Deutsche Zweiheit

Von Axel Troost

03.10.2015 / 03.10.2015

Heute, 25 Jahre nach der Wiedervereinigung, bleibt festzustellen: »blühende Landschaften« sind ausgeblieben. Vielmehr hat der Osten auch heute noch mit den Folgen der tiefen Transformationskrise nach der deutschen Einheit zu kämpfen.

Schien die Krise ab 1992 zunächst durch eine aus Transfers und Subventionen entwickelnden wirtschaftlichen Dynamik heraus überwunden, so erlahmte dieser Aufschwung bereits Mitte der 1990er Jahre und kam gegen Ende des Jahrzehnts weitgehend zum Erliegen - lange bevor eine Annäherung der Wirtschaftskraft erreicht war. Die erreichten Fortschritte beim »Aufbau Ost« sind heute hinter den ursprünglichen Prognosen vieler PolitikerInnen, vor allem aber hinter den berechtigten Erwartungen vieler BürgerInnen, zurückgeblieben.

Die Entwicklung der Erwerbstätigkeit und Investitionen spricht wenig für eine Niveauangleichung bis 2020. Wahrscheinlicher wird die ostdeutsche Wirtschaft fast wie bisher bei 70 bis 75 Prozent des Westniveaus verharren. Durch Wegzug junger und gut ausgebildeter Menschen sank die Zahl der Erwerbspersonen in Ostdeutschland zwischen 2007 und 2013 um rund 400.000, während sie in Westdeutschland um mehr als drei Millionen zunahm. Zudem fraßen höhere Sozialausgaben und Unterstützungsleistungen finanzielle Spielräume aus dem Länderfinanzausgleich wieder auf –das lokale Schwimmbad musste trotzdem geschlossen werden.

Nach wie vor ist der Osten wirtschaftlich und sozial abgehängt,-- ohne selbsttragende Wirtschaft, als verlängerte Werkbank westdeutscher Unternehmen, deren Gewinne größtenteils dorthin zurückfließen, auch bezüglich Einkommen und Lebensniveau dauerhaft zurückbleibend. Sofern überhaupt noch ein Aufholen stattfindet, vollzieht es sich als »passive Sanierung«: Durch Rückgang der Bevölkerung erhöhen sich bei konstanter Produktion und Verbrauch die Pro-Kopf-Werte, nicht aber die Gesamtleistung und das regionale Gewicht.

Da diese Entwicklungen nicht länger kaschiert werden konnten, änderte die Bundesregierung lieber die Ziele: Galt bisher das Durchschnittsniveau West als Zielmarke, so wird nun eine »wirtschaftliche Konvergenz zwischen den neuen Ländern und strukturschwächeren westdeutschen Ländern« angepeilt. Die Antwort auf die erheblichen Unterschiede sind also nicht etwa verstärkte Anstrengungen, sondern Resignation und zementierte regionale Unterschiede.

Zudem brechen nun, im Zuge der Neuverhandlungen um den Länderfinanzausgleich, neue Gräben zwischen den Ländern auf. Bisherige Sonderzahlungen an die östlichen Bundesländer (Solidarpakt II) sollen nicht weiter verlängert werden.

Doch sollte nach 25 Jahren Aufbauhilfe nicht gar ein Schlussstrich gezogen werden unter die Ost-Transfers? Die Antwort ist ein klares Jein. Denn die Förderung sollte nicht einfach abgeschafft, sondern im Gegenteil sogar ausgedehnt werden, allerdings auf strukturschwache Regionen in Ost und West!

Erstens hat der Osten in Bezug auf die staatliche Infrastruktur nachgezogen, in weiten Teilen sogar den Westen überholt. Das Straßennetz im Westen, beispielsweise NRW, ist mittlerweile in deutlich schlechterem Zustand. Jetzt muss eine Förderung nach Bedürftigkeit erfolgen, nicht nach Himmelsrichtung.

Zweitens weisen auch im Westen ganze Regionen inzwischen die gleichen Strukturschwächen auf wie die östlichen Flächenländer. Genau wie im Osten, der in Bezug auf Firmenansiedlungen, und damit Arbeitsplätze und Steuereinnahmen, nicht aufschließen konnte, hatte und hat dies jedoch wenig mit guter oder schlechter Standortpolitik vor Ort zu tun.

Denn drittens sind Entwicklungslinien vor allem auf den Strukturwandel zurückzuführen, der von Länderregierungen kaum beeinflussbar ist. Denn warum sollten sich nach dem Ende von Kohle und Stahl im Ruhrgebiet genau dort automatisch Zukunftsbranchen ansiedeln, wenn diese Unternehmen erfahrungsgemäß eher aus bestehenden Innovations-Netzwerken herauswachsen? Warum sollten ganze Branchen, wie das Verlags- und Bankenwesen, welche nach der Teilung aus dem Osten in den Westen umsiedelten, sich nun wieder an ihren ursprünglichen Standorten ansiedeln? Oder gar die dominierende Autoindustrie die eingesessenen Regionen verlassen? Für eine große Verlagerungs- und Gründungswelle von Unternehmen waren im Osten weder die Subventionen hoch genug noch das Lohngefälle tief genug - und der gesamtdeutsche Binnenmarkt stand dem Westen auch ohne Verlagerung von Produktionsstätten offen.

Darüber hinaus wurden viertens die wenigen zarten Pflänzchen in Zukunftsbranchen, wie die sich z.B. auch im Osten ansiedelnde Solar- und Windenergie, mit der Teilabwicklung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes größtenteils mitabgewickelt. Massive Subventionen der Automobilindustrie wurden hingegen nicht in Frage gestellt. Die Wirtschaftspolitik des Bundes ist damit eine weitere Variable, die über das wirtschaftliche Schicksal ganzer Regionen entscheidet, ohne von diesen nennenswert beeinflusst werden zu können.

Wird kein echter Ausgleich unternommen, drohen weitere Auseinanderentwicklung und zunehmende Neiddebatten zwischen den Ländern. Zum grundgesetzlichen Anspruch auf gleichwertige Lebensverhältnisse gehört die gleiche Qualität und Quantität an Infrastruktur und Daseinsvorsorge durch staatliche Stellen. Der Länderfinanzausgleich, sowie in letzter Instanz der Bund, müssen dafür Sorge tragen, dass Länder und Kommunen als hauptsächlich Ausführende der Daseinsvorsorge überall im Bundesgebiet ihren Verpflichtungen gegenüber ihren Bürgern, wie auch zunehmend Geflüchteten, vollumfänglich nachkommen können. Bedingung hierfür ist, dass die Länder und Kommunen sowohl den gleichen finanziellen und politischen Spielraum pro Einwohner haben, als auch von strukturellen Sonderlasten verschont bleiben. Alles andere wäre geschichtsvergessen, ökonomisch unklug und menschlich unwürdig.

Der Text ist zuerst erschienen auf www.neues-deutschland.de und www.dielinke-sachsen.de