Revitalisierung eines leistungsfähigen Öffentlichen Dienstes

03.04.2017 / Axel Troost

In der öffentlichen Debatte wird der Haushaltsüberschuss vorrangig der guten Konjunktur zugeschrieben und völlig ausgeblendet, dass in allen deutschen Gebietskörperschaften seit Jahren die Politik der „schwarzen Null“ dominiert. Allein das Haushaltsplus des Bundes beläuft sich 2016 auf 6,2 Mrd. Euro. Bundesfinanzminister Schäuble (CDU) hat diesen Haushaltsüberschuss des Bundes genutzt, um Schulden zu tilgen. Nach Angaben des Bundesfinanzministeriums liegt der Anteil der Staatsschulden am Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2016 bei 68,2 Prozent. Auf dem Höhepunkt der Eurokrise 2010 waren es noch 81,0 Prozent gewesen. Kein anderes Land der Euro-Zone schaffte einen derartig starken Rückgang. Nach dem Stabilitäts- und Wachstumspakt erlaubt ist eine Schuldenquote von höchstens 60 Prozent.

Wenn die Schulden von Bund, Ländern und Gemeinden wie im zurückliegenden Jahr kräftig sinken, dann ist dies weitgehend zwei Faktoren zuzuschreiben: erstens einem nicht übermäßigem, aber beständigem Wirtschaftswachstum mit gestiegenen Realeinkommen und zweitens der anhaltenden Niedrigzinsphase.

Die Deutsche Bundesbank unterstreicht diesen Trend durch eine Modellrechnung: 2007, also zu Beginn der Finanzkrise, wurden die Schulden des Bundes mit durchschnittlich 4,23 Prozent verzinst. Würde dieser Zins heute noch gelten, müsste der Staat statt der 17,5 Mrd. Euro im vergangenen Jahr (Durchschnittszins 2,05 Prozent) 47 Mrd. Euro mehr für Zinsen ausgeben. Weil laufend alte Bundesanleihen fällig und neue begeben werden, profitiert Schäuble selbst dann von den niedrigen Zinsen, wenn er netto keine neuen Schulden aufnimmt.

Ein Ende der Austeritätspolitik der neoliberalen Regierung ist nicht vorgesehen: Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ist fest entschlossen auch im Jahr 2018 – vorausgesetzt die Unionsparteien bleiben die bestimmende politische Kraft – eine schwarze Null im Budget zu erreichen. Seine Leitlinie: „Die Politik ist so nachhaltig, dass wir auch über diese Legislaturperiode hinaus die Weichen so gestellt haben, dass wir ohne Neuverschuldung auch bei neuen Ausgaben den Haushalt finanzieren können.“ „Wir werden uns darauf konzentrieren, diesen Grundpfad der Finanzpolitik in einer Zeit multipler Krisen“ fortzusetzen. Spielräume will die CDU unter anderem dazu nutzen, um die kalte Progression im Steuersystem auszugleichen.

Der entscheidende Haken bei der Politik der „schwarzen Null“ ist neben der völlig unzureichenden Finanzausstattung für die Sozialausgaben, dass die Schuldenbremse durch Personalabbau und vor allem durch eine Reduzierung der öffentlichen Investitionen umgesetzt wurde. Die Konsequenz ist, dass Deutschland eines der Industrieländer mit den niedrigsten öffentlichen Investitionsquoten ist.

Es wird weiter gespart, anstatt durch eine intelligente Investitionspolitik den Investitionsrückstand zu kompensieren. Die Folgen jahrelanger Unterfinanzierung lassen sich nicht binnen einer Wahlperiode beheben. Aber in Zeiten niedriger Zinsen ist die Verlängerung eines Substanzverlustes in der öffentlichen Infrastruktur besonders absurd. Denn vernünftig geplante öffentliche Investitionen erzielen letztlich höhere Wachstumswirkungen als Steuersenkungen.

