Warum wir beim dritten sogenannten „Hilfspaket“ für Griechenland nicht mit „Nein“ stimmen

Von Stefan Liebich, Thomas Nord, Harald Petzold, Richard Pitterle, Kirsten Tackmann, Frank Tempel und Axel Troost

20.08.2015

Seit erst gut einem halben Jahr ist in Griechenland eine Regierung mit SYRIZA als stärkster Partei im Amt. Bei der Wahl am 25.01.2015 unterstützten 36% der Wählerinnen und Wähler unsere linke Partnerpartei. Das heißt, etwa 20% der Bürgerinnen und Bürger des Landes gaben ihr die Stimme. Das Kabinett von Alexis Tsipras hatte zum Zeitpunkt seiner Amtsübernahme nicht die Unterstützung der Mehrheit der griechischen Bevölkerung. Griechenland hat etwa 11 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, das sind 2% der EU Bevölkerung, sowie ein BIP von etwa 180 Mrd. Euro, das sind ca. 2% des BIP der EU und etwa 3% des BIP der Eurozone. Zum Zeitpunkt der Regierungsbildung hatte das Land eine Staatsschuldenquote von 180% vom BIP, eine Arbeitslosigkeit von ca. 25% und einen Einbruch der Wirtschaftsleistung von ca. 25% seit 2008.

In dieser trostlosen Situation ist Syriza mit den Versprechen angetreten, dass das Land entsprechend dem Wunsch der deutlichen Mehrheit der griechischen Bevölkerung in der Eurozone bleibt und sich zugleich nicht mehr dem Diktat der „Troika“ beugt, dass die Austeritätspolitik und die daraus resultierende Verelendung der Bevölkerung sowie der Niedergang der Wirtschaft beendet werden.

Jedem denkenden Menschen war klar, dass die griechische Linke diese Versprechen gegenüber der eigenen Bevölkerung nur realisieren konnte und kann, wenn sie dafür aus anderen europäischen Regierungen oder/und durch eine breite europäische Solidaritätsbewegung Unterstützung bekommt. Ob ersteres zukünftig passieren wird ist unklar. Bisher hatten jedoch intensive Bemühungen der Syriza-Politikerinnen und -Politiker leider zu wenig Erfolg, insbesondere bei den Regierungen der südeuropäischen Staaten, aber auch darüber hinaus Unterstützung für eine politische Kurskorrektur der EU zu finden. Auch die Europäische Linke wurde trotz aller Siegesfeiern im Januar und anschließenden Solidaritätserklärungen bisher in keiner Weise zu einem parlamentarischen oder außerparlamentarischen Faktor, der den griechischen Genossinnen und Genossen in den konkreten Auseinandersetzungen reale machtpolitische Unterstützung geben konnte. Die Unterstützung durch die europäische Gewerkschaftsbewegung beschränkte sich auf einige gut zu lesende Erklärungen, die jedoch ohne weitere Konsequenzen blieben.

Trotz weitgehender machtpolitischer Isolation und erbitterter Versuche maßgeblicher politischer Kreise der EU und insbesondere der Bundesregierung, die griechische Regierung zu destabilisieren und ihre Politikerinnen und Politiker zu diskreditieren, hat SYRIZA auf der europäischen Bühne konsequent und mutig die Sinnhaftigkeit der neoliberalen und vor allem deutschen Austeritätspolitik in Frage gestellt sowie in Griechenland selbst als auch in Europa die soziale Frage wieder in die Debatte gebracht. Das ist schon jetzt ein bleibender Erfolg dieser Auseinandersetzung. Denn das Lager der Befürwortung dieser Politik hat Risse bekommen oder dort, wo sie schon vorhanden waren, wurden sie auf dem Hintergrund der Griechenlanddebatte erst richtig sichtbar. Syriza ist im Positiven wie in den Niederlagen zurzeit der einzige kontinental tatsächlich wahrnehmbare Akteur der Europäischen Linken und Alexis Tsipras der einzige europaweit öffentlich wirksame Gegenpart zu Merkel und Schäuble.

