Was bedeutet das britische Europareferendum für die europäische Linke?

11.06.2016 / Axel Troost

 

Am 23. Juni entscheiden die Briten in einem Referendum über einen möglichen Austritt aus der EU. Die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen eines solchen Austritts werden sehr kontrovers diskutiert. Die Mehrzahl wirtschaftlicher Studien verweist auf hohe Kosten im Falle eines Brexit. Bei der Volksabstimmung im Jahr 1975 zu einem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gaben protektionistische Stimmen den Ton an. In der heutigen Europa-Auseinandersetzung gibt es bei den Befürwortern zwei Strömungen: Die einen wollen aus Großbritannien eine Art Super-Singapur mit einer offenen und deregulierten Wirtschaft machen. Die anderen verfolgen eine protektionistische Konzeption und träumen von einer Stärkung des britischen Nationalstaates. In jedem Fall hätte ein Austritt weitreichende Konsequenzen für den Nationalstaat, denn weder in Schottland noch in Nordirland gibt es entsprechende Mehrheiten für den Bruch mit Europa.

Die Beurteilung der wirtschaftlichen Auswirkungen eines Brexit hängen stark an den Prämissen für die weitere Entwicklung. Dass ein Brexit ein ökonomischer Schock wäre, bezweifeln die wenigsten. Allgemein wird mit höheren Belastungen für den Staat und die Unternehmen und mit einer starken Schwächung des Pfunds gerechnet. Dadurch dürften zwar die Exporte angeregt werden, aber auch die Importe würden teurer. Die Inflation dürfte steigen. Die britische Wirtschaft könnte, alle Effekte zusammengenommen, in eine Rezession hineintaumeln, die durch negative Rückwirkungen auf den Finanz- und Bankenplatz London verstärkt würde.

Fakt ist: Auch in den anderen europäischen Ländern hat die Skepsis gegenüber der EU in der letzten Zeit zugenommen. In Deutschland ist die Zustimmung zur EU seit 2004 um acht Prozentpunkte gefallen, in Frankreich sogar um 17 und in Spanien um 16 Punkte. Doch während in Deutschland immer noch gut die Hälfte der Bevölkerung der EU freundlich gegenüber steht, sind es in Spanien 47 Prozent und in Frankreich nur etwas mehr als ein Drittel. Den schwersten Stand hat die EU in Griechenland, wo nur 27 Prozent der Befragten der EU etwas Positives abgewinnen können.

Der Ausgang der Abstimmung in Großbritannien wird also auch größere Rückwirkungen auf die gesamte Gemeinschaft haben. Nach den jüngsten Umfragen in Großbritannien ist mit einem sehr knappen Ergebnis zu rechnen. Derzeit liegen die „Bremain“-Befürworter mit 51 Prozent vor den „Brexit“-Befürwortern mit 49 Prozent, wobei diese Zahlen sich noch täglich ändern. Tatsache ist: Großbritanniens Gesellschaft ist in der Frage der EU-Zugehörigkeit zutiefst gespalten. Für den Ausgang des Referendums wird entscheidend sein, wie hoch die Wahlbeteiligung bei den jungen WählerInnen sein wird, aus deren Mitte 400.000 Neumitglieder zur Labour-Party gestoßen sind. Diese hat sich unter ihrem Parteichef Jeremy Corbyn in den letzten Monaten mit dem Motto „Bleiben und Verändern“ für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Nach einem positiven Votum für den Verbleib in der EU wollen der Gewerkschaftsbund TUC und die Labour-Party dann für eine Erneuerung der Politik mit dem Ziel der Beendigung neoliberaler Austerität kämpfen. In Corbyns Vorschlägen für eine Kursänderung der Wirtschaftspolitik geht es darum, die jahrzehntelange Austeritätspolitik durch eine Politik der Erneuerung der öffentlichen Infrastruktur im Verbund mit einer inklusiven Sozialpolitik sowohl in Großbritannien und in Europa abzulösen. Abgesehen von der radikalen Linken – vereint im Bündnis Lexit – kämpfen also Gewerkschaften und Labour für eine Erneuerung Europas.

Auch die britische Regierung ist im Wahlkampf über die Abstimmung bemerkenswert deutlich geworden. Sie sieht im Falle eines EU-Abschieds schwarz für die heimische Wirtschaft: Konjunkturabschwung, Jobverlust, weniger Kaufkraft. „Das ist die Option zur Selbstzerstörung“, warnte Regierungschef David Cameron. „Das britische Volk muss sich selbst diese Frage stellen: Können wir bewusst für eine Rezession stimmen?“, argumentiert Finanzminister George Osborne. „Will Großbritannien diese hausgemachte Rezession?“ Mindestens eine halbe Million Arbeitsplätze könnten demnach vernichtet werden, sollte das Land die Europäische Union (EU) verlassen. Die Reallöhne dürften binnen zwei Jahren um fast drei Prozent schrumpfen, was knapp 800 Pfund jährlich weniger pro Durchschnittsverdiener bedeutet.

