Deutsche Bahn: Ausverkauf auf Raten

05.06.2008 / Von Tim Engartner, BLÄTTER für deutsche und internationale Politik 6-08
Tim Engartner, Die Privatisierung der Deutschen Bahn, 2008, ISBN 978-3-531-15796-2

Hartmut Mehdorn, dessen Schreibtisch Bulle und Bär als Symbol für die Börse zieren, scheint am Ziel. Das von der großen Koalition erarbeitete Privatisierungskonzept, wonach 24,9 Prozent der Anteile an der Deutschen Bahn AG (mit Ausnahme der Infrastruktur) an die Börse gebracht werden sollen, missachtet den übergroßen Mehrheitswillen der Bevölkerung, wird aber wohl dennoch die Zustimmung des Parlaments finden. Zwischen fünf und acht Mrd. Euro wird der Bund mit dieser (Teil-)Privatisierung erlösen, wobei ein Großteil der Einnahmen für die Eigenkapitalerhöhung der DB AG verwendet werden soll. Mit dem nun gefundenen Kompromiss, der vorgeblich allen wesentlichen Einwänden der Privatisierungskritiker Rechnung trägt, droht dem letzten großen deutschen Staatskonzern in Wahrheit der schrittweise Ausverkauf.

Wer glaubt, dass es dauerhaft bei der nun beschlossenen Minderheitsbeteiligung privater Investoren an der DB AG bleiben wird, blendet zum einen die Äußerungen der Verkehrspolitiker von Union und FDP aus: Vom „Einstieg“ war dort ebenso die Rede wie von einem „Schritt in die richtige Richtung“.[1]

Zum anderen lässt ein Blick in die Privatisierungshistorie erkennen, weshalb der Beschluss den Ausverkauf auf Raten bringen wird: Die einstigen Staatsunternehmen Volkswagen, Preussag (heute TUI AG), VEBA und VIAG (nunmehr EON AG) wurden ebenso Schritt für Schritt privatisiert wie die Deutsche Lufthansa, die 1966 am Kapitalmarkt notiert, 1994 mehrheitlich in private Hände überführt und 1997 schließlich vollständig an private Investoren veräußert wurde.

Still und leise vollzog sich der Verzicht auf staatliche Steuerungsansprüche auch bei der Deutschen Bundespost. Nachdem im Herbst 2000 erstmalig Aktien der Deutschen Post AG im Wert von 6,6 Mrd. Euro durch die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KFW) emittiert wurden, befindet sich der „Gelbe Riese“ seit Juni 2005 mehrheitlich im Besitz privater Investoren. „Vater Staat nimmt Abschied“, titelte „Die Zeit“ damals, um zugleich darauf hinzuweisen, dass die Deutsche Post nun zum Opfer ausländischer Finanzinvestoren zu werden drohe. [2]

Ein derartiges Opfer ist die ebenfalls aus der Bundespost hervorgegangene Deutsche Telekom AG bereits geworden. Mit mehr als vier Prozent ist die US-amerikanische Investorengruppe Blackstone an dem Unternehmen beteiligt; der Bund als ehemaliger Alleinaktionär hält inzwischen, trotz der von vielen Seiten geäußerten Furcht vor „Heuschrecken“, nur noch ein Drittel der Aktien. Aktionäre blickten anfänglich auch auf diesen Bonner Konzern im Einklang mit den Unternehmensfarben durch die „rosarote“ Brille. Eine bis dahin beispiellose Werbekampagne heizte die Börseneuphorie an, so dass die T-Aktie bei ihrem Börsendebüt am 18. November 1996 fünffach überzeichnet war. Der Begriff der „Volksaktie“ war geboren – bevor er im Kontext der laufenden Schadensersatzklagen von mehr als 16 000 Kleinanlegern karikiert und von der SPD-Linken mit dem (verworfenen) Alternativvorschlag zur Bahnprivatisierung reaktiviert wurde.

