"Wir brauchen die Mehrheit der Zivilgesellschaft"

Von Bodo Ramelow

27.08.2015 / linksfraktion.de, 24.08.2015

Was am Wochenende in Sachsen geschehen ist, beschämt uns alle. Die rassistischen Ausschreitungen von Heidenau müssen der letzte Weckruf sein: Wir brauchen jetzt die Gemeinsamkeit aller Demokraten. Es ist unsere Pflicht darauf zu achten, dass wir in der Asyldebatte nicht Worte wählen, aus denen verbale Brandsätze werden können. Politiker demokratischer Parteien sollten keine Sätze verwenden, die anschließend von der NPD auf ihre Plakate geschrieben werden können. Wir müssen alles tun, um den Rattenfängern nicht das Feld zu überlassen – auch wenn uns der Zustrom von hilfesuchenden Menschen vor Herausforderungen stellt, die wir so nicht erwarten konnten.

Ja, es kommt mir manchmal so vor, als wären wir in der Geschichte von Hase und Igel gefangen: Egal was wir unternehmen – Unterkünfte suchen, Unterstützung geben – Land und Kommunen sind immer einen Schritt zu spät. Das gilt nicht nur für Thüringen, sondern für alle Bundesländer, für viele sogar stärker als für den Freistaat in der Mitte der Republik. Trotzdem sind wir fest überzeugt: Was wir in der Asyl- und Flüchtlingsfrage brauchen, ist kein ausladendes Recht, sondern ein einladendes Recht – ein humanitäres Bürgerrecht für Ausländer und künftige Neubürger.

Die Thüringer Landesregierung vertritt für die Zeit nach dem Aufenthalt in der Erstaufnahmeeinrichtung am konsequentesten das Konzept der dezentralen Unterbringung. Wir wollen aus Flüchtlingen Neubürger machen, denn wir brauchen ihren Fleiß und ihre Fähigkeiten. Wir wollen sie in Arbeit und Ausbildung bringen. Wir wollen, dass sie hier ein neues Leben beginnen, dass Thüringen für sie Heimat wird. Und wir formulieren ganz selbstverständlich: Integration heißt für uns religiöse Toleranz und gewaltfreies Zusammenleben.

Um die Aufgabe stemmen zu können, brauchen wir mehr Unterstützung aus Berlin. Wir erwarten eine Übernahme von 50 Prozent der durch die Unterbringung von Flüchtlingen entstehenden Kosten durch den Bund. Es gibt eine Reihe von weiteren Stellschrauben, die zur Entspannung der Situation in den Erstaufnahmeeinrichtungen beitragen können – und die meisten davon hat der Bund in der Hand: Stichwort Beschleunigung der Verfahren, was auch und vor allem im Interesse der Flüchtlinge ist, gerade wenn sie aus den Kriegsgebieten im Syrien und im Irak kommen. Die versprochene Aufstockung der Asylsachbearbeiter steht auf dem Papier. Passiert ist, wenn ich es einmal durch die Thüringer Brille betrachte, sehr wenig. Auch zur Einführung einer Gesundheitskarte mit Kostentragung des Bundes wurde ein Gesetzentwurf zugesagt. Und wir brauchen dringend die Öffnung der Integrations- und Sprachkurse für alle Asylbewerber, Bereitstellung zweckgebundener Mittel zur Schaffung von Wohnraum für Asylsuchende sowie eine Beteiligung des Bundes an den zusätzlichen Kosten für Fachkräfte der Jugendämter und der Einrichtungen der Erziehungshilfe zur Unterbringung unbegleiteter Minderjähriger.

Wir haben das Thüringer Erstaufnahmesystem nach dem Regierungswechsel Anfang 2015 mit knapp 500 Plätzen vorgefunden und es bis jetzt auf knapp 3.000 erhöht, ohne dass irgendwer länger als eine oder zwei Nächte in Zelten übernachten muss. Statt zwei gibt es jetzt fünf Einrichtungen. Die nächsten 1.000 Plätze sind in der Planung, eine Reserve von 1.000 Plätzen in der Hinterhand. Eine Task Force plant die Unterbringung stabsmäßig. Das ist unser Job, den kriegen wir auch erledigt, wenn wir es hinkriegen, dass Flüchtlingspolitik nicht zum parteipolitischen Kampffeld wird.

Worauf wir auch angewiesen sind, ist die Mehrheit der Zivilgesellschaft, die noch viel zu leise ist. Die Mehrheit, die helfen will, wenn Menschen in Not sind. Die Mehrheit, die an jedem Ort schnell bürgerschaftliche Unterstützungsinitiativen für die ankommenden Flüchtlinge bildet. Die Mehrheit, die gastfreundlich ist und neu ankommende Menschen integrieren will. Bitte zeigt Euch! Bitte werdet lauter! Sonst bestimmt die laute Minderheit, deren Sprachrohre in der NPD und der AfD sitzen, sonst bestimmt diese Minderheit die Politik.