Die Gewerkschaften und Labour fürchten weniger die kurzfristigen Auswirkungen einer Rezession. Ihnen geht es vor allem um den Erhalt des europäisch verbrieften ArbeitnehmerInnenschutzes und die Beschäftigungsimplikationen eines wirtschaftlichen Schocks beim Brexit. „Es ist ein starkes sozialistisches Argument in der Europäischen Union zu bleiben. Genauso wie es ein starkes sozialistisches Anliegen ist, progressive Reformen und Veränderungen durchzusetzen. Deshalb brauchen wir eine Labour-Regierung, um – auf europäischer Ebene – Arbeitsplätze und Kommunen in Britannien zu fördern, öffentliches Eigentum und öffentliche Dienste zu stärken, Arbeitnehmerrechte zu schützen und zu erweitern – und um zusammen mit unseren Bundesgenossen sowohl in Britannien als auch Europa so zu gestalten, dass sie für die arbeitende Bevölkerung besser funktionieren.“

Diese Perspektive Corbyns wird in der politischen Linken in den Ländern Südeuropas vielfach geteilt, aber im Lande der europäischen Hegemonialmacht als Kern des Erneuerungsprojekt der britischen Labour-Party weder von der SPD noch von weiteren Teilen der politischen Linken zur Kenntnis genommen, geschweige als Anstoß für eigene Erneuerungsansätze verstanden. Dabei liegt hier aus meiner Sicht ein wichtiger Ansatzunkt, ja eine Strategie für ein Zurückdrängen des Rechtspopulismus in Europa. Ich trete seit langem für einen europaweiten Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik ein.

Für führende Vertreter der Sozialdemokratie ergeben sich aus den Folgen eines Brexit zu wenig selbstkritische Schlussfolgerungen: „EU-Privilegien zum Nulltarif“ werde es nach einem Brexit nicht geben, sagte der Vorsitzende der Europa-SPD, Udo Bullmann. „Das würde die Europäische Union als Gemeinschaft der solidarisch Handelnden zerstören.“ Auch aus Sicht von Bullmann wäre ein Brexit sowohl für Großbritannien als auch für die Europäische Union ein herber Schlag. „Trotzdem können sich trotz des Verlustes auch Chancen daraus ergeben.“

Auch für SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann speisen sich die Brexit-Stimmen vor allem aus Stimmungsmache „gegen Deutschland. Wir werden als dominante EU-Wirtschaftsmacht empfunden, die in vielen Fragen den Takt vorgibt. Es gibt starke Kritik an Angela Merkels Flüchtlingspolitik. Sie wird verantwortlich dafür gemacht, dass Millionen Flüchtlinge nach Europa gekommen sind – und die Brexit-Befürworter schüren Angst und suggerieren, dass diese Flüchtlinge nach Großbritannien weiterreisen könnten.“

Wenn es der SPD wirklich ernst sein sollte mit der von Oppermann aufgestellten These: „Ein sozialeres Europa wird es nur in einem wirtschaftlich stärkeren Europa geben – und für Letzteres brauchen Sie die Briten“, dann wäre ein Signal in Richtung der britischen Labour-Party für einen konstruktiven Dialog hilfreich. Denn ein „Weiter so“ mit der Europa-Politik hat keine Perspektive. Insgesamt steht Europa heute vor der großen Herausforderung, dass viele Staaten das Verhältnis von nationaler Souveränität und internationalen Verpflichtungen für sich neu aushandeln. Mehr noch als an der britischen Politik zeigt sich dies in der Flüchtlingsdebatte und besonders in Staaten wie Ungarn und Polen, in denen die jeweiligen Regierungen im besonderen Maße auf nationale Souveränitätsrechte pochen und gemeinsame europäische Rechtsvorstellungen und Normen herausfordern.

Es wird keine reine britische Entscheidung über das Referendum bleiben. Zunächst werden die starken europakritischen und rechtspopulistischen Parteien in ganz Europa den BREXIT zu ihrem Thema machen. Auch die europäische Linke wird sich zu dieser Abstimmung verhalten müssen. Ich habe mich mit anderen für eine grundlegende Erneuerung der EU eingesetzt, wissend dass die politischen Kräfteverhältnisse dafür extrem schlecht sind. Eine Rückkehr zu nationalstaatlichen Lösungen im Zeitalter des Finanzmarktkapitalismus und der europäischen Flüchtlingsfrage war und ist für mich keine Option. Gerade die EU-Mitgliedsländer an der südlichen Peripherie (Griechenland, Portugal und Spanien) sind aufgrund ihrer kritischen Situation auf europäische Unterstützung angewiesen.

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