Die Politik der schwarzen Null hat viele Nachteile: einer davon ist, dass viele Menschen in den letzten Jahren von der wirtschaftlichen Belebung nicht profitiert haben. Selbst der regierungsoffizielle Armuts- und Reichtumsbericht weist aus: wir haben knapp 40 Prozent der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die heute geringere Reallöhne haben als noch vor 15 Jahren. Das heißt, die Kaufkraft ihrer Löhne, das, was sie sich damit leisten können, ist zurückgegangen.

Ein zweiter Punkt ist: in den zwei Jahrzehnen ist die öffentliche Beschäftigung kontinuierlich zurückgefahren worden. Gerade die Kommunen haben unter Finanzdruck drastisch Personal reduziert. Zwischen 1991 und 2010 wurde in den Kommunalverwaltungen jede dritte Stelle abgebaut, die sich mit der Planung und Durchführung von Infrastrukturmaßnahmen befasst. Bis 2015 ging die Beschäftigtenzahl um weitere knapp neun Prozent zurück. Selbst die Bundesregierung sieht inzwischen ein, dass die durch Personalabbau in den Ländern und Kommunen entstandene Lücke an Planungskapazitäten ein Hauptgrund dafür ist, dass selbst die ohnehin bescheidenen Fördertöpfe des Bundes für Investitionen von Ländern und Kommunen nicht abgerufen werden.

Eine dritte Folge ergibt sich zwingend daraus: in Deutschland gibt es eine dramatische Investitionsschwäche – auf öffentlicher und privater Seite. Natürlich kann der Staat die fehlenden Privatinvestitionen nicht ersetzen, aber er ist selbst sogar schuld daran, dass viele private Investitionen ausbleiben. Solange man in weiten Teilen der ländlichen Bundesrepublik auf einen Internetanschluss mit erträglicher Bandbreite warten muss und gleichzeitig die bestehenden Infrastrukturen wie Brücken, Straßen und Universitäts- und Schulgebäude verfallen, gehen private Unternehmen zurecht davon aus, dass die Konjunktur schon bald straucheln wird. Warum aber sollte bei diesen Aussichten ein Privater investieren? Die schwarze Null als Austeritätsprogramm heißt automatisch, dass es uns in 10, 15, 20 Jahren schlechter gehen wird als heute. Schäuble und Co. nehmen also bewusst die Beschädigung der Zukunftsfähigkeit der Republik in Kauf.

Es war dann die Flüchtlingskrise, die offenbarte, wieweit einzelne Ämter wie das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht nur aufgrund organisatorischen Versagens, sondern auch aufgrund personeller Auszehrung regelrecht kollabierten. Durch die große Medienaufmerksamkeit und die hohe Zahl der freiwilligen HelferInnen, die sich tagtäglich mit VertreterInnen der Verwaltungen abzustimmen versuchten, wurde endgültig offensichtlich, dass der personell entkernt öffentliche Dienst eben keine ärgerliche Service-Wüste, sondern eine politisch gemachte Sollbruchstelle des Gemeinwesens geworden ist. Endlich wurde öffentlich diskutiert, ob der radikale Stellenabbau im Öffentlichen Dienst nicht ein großer Fehler war.

Die von der GroKo eingeleiteten Maßnahmen zur Wiederbelebung des Öffentlichen Dienstes erfolgten aber nur einseitig. Bei der Sicherheit (Geheimdienst, Polizei, Justiz) wird hektisch aufgerüstet, andere öffentliche Dienste bleiben weiter auf der Strecke. Noch vollziehen sich die Aufstockungen weniger real als bei den Stellenplänen. Da es versäumt wurde, in ausreichendem Umfang Nachwuchskräfte heranzubilden, fällt die Stellenbesetzung schwer. Nötig sind Brückenlösungen mit Rückgriff auf QuereinsteigerInnen. Viele bisher nur prekär im sozialen Bereich Beschäftige, z.B. aus den Bereichen der Behinderten- und Familienhilfe, der Sozialarbeit und der Pflege, haben nun endlich eine Perspektive auf ein „Normalarbeitsverhältnis“ in den Jugendämtern, Sozialstationen und Betreuungseinrichtungen der Kommunen. Die Kehrseite: die ambulanten sozialen Dienste – häufig über private Träger wie Caritas, Lebenshilfe etc. erbracht –, wo die prekärsten Arbeitsverhältnisse herrschen, können mangels Personal die behördlich zugesagten Leistungen kaum noch erbringen (z.B. in der Einzelfallhilfe, ambulante Betreuungsangebote etc.).

