Euro-Griechenland mal wieder vor der Entscheidung - Aufbau oder Grexit?

Von Rudolf Hickel

09.06.2015 / 05.06.2015

Die aktuelle Kontroverse zwischen den Geberinstitutionen und Griechenland erweckt den Eindruck, jetzt gehe es um die letzte Schlacht. Das Land stehe vor der Zahlungsunfähigkeit. Die letzten Barreserven in öffentlichen Einrichtungen wie Universitäten und Botschaften werden zusammengekratzt, um im Juni allein 1,6 Mrd. Euro an Krediten dem Internationalen Währungsfonds zurückzuzahlen. Weitere Zahlungen aus bisher gewährleisteten Krediten müssen in den kommenden Monaten bedient werden. Dabei betonen die Institutionen (EU, Eurorettungsfonds und IWF), das aktuelle Zahlungsproblem sei politisch einfach lösbar. Aus dem zweiten Hilfspaket steht noch ein Betrag von 7,2 Mrd. Euro zur Verfügung. Die gebenden Institutionen sind jedoch nur bereit, die noch offenen Finanzmittel freizugeben, wenn die Arbeitsmärkte zur weiteren Lohnsenkung gelockert und vor allem drastische Einschränkungen im Rentensystem durchgesetzt werden. Dazu wiederholt auch die Bundesregierung gebetsmühlenhaft das Tauschgeschäft: Finanzhilfen gegen Maßnahmen zur Senkung der Staatsschulden, vor allem durch Kürzungen von sozial relevanten Staatsausgaben und Steuererhöhungen zulasten der Masseneinkommen. Wegen der belastenden Folgen der bisherigen Schrumpfpolitik durch wachsende Armut und Produktionsverluste weigert sich die Tsipras-Regierung, die Bedingungen zu erfüllen. Ihre Begründung schwankt zwischen der Haltung, nicht zahlen zu wollen, aber auch schlichtweg nicht zahlungsfähig zu sein.

Dieser Dauerkonflikt ist höchst gefährlich. Durch den ständigen Streit schwindet bei den Geberinstitutionen die Akzeptanz und in Griechenland verbreitet sich tiefer Frust über die „verordnete Verarmung“. Wird diese lähmende Falle Finanzhilfen gegen Austeritätspolitik nicht durchbrochen, nimmt der gefährlich irrationale Druck zum Ausstieg Griechenlands aus dem Eurosystem zu. Das ist hochgradig gefährlich, denn ein Grexit wäre für alle Beteiligten negativ: Durch die massive Abwertung der Drachme würden die Importpreise steigen und eine galoppierende Inflation in Griechenland mit massiven realen Einkommensverlusten die binnenwirtschaftliche Basis belasten. Dagegen kann die Exportwirtschaft von den Preisvorteilen einer Abwertung der eigenen Drachme kaum profitieren. Denn es gibt dort keine international wettbewerbsfähige Exportwirtschaft. Diese aufzubauen ist vielmehr Ziel einer aktiven Wirtschaftsstrukturpolitik. Übrigens belegen auch die kaum gestiegenen Exporte gegenüber massiv gesunkenen Arbeitskosten seit 2009 die These von fehlenden Unternehmen im Bereich der Exporte. Kostensenkungen nützen hier wenig. Einzig und allein der Export von Tourismusdienstleistungen würde profitieren. Aber Griechenland braucht eben auch eine technologisch moderne Industriebasis. Über die Import-, Exportwirkungen hinaus durch den Grexit, wären tiefe Risse im Eurosystem zu erwarten. Ein Land, das die im Maastrichter Vertrag als „unwiderruflich“ erklärten Wechselkurse des Eurosystems aufkündigt, forciert den Wandel zum alten Wechselkursmechanismus mit hoher Instabilität, vor allem durch wieder aufziehende Spekulanten. Schließlich könnte dem Euroaustritt Griechenlands der Exit aus der EU folgen. Auch die geopolitische Lage unterliegt Veränderungen. Stärkere Kontakte mit Russland und China lägen auf der Hand. Durch den Grexit würde an der Grenze zur Türkei mangels eigener Selbstheilungskräfte ein dauerhaft armer Staat ohne große Entwicklungsperspektiven etabliert.

Also, die Schäden durch einen Grexit sind groß. Durch die ordnungspolitische Rechthaberei bei der derzeitigen Rettungspolitik, auch der deutschen Bundesregierung, nimmt jedoch gewollt oder ungewollt der Austrittsdruck auf Griechenland zu. Deshalb muss die derzeitige Doppelstrategie Finanzhilfen gegen Abbau öffentlicher Auf- und Ausgaben einer ideologiefreien Bilanzierung unterzogen werden. Am Anfang steht die Feststellung: Gegenüber den Finanzhilfen von über 240 Mrd. Euro durch die Institutionen ist Griechenland nicht in der Lage, aus eigener Kraft den Schuldenberg, der sich derzeit auf über 180 % des Bruttosozialprodukts beläuft, abzubauen. Die Wahrheit ist hart, aber unvermeidbar: Griechenland hat gemessen an den Gläubigerforderungen und der wirtschaftlichen Wachstumsschwäche die Zahlungsfähigkeit längst verloren. Dazu kommt ein Bankensystem, das nur noch mit Notkrediten (Emergency Liquidity Assistance) mit einem Gesamtvolumen von derzeit 80 Mrd. Euro durch die Europäische Zentralbank am Leben gehalten wird. Dabei ist gewiss, dass die mangelnde ökonomische Eigenkraft und die auf eigener Geschäftsbasis nicht überlebensfähige Bankenwirtschaft auch nach vielen Jahren wird noch nicht überwunden werden können.