Die Syriza-Regierung hat etwas Einmaliges in der Geschichte europäischer linker Parteien erreicht: die Befürwortung ihrer Politik durch eine deutliche Mehrheit in einem demokratischen Referendum. Und dies in einer Krisensituation mit weitergehenden negativen finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen. Das Referendum war nicht nur ein Erfolg, weil die europäischen Eliten erstmals in der Finanzkrise seit 2008 an die Grenze ihrer Manipulations- und Erpressungsmacht stießen. Die griechische Regierung bekam mit dem Ergebnis des Referendums – in einer Situation fast vollständiger Machtlosigkeit – ein Argument in die Hand, das selbst die zynischsten Vertreterinnen und Vertreter der anderen EU-Staaten und Institutionen nicht mehr ignorieren konnten: Die Unterstützung der Haltung dieser Regierung durch die Mehrheit der griechischen Bevölkerung kann nicht mehr angezweifelt werden, ohne die eigene antidemokratische Haltung und Scheinheiligkeit bei der Vertretung der sogenannten europäischen Werte vollständig offenzulegen.

Zugleich stieß aber diese Syriza-Regierung an die absolute Grenze ihrer Handlungsspielräume. Die Banken mussten schließen, alle Kassen des Landes waren leer, eine Zahlungsfähigkeit nicht mehr vorhanden, die Wirtschaft und die Gesellschaft standen vor dem allgemeinen Kollaps. Alexis Tsipras musste einen Weg finden, um die Handlungsfähigkeit der griechischen Regierung wenigstens teilweise wiederzuerlangen ohne dabei die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung zu verlieren. Er hat sich dabei vor dem Hintergrund, dass ein Teil der Gläubiger, insbesondere die deutschen, die griechische Krise nutzen wollten, um mit der Drohung eines Grexits ein deutsch-dominiertes „Kern-Europa“ durchzusetzen, für den Weg des „Kompromisses“ entschieden, um wenigstens Griechenlands Verbleib in der EU und im Euro zu retten. Damit mussten die Grexit-Befürworter widerwillig dem Druck insbesondere der sozialdemokratischen italienischen sowie französischen Regierung nachgeben und die rücksichtslose Durchsetzung ihres Zieles aussetzen, ohne es jedoch tatsächlich aufzugeben.

Syriza hat hier in einer fast aussichtslosen Situation – die Differenzen unter den Regierungen in den Eurostaaten erfolgreich nutzend – einen Teil der Hausaufgaben der deutschen Linken (von den Sozialdemokraten ganz zu schweigen) übernommen, die nicht im Ansatz in der Lage gewesen wäre, Angela Merkel und Wolfgang Schäuble in ihrem ideologisch bornierten Handeln aufzuhalten. Gerade die deutsche Linke hat schon daher nicht den geringsten Grund Syriza bzw. Alexis Tsipras im Zusammenhang mit dem Brüsseler Memorandum vom Juli 2015 eine Kapitulation vor den „Institutionen“ vorzuwerfen.

Dieses Memorandum war bitter in seinen Forderungen, aber die griechische Regierung und Alexis Tsipras haben gerade nicht kapituliert, sondern in einer wenig aussichtsreichen Situation gekämpft. Und dieser Kampf ist eben nicht zu Ende, sondern er geht mit dem dritten – von maßgeblichen politischen Kreisen in Deutschland weiterhin bekämpften – Hilfspaket in eine neue Runde des Widerstandes gegen die Austeritätspolitik in der EU und der Eurozone, eines Kampfes für eine solidarische und demokratische Zukunft der Europäischen Union.

Und diesen kann man nur auf dem Spielfeld mit seinen Gegnern führen, hinter der Seitenlinie ist man raus. Dabei hat es keinen Sinn, die gegenwärtigen Kräfteverhältnisse zu beschönigen und die Resultate des Brüsseler Juli-Memorandums zu relativieren. Es war richtig das Verhandlungsmandat der Bundesregierung für die Verhandlungen zum neuen Hilfspaket nicht zu befürworten, denn diese Regierung vertritt heute mit die reaktionärsten politischen Positionen in der EU. Teile von ihr streben gar nach einem neoliberalen deutschdominierten „Kern-Europa“. Davon ausgehend gibt es heute auch gute Gründe zu diesem sogenannten neuen „Hilfspaket“ „Nein“ zu sagen. Wer dieses „Nein“ jedoch gleichsetzt mit der Einschätzung, dass dieses Paket die definitive Niederlage und eine Kapitulation sei, wendet sich letztlich nicht nur gegen das Verhandlungsergebnis von Syriza, sondern gegen die Syriza-Regierung selbst, die die vereinbarten Maßnahmen umsetzen muss.

