Globalökonomie am Scheideweg

Von Joachim Bischoff

16.11.2014 / sozialismus.de, 14.11.2014

Eine Reihe enttäuschender Konjunkturdaten der letzten Monate stellt die sowieso schon zurückhaltend ausgefallenen Prognosen für das Wirtschaftswachstum infrage. Angesichts geopolitischer Spannungen und unruhiger Finanzmärkte rechnet der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einem schwächeren Wachstum der Weltwirtschaft. Für 2015 ging der Währungsfonds von einem Plus von 3,8% aus und noch im Oktober billigte er der Eurozone eine Wachstumsrate von 0,8% für dieses und von 1,3% für nächstes Jahr zu. Vor allem die schleppende Entwicklung in der Eurozone sei – so der IMF jetzt – zu einem Risikofaktor für die Globalökonomie geworden. Im ungünstigen Fall stürze die Eurozone nach 2009 und 2012 in eine dritte Rezession.

Gründe für diesen möglichen »Tripel-Dip« gebe es viele. So habe die Ukraine-Krise die Nachfrage aus Russland gedrosselt. Im Vergleich zu den USA habe aber auch die Europäische Zentralbank (EZB) viel zu spät und zögerlich reagiert. Der IWF begrüßte daher die Entscheidung der EZB, die Leitzinsen niedrig zu halten und mehr Geld in das Bankensystem zu pumpen. Die EZB sollte zu weiteren Maßnahmen bereit sein, wenn die Preisentwicklung weiter nach unten gehe.

Auch das IFO-Institut sieht die weitere Konjunkturentwicklung skeptisch: Die globale Konjunktur verliere – so die jüngste Bewertung des IFO – spürbar an Schwung. Das Wirtschaftsklima trübe sich in allen Regionen ein. In Europa und den so genannten GUS-Staaten habe sich das Klima erheblich verschlechtert. Eine Reihe von Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie Lateinamerika bilden demnach das Schlusslicht: »In beiden Regionen ist das Ifo-Wirtschaftsklima so unterkühlt wie zuletzt vor fünf Jahren.«

Deutschlands Wirtschaft wird im laufenden Jahr bescheiden zulegen: Für 2014 dürfte es zu einem Plus von rund 1,2% reichen, so die meisten Experten. Für das kommende Jahr gehen die Prognosen aber auseinander: Während die Bundesregierung eine leichte Beschleunigung auf 1,3% erwartet, rechnen die »Wirtschaftsweisen«[1] mit einem Rückgang auf 1,0%.

In Frankreich, der nach Deutschland zweitgrößten Volkswirtschaft der Euro-Zone, wird der EU-Kommission zufolge die Konjunktur nicht richtig in Schwung kommen. Für das Gesamtjahr 2014 sagt sie nur ein Wachstum von 0,3%, für 2015 von 0,7% voraus.

Vor diesem Hintergrund hat der US-Finanzminister, Jacob Lew, Europa und Japan vor dem G20-Gipfel in Australien eine zu lasche und unentschlossene Wirtschaftspolitik vorgeworfen. Europa ignoriere das Risiko eines »verlorenen Jahrzehnts« beim Wirtschaftswachstum, wenn nicht aggressivere Anstrengungen unternommen werden, die Nachfrage anzukurbeln. Eine mögliche neue Rezession in der Eurozone könnte die fragile weltwirtschaftliche Erholung zum Stillstand bringen. »Die Welt kann sich kein verlorenes Jahrzehnt in Europa leisten.«

Lew warf zugleich die Frage auf, ob der wirtschaftliche Umbau in Japan ausreichend sein wird, um die Konjunktur der weltweit drittgrößten Volkswirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Auch hier mahnte er stärkere Maßnahmen zur Förderung des Wachstums an. Die Obama-Administration ist besorgt darüber, dass sich Japans Regierung zu stark auf die lockere Geldpolitik der Zentralbank verlässt, anstatt selbst Initiativen zu ergreifen, die Wirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen und die Wachstumsperspektiven zu verbessern. Das letzte Wort darüber, ob die Strategie von Ministerpräsident Shinzo Abe zur Restrukturierung der japanischen Wirtschaft genüge, um einen wirklichen Wandel zu erreichen, sei noch nicht gesprochen.