Der Vergleich mit der T-Aktie liegt auch deshalb nahe, weil die Bundesregierung dort ebenfalls lediglich auf die hohen Einmalerlöse durch den Börsengang schielte und mittel- bis längerfristige Folgen der Kapitalprivatisierung ausblendete. Dabei liegen die Ergebnisse auf der Hand: Während wir als Kunden der Deutschen Telekom AG und konkurrierender Anbieter infolge der Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes von insgesamt gesunkenen Tarifen profitieren, zahlen wir über Steuern und Sozialversicherungsabgaben für den Stellenabbau, die Pensionslasten und die Ausgründung der Beschäftigten in sogenannte Personalserviceagenturen.

Im Würgegriff des Wettbewerbs

Auch bei der DB AG erwachsen aus der strikten Fokussierung auf profitable Geschäftsfelder gravierende sozial-, umwelt- und verkehrspolitische Fehlentwicklungen. So wird den Verkehrsbedürfnissen der Allgemeinheit beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes nicht mehr ausreichend Rechnung getragen, obwohl dies in Art. 87e Abs. 4 GG eindeutig festgeschrieben ist. Dass der gesamtgesellschaftliche Mehrwert eines funktionierenden Bahnsystems kaum berücksichtigt wird, hat hierzulande Tradition. Schon 1974 hatte sich der damalige Bundesfinanzminister Helmut Schmidt zu der legendären Bemerkung verstiegen, dass die Bundesregierung angesichts der kriselnden Konjunktur zu entscheiden habe, „ob sie sich eine Bundeswehr oder eine Bundesbahn leisten wolle.“ [3] Aus derlei Äußerungen erwuchs Anfang der 90er Jahre die politische Forderung, den „kränkelnden Dinosaurier im Schuldenmeer“ [4] in eine Aktiengesellschaft zu überführen und die finanziellen Zuwendungen zu reduzieren.

Dabei werden mit der mehrmals aufgeschobenen, nunmehr für die zweite Jahreshälfte avisierten Kapitalprivatisierung der DB AG zahlreiche Besonderheiten des Bahnwesens, beispielsweise in Gestalt sogenannter säkularer Investitionen, außer Acht gelassen. So ist der Bahnsektor durch hohe Fixkosten und einen immensen Bedarf an sehr langfristigen Investitionen gekennzeichnet. Dieser Jahrzehnte umfassende, Generationen übergreifende Zeithorizont steht in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis zu den kurzfristigen Rentabilitätsinteressen börsennotierter Unternehmen, deren Erfolg sich nach dem Willen der Anteilseigner bereits in den nächsten Quartalszahlen niederschlagen soll.

Ähnlich trügerisch ist das „belebende Element“ des Wettbewerbs, auf das ohne Unterlass in Zeitungen und (Fach-)Zeitschriften verwiesen wird: „Der Wettbewerb bleibt auf der Strecke“; „Fairer Wettbewerb käme der Umwelt zugute“; „Ausgebremst. Im Streit um mehr Wettbewerb auf der Schiene ist ein Kompromiss in Sicht“. [5] Dabei wird stets auf den intramodalen Wettbewerb, das heißt die Konkurrenz zwischen den 340 (überwiegend privaten) Bahnbetreibern, Bezug genommen – und verkannt, dass die Bahn schon jetzt einem Qualitäts- und Preiswettbewerb ausgesetzt ist, wie er intensiver kaum sein könnte, nämlich dem intermodalen Wettbewerb. So muss sich die Bahn gegenüber den Konkurrenten im Straßen-, Luft- und Wasserverkehr behaupten, weil nahezu sämtliche ihrer Leistungen über diese Verkehrswege ersetzt werden können.