Nun ist aber diese Regierung gegenwärtig der mit Abstand einzige machtpolitische Aktivposten der Europäischen Linken. Alles was darüber hinaus gegenwärtig an Vorstellungen über den Einfluss linker Politik auf die realen politischen Prozesse geäußert wird, ist zumeist nicht vielmehr als Wunschdenken. Die Syriza-Regierung in Griechenland ist die Realität und es ist unsere reale Aufgabe als deutsche Linke, diese Regierung zu stützen – nicht sie zu stürzen oder zu destabilisieren.

Machtpolitische Erwägungen allein sind aber noch kein Grund, etwas anderes als „Nein“ zum jetzigen Verhandlungsstand zu sagen. Blinde Solidarität ist ebenfalls ein Irrweg, das hat die Geschichte bewiesen. Unsere Überlegung, nicht mit „Nein“ zu stimmen, beruht daher auch nicht allein auf diesen taktischen Überlegungen, sondern darauf, was unserer Ansicht nach der Syriza-Regierung im bisherigen Prozess gelungen ist: die Differenzen zwischen den Gläubigern zu nutzen, um deutsche Pläne für ein Grexit zu durchkreuzen und sich Chancen – wenn auch begrenzt – für politische Korrekturen der Gläubigerlinien zu erhalten und zu schaffen.

Dies betrifft im Einzelnen

  • die Frage des vom IWF geforderten Schuldenerlasses,
  • die zwischen IWF, der deutschen und der griechischen Regierung strittige Ausgestaltung des sogenannten Treuhandfonds,
  • die von der EU Kommission unterstützte Möglichkeit reale Mittel für Investitionen in die Wirtschaft zu erhalten und
  • die im sogenannten „Paket“ enthaltene Möglichkeit – neben sehr rigiden sozialen Einschnitten – auch in einzelnen Bereichen soziale Reformen im Interesse der ärmsten Griechinnen und Griechen durchzuführen.

Wir haben keine Illusionen. Die Nutzung dieser Chancen wird eine Herkulesaufgabe und es ist nicht sicher, dass es der Syriza-Regierung gelingt, aus einer im Wesentlichen negativen Konstellation heraus und gegen den hartnäckigen Widerstand insbesondere der deutschen Regierung eigene politische Ziele und Vorstellungen für eine sozial gerechte Politik in Griechenland umzusetzen.

Dies wird unserer Partnerpartei nur gelingen, wenn sie auf diesem Weg die Unterstützung der Mehrheit der eigenen Bevölkerung behält und zugleich die Europäische Linke in den anderen EU Staaten dafür eintritt, diese Chancen zu erhalten und diese Debatten in anderen Mitgliedsstaaten in die Auseinandersetzungen einzubringen. Wir wollen, dass auch die deutsche Linke diesen Weg geht.

Wir haben auch Verständnis, wenn andere diese Chancen nicht sehen. Zugleich bestärkt uns die Auseinandersetzung nicht zuletzt in der Unionsfraktion darin, dass auch Abgeordnete der Regierungsfraktionen diese Möglichkeiten sehen und sie gerade damit ihr „Nein“ begründen. Wir gehen davon aus, dass gerade diese Debatte in der Unionsfraktion ein Nachweis dafür ist, dass es Merkel und Schäuble nicht gelungen ist, das ihnen vom Bundestag erteilte Mandat bei den Verhandlungen eins zu eins umzusetzen, dass sich der Kampf der griechischen Seite für die eigenen Ziele weiter lohnt und dass es der Syriza-Regierung durchaus bei den kommenden Auseinandersetzungen helfen kann, dies auch mit unserem Abstimmungsverhalten deutlich zu machen.