Die Probleme in Europa und Japan belasten aus Sicht der USA zusammen mit der Verlangsamung in den großen Schwellenländern das Wachstum der Weltwirtschaft und stellen auch ein Risiko für die Konjunkturerholung im eigenen Land dar. Die Weltwirtschaft steht laut Lew an einem Scheideweg. Während die US-Konjunktur offensichtlich Fahrt aufnimmt, ist die Regierung in Washington zunehmend frustriert darüber, dass die Staats- und Regierungschefs in Europa sich nicht schnell genug bewegen, um ihre Volkswirtschaften wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Stattdessen setzten sie auf die Europäische Zentralbank, um Investitionen anzuschieben. Die Geldpolitik sei, wie Lew betonte, erwiesenermaßen nicht ausreichend, ein gesundes Wirtschaftswachstum zu erzeugen.

Washington hat bislang die Abwertung von Euro und Yen als notwendige Starthilfe für neues Wachstum toleriert. Ein Anziehen der Konjunktur in Europa und Japan dürfte auch die Nachfrage nach US-Exporten befruchten. »Es ist entscheidend, dass die Länder sich an die Wechselkurs-Verpflichtungen multilateraler Gruppen wie IWF, G7 und G20 halten«, betonte der US-Finanzminister. »Die eigenen Probleme auf Kosten des Nachbarn zu lösen, kann angesichts der weltwirtschaftlichen Herausforderungen nicht der Weg sein.«

In diese Konstellation einer deutlichen Eintrübung der Perspektiven der Globalökonomie ordnet sich auch das diesjährige Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ein. Der generelle Tenor des Jahresgutachtens: Die »kurzfristige konjunkturelle Perspektive« sei eingetrübt, die Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft insgesamt aber »nach wie vor recht hoch«. Nach einem starken Beginn 2014 habe die deutsche Konjunktur nicht die Erwartungen erfüllt. Ein stabiler Aufschwung sei ausgeblieben.

»Mehr Vertrauen in Marktprozesse« – so lautet der Titel des Jahresgutachtens und damit ist zugleich die politische Stoßrichtung der Mehrheit der »Wirtschaftsweisen« auf den Punkt gebracht. Sechs Jahre nach Ausbruch der großen Wirtschafts- und Finanzkrise beklagen die Wirtschaftsprofessoren zu viel Staat, zu viel Regulierung, zu viele Hemmnisse für unternehmerische Entfaltung. Sie fordern wieder mehr Freiheit und weniger Gängelung in Deutschland.

Das von der Mehrheit der Sachverständigen vertretene pathetische Plädoyer für eine Entfesselung der Marktkräfte richtet sich gegen die in den letzten Wochen stärker gewordene Forderung, in Deutschland müsse mehr investiert werden, denn eine weiterer Substanzverlust des gesellschaftlichen Kapitalstocks gefährde die Zukunft der Republik. Die öffentliche Hand soll mehr investieren, in Forschung und Entwicklung, in Straßen und Leitungen, so der Tenor der öffentlichen Meinung. Die Große Koalition hat diesem Druck von innen und außen schon partiell nachgegeben. Finanzminister Schäuble will im kommenden Jahr weitere 10 Mrd. Euro für die öffentliche Infrastruktur lockermachen. Gleichwohl will die Bundesregierung an ihrem großen Ziel festhalten, vom kommenden Jahr an alle Ausgaben mit eigenen Einnahmen und ohne Kredite zu finanzieren. Den Spielraum von rund 10 Mrd. Euro, den ihr das Grundgesetz mit seiner Schuldenbremse lässt, möchte sie nicht nutzen.

