Gastbeitrag in der FR: Runter von der Zuschauertribüne!

Von Klaus Ernst

04.12.2015 / (c) Druck- und Verlagshaus Frankfurt am Main GmbH

Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau vom 28.11.2015

Wie schnell ging dieses Jahr vorbei.

Wie hoffnungsvoll begann es. Im Dezember 2014 wurde Bodo Ramelow als erster Ministerpräsident einer rot-rot-grünen Landesregierung vereidigt. Im Januar gewann Alexis Tsipras mit Syriza die Wahl in Griechenland. In Spanien erreichte das Linksbündnis Podemos Höchstwerte in den Umfragen. Dennoch erlebte der Kontinent einen rasanten Rechtsruck. Die Demütigung der griechischen Regierung mündete im Juli in den erzwungenen Kniefall vor Brüssel. Die Begleitmusik in Deutschland war schriller Nationalismus, dem schon Spurenelemente eines europäischen Neokeynesianismus als vaterlandslose Hirngespinste galten.

Die Flüchtlingskrise leitete eine Welle von Nationalismus, Abschottung und Inhumanität ein. Der kurze Frühling der Willkommenskultur ist vorbei. In Deutschland säße die AfD im Bundestag, wenn gewählt würde. In Ungarn regiert mit Viktor Orbán sogar ein Mann, der eigentlich wegen Volksverhetzung und Verbrechen gegen Demokratie, Humanität und Rechtsstaat hinter Gitter gehörte. Der von vielen auf die Europäische Union projizierte neoliberale Dreiklang aus Lohn-, Renten- und Sozialabbau mündet in eine Renaissance des Nationalismus. Die politische Achse hat sich nach rechts verschoben.

Die Reflexion darüber in der Linken wird von einer Zuschauermentalität dominiert. Wir beobachten die Niederlagen unserer Genossinnen und Genossen von der Tribüne aus. So als ob wir nichts damit zu tun hätten. Wir kritisieren Gewerkschaften, weil uns Tarifabschlüsse zu weich sind. Wir kritisieren linke Regierungen, wenn sie Dinge tun, die nicht in unseren Programmen stehen. Wir kündigen Alexis Tsipras die Solidarität, weil er in die Knie gegangen ist.

Aber es sind unsere Niederlagen, die in diesen Rechtsruck gemündet haben. Die Geschichte kennt keinen Rückwärtsgang. Unsere Niederlagen sind nicht rückgängig zu machen, vielmehr müssen neue Kämpfe geführt werden. Der Kampf, den wir nun zu führen haben, ist der gegen den politischen Rechtsruck in Europa. Die Linie, an der sich die demokratische Linke neu finden muss, ist eine Abwehrlinie. Es geht nicht darum, ob wir am radikalsten den Kapitalismus kritisieren. Es geht um alles.

Ich wünsche mir eine Linke, die eingreift und nach einem Teil der Macht greift. Ich bin nicht so naiv, diesem Versuch mit Enthusiasmus entgegenzusehen. Er wird hart, wenn wir ihn wagen. Aber wie lächerlich wären die Kompromisse, die wir hätten machen müssen, um einen anderen deutschen Verhandlungspartner für Alexis Tsipras nach Brüssel zu schicken, im Vergleich zu denen, die Griechenland von den deutschen Hardlinern aufgezwungen wurden. Wie lächerlich muten sie erst an, wenn auf der anderen Seite der Waagschale die Leben von Tausenden syrischen Flüchtlingen liegen, denen jetzt durch die womöglich von konservativen Hardlinern erzwungene Aussetzung des Familiennachzugs nur noch die Fahrt im Schlauchboot über das Mittelmeer bleibt.

Es ist auch unsere strategische Verengung, die den Seehofers und Merkels, den Weidmanns und Sinns ein Abonnement auf Herrschaft und die in dieser Mischung wohl einmalige konservativ-nationalistisch-neoliberale Deutungshoheit über die Wirklichkeit gibt. Es ist auch unsere strategische Verengung, die es den Höckes und Gaulands ermöglicht, sich als Alternative zu verkaufen. Wer will es denn den Menschen verdenken, dass sie die Alternative rechts von der Mitte sehen, wenn sich links von der Mitte seit Jahrzehnten nichts tut.

Wir haben die Debatte über unsere strategische Perspektive zu lange aufgeschoben. Es ist eine Debatte, von der wir wissen, dass sie wehtut, dass sie das Gleichgewicht der Flügelkämpfer zerstört und die Frage stellt, ob es in unserer linken Biedermeierwelt noch lange so kuschelig bleibt. Wir haben die Hausaufgaben nicht gemacht, die uns die Bundestagswahl 2013 mit ihrer zufällig entstandenen rot-rot-grünen Mehrheit gestellt hat. Die hätte darin bestanden, uns darüber zu verständigen, wo die Kompromisslinien genau verlaufen, und die uns abverlangten Opfer an unsere ideologische Unversehrtheit abzuwägen gegen mögliche Haltelinien, die wir gegen den europäischen Rechtsruck einziehen könnten.

Sozialdemokraten und Grüne machen es uns schön leicht, so wie wir es ihnen schön leicht machen, dass alles beim Alten bleibt. Es hat ja auch einiges für sich, in einem Sturm erst mal das eigene Gelände zu sichern. Aber das Wasser von rechts steigt, und wie existenzbedrohlich hoch es steigen kann, zeigt der Blick auf unsere Nachbarn. Natürlich ist ein fliegender Wechsel zu einer rot-rot-grünen Bundesregierung undenkbar, leider aber auch, weil wir zu wenig dafür getan haben, eine Mitte-Links-Regierung im Bund denkbar zu machen. Worum es jetzt geht, ist eine offene interne Debatte darüber, ob und wie wir eine solche Option mit Leben füllen wollen.

Vor zehn Jahren saß die Linke neu im Bundestag. Wir haben damals den Rechtsruck gestoppt. Wir haben uns gesammelt, wir haben aufgehört, den Linken neben uns bis aufs Messer zu bekämpfen. Wir haben viel bewirkt. Heute ist es Zeit für eine neue Sammlungspolitik links von der Mitte. Ziel dieser Sammlung ist die Verteidigung einer Idee: der europäische Sozialstaat, die europäische Demokratie, der europäische Frieden. Es lohnt sich, dafür von der Zuschauertribüne herabzusteigen. Im DFB-Pokalfinale 1973 wechselte sich der Fußballspieler Günther Netzer in der Verlängerung selbst ein und schoss das Siegtor. Es ist Zeit für einen solchen Netzer-Moment.