Dass die auf breiter Front zusammengekürzte öffentliche Verwaltung und die ausgezehrten Kommunalhaushalte die vielen tollen Ideen gar nicht mehr umsetzen können, wird geflissentlich ignoriert. Viele Behörden operieren quasi nur noch mit Notbesetzungen.

Den derzeitigen personellen Aufstockungen liegen keine tragfähigen Konzepten zugrunde; es handelt sich um rein aus der Not geborene Ad-hoc-Maßnahmen. Dabei ist Interesse an einer Beschäftigung im öffentlichen Dienst ausreichend vorhanden. So ergab 2016 eine repräsentative Berufe-Umfrage von Forsa (Auftraggeber: Beamtenbund), dass typische ÖD-Berufe – von den Feuerwehrleuten und PolizistInnen über ErzieherInnen und Pflegekräfte bis zu den Müllabfuhrbeschäftigten – in der Beliebtheitsskala weit vorne liegen. Auch viele Studierende finden eine Karriere beim Arbeitgeber Staat attraktiv. Knapp jeder Dritte gab 2016 bei einer Umfrage des Beratungsunternehmens EY unter 3.500 Studenten an, nach dem Abschluss am liebsten im ÖD arbeiten zu wollen (Frauen: 42%; Männer: 23%).

Die politische Linke steht für einen insgesamt starken öffentlichen Sektor, was etwas anderes ist als der „Starke Sicherheitsstaat“, der aktuell in Deutschland eine Renaissance erlebt.

Neben der große Herausforderung, Hunderttausende von Flüchtlingen so zu betreuen und zu fördern, dass sie eine gute Chance auf Integration haben, besteht für das öffentliche Gemeinwesen u.a. auf der Länder- und kommunalen Ebene in den Bereichen politische Führung und zentrale Verwaltung, Rechtsschutz, Finanzverwaltung, Polizei, öffentliche Sicherheit und Ordnung, Kinderbetreuung, Schulen und Hochschulen sowie bei Volkshochschulen, Stadtbibliotheken, Musikschulen, in öffentlichen Bädern und im öffentlichen Gesundheitsdienst nach groben Schätzungen ein Personalmehrbedarf von bundesweit mehr als 300.000 zusätzlichen Stellen. Die Gesundheitsversorgung, Altenpflege sowie viele andere Bereiche im öffentlichen Sektor sind hierin ausdrücklich noch nicht enthalten.

Eine Strategie der Renaissance des öffentlichen Dienstes verlangt nach einer Einbettung in einen wirtschafts- und finanzpolitischen Rahmen, der die Strategie trägt. Der Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge und ein funktionierendes Gemeinwesen sind natürlich mit zusätzlichen Kosten für die öffentlichen Hände verbunden.

Es geht deshalb um Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse – letztlich selektive Steuererhöhungen in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit. Denn Europa braucht Strukturreformen, aber eben nicht so wie es die Verfechter einer Konsolidierungspolitik fordern. Die Alternative zur Konsolidierung läuft darauf hinaus, über eine Erhöhung der Steuern für höhere Einkommen, Vermögenserträge und angesammelte große Vermögen öffentliche Güter und Dienste, die vom privatkapitalistischen Sektor nicht ausreichend bereitgestellt werden – Dinge wie die Verbesserung der sozialen Sicherheit, Bildung, Gesundheitsvorsorge und öffentlichen Infrastrukturen – zu finanzieren.

Die Umsetzung einer solchen Steuerpolitik benötigt allerdings deutlich veränderte politische Kräfteverhältnisse – parlamentarisch und insbesondere außerparlamentarisch. Dies verstehe ich als Herausforderung an die LINKE, aber auch an die SPD und die Grünen, dem nachzukommen; denn es wird nur gemeinsam gelingen. Ich setze mich weiterhin dafür ein, diese Option zu stärken.

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