Das ist auch richtig, unterstreicht die Mehrheit der fünf »Wirtschaftsweisen«. Eine Ausweitung des Staates durch höhere Ausgaben lehnt sie ab. Die finanzielle Situation erscheine nur günstig. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) profitiere von Sonderfaktoren, von niedrigen Zinsen, der guten Beschäftigungslage und der »demografischen Atempause«. Damit meinen die »Sachverständigen«, dass derzeit die geburtenstarken Jahrgänge arbeiten – sie gehen von 2020 an in die Rente. Derzeit füllten sie noch die Sozialkassen mit ihren Beiträgen.

»Der im Rahmen der Schuldenbremse bestehende finanzpolitische Spielraum sollte nicht genutzt werden«, um die unübersehbaren Defizite der öffentlichen Infrastruktur zu verringern – so die Argumentation der Mehrheit der Wirtschaftsprofessoren. »Denn die Glaubwürdigkeit der Fiskalregeln ist noch nicht gesichert.« Sie fürchten also, dass höhere Schulden das Vertrauen in die Politik erschüttern könnten, selbst wenn sie zu mehr Investitionen dienten.

Mit dieser politischen Kritik für eine weitere Entfesselung des Marktes haben vier von fünf so genannten Wirtschaftsweisen durchaus Wirbel ausgelöst. Die massive Kritik an Reformprojekten wie den von 2015 an geltenden Mindestlohn sowie die Verbesserung der Altersrenten für Mütter und Aussetzung der Abschläge für vorzeitigen Rentenbezug (für einige Jahrgänge) weisen die CDU und deren Minister zurück. »Es ist nicht ganz trivial zu verstehen, wie ein Beschluss, der noch nicht in Kraft ist, jetzt schon die konjunkturelle Dämpfung hervorrufen kann«, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach der Übergabe des Jahresgutachtens.

Die verteilungspolitischen Kleinstschritte können in der Tat die aktuelle Eintrübung der wirtschaftlichen Entwicklung nicht begründen. Für die Mehrheit der Wirtschaftsweisen steht gleichwohl fest: Die schwarz-roten Koalition trage zumindest einen Teil der Verantwortung für die schwächelnde Wirtschaft. »Der aktuelle wirtschaftspolitische Kurs stellt (…) eine Belastung für die wirtschaftliche Entwicklung … dar.«. Die Bundesregierung habe mit der Einführung des Mindestlohnes ein »sozialpolitisches Experiment mit unbekanntem Ausgang gestartet«. Die Ökonomen gehen davon aus, dass deshalb 2015 rund 100.000 Minijobs und etwa 40.000 sozialversicherungspflichtige Stellen weniger entstehen als ohne den Mindestlohn.

Dem widerspricht in seinem Minderheitenvotum Peter Bofinger deutlich. Er verteidigt die Einführung des Mindestlohns. Von einem Experiment mit unbekanntem Ausgang kann laut Bofinger nicht die Rede sein. In fast allen anderen hoch entwickelten Ländern sei der Mindestlohn seit vielen Jahren gängige Praxis. Die Erfahrung mit branchenspezifischen Mindestlöhnen in Deutschland habe zudem gezeigt, dass diese nicht zu einem Abbau von Arbeitsplätzen führen müssen. Im Friseurhandwerk und der Fleischindustrie war nach der Einführung einer Lohnuntergrenze sogar ein überdurchschnittlicher Rückgang der Arbeitslosenzahlen zu beobachten.

Auch in Sachen »Schwarze Null« und öffentliche Investitionen stellt sich Bofinger gegen die Positionen seiner Mit-Sachverständigen. So fordert er, dass die Bundesregierung zumindest den Rahmen der Schuldenbremse ausschöpfen sollte, um Bildung und Forschung zu fördern und private Investitionen durch bessere steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten anzuregen. »Die Zeit für öffentliche Investitionen war noch nie so günstig«, meint Bofinger. Deutschland könne damit etwas für Europa tun, wenn Frankreich oder Italien sparen müssten. Zurzeit könne der Staat Kredite fast zum Nulltarif aufnehmen. Öffentliche Investitionen brächten eine Rendite von zwölf Prozent bei Verkehrsprojekten und von rund zehn Prozent im Bildungswesen. »Wir brauchen nicht weniger Staat, sondern mehr Staat.« Wegen des Subtanzverlusts des gesellschaftlichen Kapitalstocks klaffe hierzulande eine gewaltige Investitionslücke. »Wir haben einen Leistungsbilanzüberschuss von 200 Milliarden Euro pro Jahr«, sagt Bofinger. »Das heißt, unsere Ersparnisse fließen überwiegend in niedrigverzinste Kredite im Ausland statt in Investitionen im Inland.«