Internationaler Logistikkonzern

In Sachen Umstrukturierung des Konzerns hält Hartmut Mehdorn seit seinem Amtsantritt am 16. Dezember 1999 eisern Kurs in Richtung Kapitalmarkt – weg vom heimischen Schienenverkehr, hin zu einem weltweit operierenden Logistikkonzern. Mobility Networks Logistics – dieser dem DB-Label angefügte Anglizismus findet sich mittlerweile auch auf den Fahrscheinen. In der Weltsprache Englisch formuliert das „Unternehmen Zukunft“ (Eigenwerbung) den Anspruch, für Transport, Netzwerke und Logistik jeder Art zuständig zu sein – mit mehr als 1500 Standorten in 152 Staaten. Die 2,5 Mrd. Euro teure Übernahme der Stinnes AG ließ die DB zum größten Straßenspediteur Europas aufsteigen, mit dem 1,1 Mrd. US-Dollar schweren Investment bei dem Luftfrachtspezialisten Bax Global Inc. avancierte die DB AG zur Nr. 2 in der weltweiten Luftfracht. Und auch ohne den seinerzeit geplanten Zukauf der Hamburger Hafen und Logistik AG entwickelte sich das einstige Schienenverkehrsunternehmen zum weltweit drittgrößten Seefrachttransporteur. Am Heiligen Abend 2006 ließ sich der gelernte Luftfahrtingenieur Mehdorn sogar mit den Worten zitieren: „Ich kann mir gut vorstellen, dass wir in 30 Jahren auch Flugzeuge betreiben.“ [6] Schon jetzt verkauft die DB AG Flugtickets und ist als Airline vom internationalen Luftfahrtverband IATA zugelassen.

Den mit der Bonität der Bundesrepublik im Rücken finanzierten Expansionskurs in Richtung Paris, Peking und Philadelphia verteidigt Mehdorn energisch: „Wir knallen keine Steuergelder raus. Wir haben einen weltweit offenen Markt, das muss man endlich verstehen und akzeptieren, das müssen Sie verstehen! Wenn wir jetzt nicht in England, Spanien oder anderswo angreifen, dann werden wir hier in Deutschland zurückgedrängt. Dann verlieren wir auch hier. […] Angriff ist die beste Verteidigung.“ [7] Allein in China sollen pro Jahr zwei bis drei neue Standorte eröffnet werden. Bei den diesjährigen Olympischen Spielen wird die DB-Tochter Schenker als offizieller „Dienstleister“ für Spedition und Zollabfertigung im Reich der Mitte tätig sein. Die Bahn kommt – zwar nicht auf der heimischen Schiene, dafür aber per Flieger, LKW und Schiff ins ferne Asien.

Obwohl es sich angesichts eines jährlichen Anstiegs des Güterverkehrsaufkommens um rund drei Prozent als Wettbewerbsvorteil deuten lässt, wenn die Bahn ihren Kunden eine Verkehrsträger übergreifende Transportkette anbieten kann, stellen sich die Geschäftserfolge bislang nicht zugunsten des traditionellen Kerngeschäfts ein. Im Schienenverkehr liegt die Bahn auf dem Ergebnisniveau von vor 15 Jahren. Gutes Geld verdient sie ausschließlich im zugekauften Logistikbereich und im bezuschussten Nahverkehr. Anlass zur Sorge geben die zuletzt positiveren Geschäftszahlen der DB AG, weil die strategische Neuausrichtung die negative Bilanz des Schienentransports innerhalb des Konzerns verschleiert. Der Vorstand könnte endgültig sein Interesse daran verlieren, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, um stattdessen eine verkehrsträgerneutrale Steigerung der Marktanteile zu erreichen – zu Lasten der Umwelt und der Mobilität von Millionen „Autolosen“. [8]