Diese Einsicht wagt wohl aus innen- und außenpolitischen Gründen selbst die Tsipras Regierung nicht offensiv zu verbreiten. Immer wieder wird die Illusion von der eigenen ökonomischen Kraft zum Abbau des Schuldenbergs durch wirtschaftliches Wachstum suggeriert. Jedoch, nur durch Finanzhilfen für eine grundlegende Sanierung und Modernisierungsstrategie kann Griechenland aus den derzeitigen, existenziell erforderlichen Abhängigkeiten herauswachsen.

Dazu muss die bisherige Tabuisierung der belastenden Folgen der derzeitigen Rettungspolitik der Geberinstitutionen durchbrochen werden. Infolge staatlicher Schrumpfpolitik hat Griechenland seit 2009 ein Viertel seiner gesamtwirtschaftlichen Produktion eingebüßt. Auch die Versprechung, nach dem Absturz wird schnell zu Wirtschaftswachstum zurückgefunden, hat sich nicht erfüllt. Gegenüber einer durch die EU im November des Vorjahrs vorgelegten Prognose des Wirtschaftswachstums für 2015 mit knapp 4% durch die EU wird jetzt Stagnation, ja, ein weiteres Schrumpfen erwartet. Der Prognoseirrtum hat System. Die Selbstheilungskräfte werden maßlos überschätzt. Durch die Kürzung der Löhne und Gehälter, Jobverluste und die zusätzliche Besteuerung der Masseneinkommen ist die Binnenwirtschaft eingebrochen. Wie im Lauf zwischen Hase und Igel sind die Staatsschulden weniger gesunken als die Produktion, also die Schuldenquote auf über 180 % gestiegen. Vor allem Bundesregierung und die EU sind immer noch nicht bereit, über die gesamtwirtschaftlich schädlichen Wirkungen der verordneten Schrumpfpolitik Rechenschaft abzugeben. Die Annahmen über die heilsamen Wirkungen dieser kontraktiven Finanzpolitik basieren auf der neoliberalen Überschätzung der positiven Marktkräfte. Bisher war zur Selbstkritik nur der Internationale Währungsfonds bereit: Im Juni 2013 wurde in einem Arbeitspapier auf die unterschätzten Wirkungen dieser Fiskalpolitik hingewiesen: 100 Euro Ausgabenkürzungen haben bis zum 2,5-fachen an Produktionsverlusten geführt. Olivier Blanchard, damals dafür zuständiger Chefökonom beim IWF sowie Larry Summer, haben unlängst am Rande des G7-Finanzministertreffen in Dresden auf diesen Irrtum selbstkritisch hingewiesen. Unbeeindruckt von der Wirklichkeit verkündet auch die Bundesregierung immer noch die These von der auf das Wirtschaftswachstum segensreichen Wirkung einer Austeritätspolitik.

Die Alternative für eine Strategie, die die wirtschaftlichen Entwicklungskräfte Griechenlands stärkt und auch eine Rückkehr zu den internationalen Finanzmärkten in Aussicht stellt, gibt es. Die Ebenen und Instrumente sind:

  • 1. Die binnenwirtschaftliche Stärkung erfolgt über den Verzicht auf eine Umverteilung durch Lohnkürzungen, Sozialabbau und weitere Arbeitsplatzreduktionen. Hierzu gehört auch ein aktives Sofortprogramm gegen Armut, mit dem die schlimmsten Folgen der Austeritätspolitik aufgefangen werden sollten.
  • 2. Die derzeit durch die Finanzhilfen gebenden Institutionen aufgestellten Ziele, die Haushaltsüberschüsse ohne Zinszahlungen (Primärhaushalte) am Bruttoinlandsprodukt 2015 mit 3% und 2016 mit 4,5% zu erreichen, müssen zur Einschränkung des Spardrucks reduziert werden.
  • 3. Bisher sind die Finanzhilfen mit über 240 Mrd. Euro bis zu 90% in die Anschlussfinanzierung von zu tilgenden Krediten zugunsten der Gläubiger geflossen. Hier muss eine Umsteuerung zugunsten der Finanzierung öffentlicher Infrastrukturinvestitionen erfolgen. Griechenland braucht frisches Geld. Die Staatsschulden Griechenlands, die sich derzeit vor allem auf öffentliche Institutionen konzentrieren, sollten gesondert in einem sehr langfristig angelegten Altschuldenfonds abgewickelt werden.
  • 4. Zu diesem Entwicklungskonzept gehört der Aufbau einer wettbewerbsfähigen Exportwirtschaft im industriellen Bereich. Hierzu müssen Aktivitäten im Bereich Forschung und Entwicklung gebündelt werden.
  • 5. Eine innergriechisch wesentliche Aufgabe ist die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung auch zur Stärkung der Demokratie. Schwerpunkte künftiger Einnahmepolitik sind die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Korruption. Schließlich lässt sich die Ergiebigkeit des Steuersystems durch eine gerechte Lastenverteilung auch auf die Vermögenseliten realisieren.

Kürzere Fassung erschienen in der Frankfurter Rundschau am 05.06.2015