Für das laufende Jahr rechnen die Wirtschaftsweisen nur noch mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Höhe von 1,2%. Zuvor gingen die Regierungsberater noch von einem Anstieg von 1,9% aus. Im nächsten Jahr rechnet das fünfköpfige Expertengremium nur noch mit einem Anstieg von 1,0%, die Bundesregierung selbst prognostiziert ein Plus von 1,3%.

Die Wirtschaftspolitik sollte dazu beitragen, das Wachstum zu stärken. Doch, so das Urteil des Sachverständigenrats: »Eine wirtschaftliche Aufbruchstimmung hat die Große Koalition jedenfalls bislang nicht erzeugt.« Dies bleibt wohl auch nach der Debatte um das Jahresgutachten so.

Besorgt ist die Mehrheit der »Wirtschaftsweisen« auch über die Auswirkungen der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) auf die wirtschaftliche Entwicklung im Euroraum: »Die EZB hat den Leitzins auf nahe Null gesenkt und umfangreiche quantitative Lockerungsmaßnahmen eingeleitet. Diese Politik birgt Gefahren für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung des Euro-Raums, nicht zuletzt in Form nachlassender Reform- und Konsolidierungsbemühungen in den Mitgliedstaaten.«

Die EZB solle »eine weitere massive Ausweitung ihrer Bilanz vermeiden, solange eine Deflation im Euro-Raum nicht prognostiziert wird«, schreiben die Top-Ökonomen in Bezug auf die Ankündigung von EZB-Chef Mario Draghi, die Bilanz der Notenbank mithilfe von weiteren Anleihekäufen auf das Niveau von Anfang 2012 aufzupumpen.

Hier springt der Sachverständigenrat erneut deutlich zu kurz. Die Fiskalpolitik der Mitgliedsländer sowie die lockere Geldpolitik der EZB müssen durch strukturelle Reformen in den Verteilungsverhältnissen und der gesellschaftlichen Nachfragestrukturen ergänzt werden. »Die Geldpolitik hat ihren Teil getan und wird das auch weiterhin tun, aber sie reicht nicht aus«, unterstreicht der EZB Präsident Draghi zu Recht.

Auch in der Europa-Politik ist daher der Dissens zu den Vorschlägen der Mehrheit des Sachverständigenrates unübersehbar. Die neoliberale Austeritätspolitik hat die seit sechs Jahren verschleppte Krise verschärft, die Ökonomien in den europäischen Krisenländern stranguliert. Ohne Wachstumsinitiativen kommt Europa nicht aus der Krise. Auch nach der Umsetzung der angekündigten Wertpapierkäufe und der damit angestrebten Erhöhung der Bilanzsumme der Notenbank bleibt die Frage, ob so der gewünschte Anschub des Wirtschaftswachstums in nennenswertem Ausmaß erreicht werden wird. Die Werkzeugkiste der EZB ist erschöpft. Selbst der Kauf von Staatsanleihen sieht nicht erfolgversprechend aus, denn die Zinsen sind bereits auf extrem niedrigem Stand, ohne dass Wachstum und Inflation gestiegen sind.

Geldpolitisch sind die jüngsten Schritte der EZB wie Zinssenkungen, neue Langfristkredite für die Banken und Wertpapierkäufe zu begrüßen. Gleichwohl: Die Geldpolitik alleine kann die Wirtschaftsschwäche nicht überwinden. Um die Wachstumsmöglichkeiten zu verbessern, sind neue öffentliche Investitionen notwendig – und finanziert werden könnten sie auch in Deutschland wie in derEuro-Zone.

[1] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, »Mehr Vertrauen in Marktprozesse«, Jahresgutachten, Jahresgutachten 14/15