Statistik schafft Beschäftigung

Von Wolfgang Kühn

02.11.2014 / www.alternative-wirtschaftspolitik.de, 30.10.2014

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) erwartet für dieses Jahr einen neuen Beschäftigungsrekord. Für 2014 werden rund 42,1 Millionen Erwerbstätige erwartet. Dies sei ein Plus von 240.000 Erwerbstätigen. Berechtigte Zweifel an der Höhe dieser Angaben gab es und gibt es fortwährend. Übersehen wurde bisher von der deutschen Öffentlichkeit, dass im Mai 2011 ein Zensus – eine vollständige Bestandsaufnahme der Einwohnerschaft und der Beschäftigung – mit einem Aufwand von über 700 Millionen Euro stattgefunden hat. Dessen erste Ergebnisse wurden – im Zeitalter hochentwickelter Rechentechnik – nach exakt zwei Jahren der Öffentlichkeit präsentiert. Die Bestandsaufnahme war ernüchternd: Im Mai 2011 lebten in der Bundesrepublik nicht wie zuvor behauptet 81,7 Millionen Menschen,sondern nur 80,2 Millionen –1,5 Millionen existierten nur in den Unterlagen der Behörden.

Ähnliche Differenzen gab es auch bei der Erwerbstätigkeit, an Stelle von zuvorausgewiesenen 41,1 Millionen Erwerbstätigen lebten zum Stichtag nur 39.985.940 erwerbstätige Personen in der Bundesrepublik – eine Differenz von 1,1 Millionen Menschen. Für die Erhebungsmethoden sowohl im Zensus als auch in der laufenden Erwerbstätigenstatistik galt die von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vorgeschriebene Definition, wonach als erwerbstätig gilt, wer in der Berichtswoche mindestens eine Stunde gegen Entgelt oder im Rahmen einer selbstständigen oder mithelfenden Tätigkeit gearbeitet hat. Das ist eine sehr großzügige Definition. Wäre die Erhebung nach diesen Richtlinien durchgeführt worden, wäre jede Beschäftigungsart, einschließlich aller Arten prekärer Beschäftigung wie Teilzeitarbeit, befristeten Jobs und Gelegenheitsarbeiten in den Zensus aufgenommen worden.

Wie wurde die hohe Differenz erklärt? Drei Jahre nach dem Zensus wurden im August 2014 etwa 60 verschiedene Statistiken zur Korrektur der 2011 durchgeführten Bestandsaufnahme genutzt. Das Statistische Bundesamt schreibt wörtlich dazu: „Erfahrungsgemäß kann etwa die Erfassung kleinerer (Neben-)Jobs – zum Beispiel von Schülern, Studierenden und Rentnern – oder von Tätigkeiten im Graubereich zur Schwarzarbeit in Haushaltsbefragungen problematisch sein. In der Erwerbstätigenrechnung werden daher für statistisch schwierig zu erfassende Beschäftigungsbereiche (zum Beispiel für Haushaltshilfen im Bereich der häuslichen Dienste) Zuschätzungen vorgenommen.“ Und weiter: „Darüber hinaus sind – im Gegensatz zur Erwerbstätigenrechnung –in den Ergebnissen des Zensus 2011 zur Erwerbstätigkeit Personen in ’sensiblen Sonderbereichen’(zum Beispiel in Justizvollzugsanstalten) nicht enthalten.“ Mit anderen Worten: Hochgerechnethaben also Hunderttausende Befragte vergessen, darüber zu informieren, dass sie am Stichtag des Zensus gearbeitet hatten.

Der Verweis des Amtes auf kleine methodische Differenzen, dass im Zensus Stichtagszahlen und keine Durchschnittsangaben von Monaten oder Quartalen ermittelt werden und mit dem Zensus nur die Einwohner der Bundesrepublik gezählt wurden, jedoch nicht im Ausland wohnende, aber in Deutschland arbeitende Personen, kann lediglich einen geringen Bruchteil der Differenz von 1,1 Millionen Erwerbstätige erklären. Ein Buchhalter mit derartigen „Inventurdifferenzen“erwirbt wenig Vertrauen. Es bleibt dem Urteil des Lesers überlassen, zu entscheiden, ob der Zensus eine Geldverschwendung wie der Flughafen BER war. Vielleicht waren aber auch die Ergebnisse der Erhebung nicht erwünscht und wurden drei Jahre später passend gemacht.

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Zuerst erschienen in: Neues Deutschland vom 30. Oktober 2014