Düstere Aussichten

Bahnreisende zwischen Flensburg und Passau werden aber auch deshalb immer häufiger das Nachsehen haben, weil die DB AG – im Einvernehmen mit dem Bund als alleinigem Anteilseigner – „ihr“ Anlagevermögen veräußert, um die Rendite zu steigern und das Unternehmen im Vorfeld des Börsengangs als möglichst wertvolle „Braut“ anzupreisen. Vielerorts stehen Grundstücke zum Verkauf, ist das Schienennetz doch inklusive Brücken, Stellwerken und Signalanlagen geschätzte 130 Mrd. Euro wert. Der Ausverkauf von Volksvermögen, für das Steuerzahler und Kunden viele Generationen lang gearbeitet und gezahlt haben, wird derart rigide umgesetzt, dass in den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen künftig nur noch 39 Stationen mitsamt Empfangsgebäude im Eigentum des Konzerns stehen werden. An den übrigen Haltepunkten sollen Bahnsteige, Fahrkartenautomaten und Wartehäuschen ausreichen, so dass die einstigen „Visitenkarten“ der Städte und Gemeinden weiter an Bedeutung verlieren werden. [9]

Als börsennotiertes, weitgehend von staatlichen Einflüssen „befreites“ Unternehmen wird die DB AG unter Wahrung kaufmännischer Gesichtspunkte noch umfassender als bislang solche Zugleistungen und -verbindungen aufgeben, deren Ertragswerte trotz gewährter Zuschüsse negativ sind oder jedenfalls unterhalb der durchschnittlichen Rendite im Bahnsektor liegen. Gutachten der Investmentbank Morgan Stanley und der Unternehmensberatung Booz Allen & Hamilton prognostizieren, dass der Gleiskörper um weitere 5000 km auf die „betriebswirtschaftlich optimale Größe“ – und damit auf die Länge des Jahres 1875 im Deutschen Reich – reduziert werden wird. Die zu einem Glaubensbekenntnis erhobene Behauptung, konkurrierende Betreibergesellschaften übernähmen defizitäre Bahnlinien, verkennt, dass diese ebenfalls nach betriebswirtschaftlichem Kalkül operieren (müssen).

Auch die Ausdünnung der Fahrtakte, die Abschaffung des InterRegio und die Ende letzten Jahres erfolgte fünfte Fahrpreiserhöhung binnen vier Jahren lassen nicht erwarten, dass die Wünsche der Fahrgäste und Frachtkunden nach preiswerten, flächendeckenden und eng getakteten Bahnangeboten in absehbarer Zeit erfüllt werden. Weil der Bund als (Noch-)Alleineigentümer von seinen Durchgriffsrechten nicht hinreichend Gebrauch macht, lässt die DB AG die margenschwachen heimischen Schienen hinter sich, während sie im Ausland zu profitableren neuen Ufern aufbricht. Auch der nun vorgelegte Gesetzentwurf verkennt, dass Verkehrsadern die Lebensadern einer Gesellschaft sind, die für niemanden verschlossen sein dürfen. In einem reichen Land wie der Bundesrepublik muss der Staat dafür sorgen, dass auch in der Lüneburger Heide, in der Sächsischen Schweiz und im Bayerischen Wald noch Züge verkehren – auf den Markt ist dort kein Verlass.


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1 „Berliner Zeitung“, 22.4.2008; „die tageszeitung“, 22.4.2008.
2 „Die Zeit“, 26/2005.
3 „Deutsche Verkehrszeitung“, 15.1.2004.
4 „Berliner Zeitung“, 6.11.2000.
5 „Die Zeit“, 16/2008; „DB mobil“, 12/2005, S. 44; „Die Zeit“, 34/2005.
6 Interview mit Hartmut Mehdorn, in: „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, 24.12.2006.
7 Zit. nach Arno Luik, Mehdorns letzte Fahrt, in: „Stern“, 10/2008, S. 155.
8 Vgl. Tim Engartner, Die Privatisierung der Deutschen Bahn. Über die Implementierung marktorientierter Verkehrspolitik, Wiesbaden 2008, S. 218-227.
9 Vgl. „Frankfurter Rundschau“, 17.2.2007.

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