung der Großen Koalition hat nur noch ein Ziel: Den Wahltag zu erreichen, bevor die Menschen erfassen, was ihnen bevorsteht. Dafür werden Abermilliarden auf dem Altar der sogenannten Finanzindustrie verbrannt, werden Bürgschaften in dreistelliger Milliardenhöhe gegeben, die Bilanzen mit Bad Banks frisiert.

Vor allem aber wird dem Staatsvolk über eine Medienindustrie gleichgeschaltet mitgeteilt, dass die Erholung nahe sei. Es solle fröhlich sein und konsumieren, jedenfalls soweit es dazu noch fähig und noch nicht unter die Räder der Agenda 2010 geraten ist. Letztere sollen dahinsiechen, aber sich um Gottes Willen nicht erheben. Ansonsten, äußerste mediale Bestrafung für diejenigen, die auch nur das Wort soziale Unruhe in den Mund nehmen.

Machen wir uns nichts vor: Der Neoliberalismus ist nicht nur eine spezifische Variante der Organisation der Ökonomie. Er hat tiefste Spuren im Alltagsbewusstsein eingegraben, nicht zuletzt bei den Menschen »ganz unten«. Auch bei uns existiert eine »Passivitätskrise«, von der der amerikanische Soziologe Richard Sennett spricht. Das jetzt aufgeflogene weltweite Schwindelsystem im Kreditwesen, die Welle von Korruption und Bespitzelung in deutschen Konzernen treiben die Menschen nicht per se zum Barrikadensturm gegen das System. Solche Entwicklungen treiben viele eher in die Apathie oder aber gegen die »Parteiendemokratie«, das »Politikergesindel«, die Migrantinnen und Migranten, d.h. nach rechts.

Sanfter Faschismus –und dann?

Richard Sennett hat auch den Begriff des »sanften Faschismus« geprägt, der sich doppelt manifestiere: in der Konzentration von immer mehr Macht in Wirtschaft und Politik, personifiziert hierzulande im Lenkungsausschuss des sogenannten SoFFin. Dort wird am Haushaltsrecht des Parlaments vorbei über die Vergabe von Hunderten von Milliarden an die Banken entschieden. Aber auch in der Sündenbock-Mentalität in sogenannten Unterschichten, die den Menschen anderer Herkunft oder Hautfarbe die Schuld für ihre Misere geben.

Formen des sanften Faschismus sind en vogue. Im niederländischen Parlament ist die rechtspopulistische Partij voor de Vrijheid zur stärksten Fraktion aufgestiegen. In Österreich hat die BZÖ bei den Parlamentswahlen letztes Jahr ihren Anteil verdreifacht und die FPÖ ihren um zwei Drittel erhöht. In Ungarn marschiert der Faschismus wieder uniformiert. In Großbritannien hat der beispiellose moralische Niedergang der neoliberal gewendeten Labour Party nur die Rechte gestärkt.

Bei uns lässt der parlamentarische Aufstieg noch auf sich warten. Dafür durchdringt er zunehmend die Alltagskultur. Das Brutalo-Kampfspiel »Ultimate Fighting« steht mit der Massenveranstaltung im Juni in Köln vor dem Durchbruch. Beim Erstverkaufstag der Neuauflage des Computergewaltspiels »World of Warcraft« fand ein Massenansturm auf die Geschäfte statt.

Auch DIE LINKE ist leider nicht gefeit vor der Wiederholung eigener Fehler. Wir müssen das Sektierertum jeglicher Couleur überwinden. Zu viele zerlegen sich an der NATO- oder Israel-Frage oder konzentrieren sich auf den Angriff gegen den »Standortkorporatismus« und den National-Keynesianismus der Gewerkschaften, die zurzeit natürlich nach jedem Mittel greifen, um Arbeitsplätze vermeintlich oder tatsächlich zu retten. Auch die Gewerkschaften haben die Ära Schröder/Fischer nicht unbeschadet überstanden, tragen die Spesen neoliberaler Prägung und Entmobilisierung. Aber ohne die Unterstützung der Gewerkschaften geht hierzulande nichts nach links.
Die Behauptung, dass nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus im demokratischen Sozialismus der Sieg der Humanität kommen wird, ist zwar eine reale Hoffnung, aber keine Anleitung für die Bewältigung der aktuellen Ängste, Kämpfe und Ohnmachtsgefühle des Alltagslebens. Die gnadenlose Fähigkeit des Sektierertums, den Kampf in der Klasse zu organisieren, anstatt die Kräfte zur sozialen Verteidigung zu bündeln, ist eine reale Bedrohung.

Wirksame soziale Verteidigung heißt heute: Kein Geld für die Aufrechterhaltung des Kasinobetriebs der Finanzindustrie, stattdessen Verstaatlichung des Bankensektors nach schwedischem Vorbild, um den Kreditfluss und die Geldversorgung zu
gewährleisten. Rettung der Realwirtschaft– aber nur um den Preis der Übergabe von Eigentumsrechten an Belegschaften und Staat. Erhöhung der Massenkaufkraft, der staatlichen Investitionstätigkeit und der Beschäftigung im öffentlichen Sektor, finanziert durch Umverteilung von oben nach unten durch ein gerechtes Steuersystem. Kampf um jeden Job mit Mobilisierung
und Arbeitskämpfen bei gleichzeitiger Einleitung einer grundsätzlichen Korrektur in der Industriepolitik: Weg von der extremen Exportabhängigkeit, Stärkung der Klein- und Mittelbetriebe, Einleitung einer wirklichen Energiewende. Demokratisierung und Transparenz statt Herrschaft der Finanzoligarchen und ihrer politischen Helfer. Entschiedener Widerstand gegen den Überwachungsstaat. Verteidigung der Verfassung und Entwicklung ihrer Grundidee vom sozialen Rechtsstaat. Kampf gegen alle Formen der Militarisierung der Politik.

Die Aufgabe der LINKEN ist gigantisch. Ohne Solidarität und ohne das Bündnis mit allen Menschen, die den Vorrang der Werte vor dem Profit wollen, ist sie nicht zu meistern. Sonst droht uns die Wiederholung der Geschichte.