Das Beispiel Griechenland: Die Rettungspolitik Finanzhilfen aus dem Rettungsfonds gegen staatliche Schrumpfpolitik ist gescheitert

Von Rudolf Hickel

29.06.2014 / Juni 2014

Die in jüngster Zeit verbreiteten Erfolgsmeldungen zur ökonomischen Entwicklung Grie­chenlands sind ärgerlich. Sie erwecken den Eindruck, die finanziellen Hilfsmaßnahmen durch die Geberländer könnten eingestellt werden. Griechenland schaffe den Aufschwung aus eigener Kraft. Diese Schlussfolgerung ist gefährlich töricht. Denn das durch die Geber­länder aufoktroyierte Tauschgeschäft konnte nicht aufgehen: Ihr Krisenländer erhaltet Hilfen zum öffentlichen Schuldenmanagement im Tausch gegen einen rigorosen Abbau staatlicher Ausgaben insbesondere im öffentlichen Dienst sowie im Sozialsystem. Das derzeit be­schworene Comeback Griechenlands auf den Kapitalmärkten, die sich reduzierenden Han­delsbilanzdefizite sowie die leichten Haushaltsüberschüsse im Staatsbudget allerdings ohne die Zinslasten (Primärhaushalt) können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die durch die EU, den Internationalen Währungsfonds sowie die Europäische Zentralbank zu verantwor­tende Rettungspolitik gescheitert ist.

Im Zentrum der Rettungspolitik stand bisher das Ziel - gemessen am Bruttoinlandsprodukt - die Staatsverschuldung durch massive Kürzungen bei den öffentlichen Aufgaben, Erhöhung vor allem von Verbrauchssteuern sowie die Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Senkung der Arbeitseinkommen zurückzuführen. Die Staatsausgaben bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt sind zwar deutlich gesenkt worden. Aber der Anteil der Staatsver­schuldung an der gesamtwirtschaftlichen Produktion wächst auch absehbar in den kom­menden Jahren. Mit den Finanzhilfen bei der Abwicklung des Schuldendienstes zugunsten der Gläubiger ist die Quote der gesamten Staatsverschuldung vom Höchstwert mit 107,3% in 2006 bis 2013 mit einer Ausnahme im Jahr 2012 auf 179,5% kontinuierlich gestiegen. Auch hat im vergangenen Jahr die Neuverschuldung nochmals um fast 7 Mrd. ¤ zugenom­men. Diese Erfolglosigkeit beim Staatsschuldenabbau zwang die von den Geberinstitutio­nen eingesetzte Troika-Kontrollgruppe unlängst darauf hinzuweisen, dass voraussichtlich 2020 immer noch mit einer Schuldenstandsquote von 124% zu rechnen ist.

Wie lässt sich der Widerspruch zwischen der Troika- Politik eines hart durchgesetzten schrumpfenden Staatsbudget mit dem propagierten Ziel der sinkenden öffentlichen Kredit­aufnahme gegenüber dem faktischen Anstieg der Schuldenlast im Verhältnis zur gesamt­wirtschaftlichen Produktion erklären? Die Antwort verlangt lediglich makroökonomisches Grundwissen. Zwischen der staatlichen Schrumpfpolitik und der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung gibt es generell eine Rückkoppelung. Die Wirtschaft ist über den politisch er­zwungenen Rückgang der binnenwirtschaftlichen Nachfrage tief abgestürzt. In Griechenland schrumpft die Gesamtwirtschaft seit 2008 absolut. Die Produktionsverluste erreichten 2001 mit über 7% absolutem Produktionsrückgang den bisherigen Höhepunkt. Im vergangenen Jahr belief sich die makroökonomische Schrumpfung immer noch auf 4,2%. Da jedoch das Bruttoinlandsprodukt schneller sank als die Neuverschuldung reduziert wurde, musste die Staatsschuldenquote steigen. Die Schrumpfpolitik trägt dafür die Verantwortung. Denn zwi­schen der gesamten staatlichen Veränderung der Nachfrage und der gesamtwirtschaftli­chen Entwicklung besteht ein Multiplikatoreffekt. Im Fall der Austeritätspolitik ist der Multipli­kator negativ. Also sinkt mit dem Abbau von Staatsausgaben die gesamtwirtschaftliche Pro­duktion um ein Vielfaches. Olivier Blanchard, der Chefökonom des Internationalen Wäh­rungsfonds musste zugegeben, dass er die Höhe dieses negativen Multiplikators für Grie­chenland zu gering veranschlagt hat, also die faktische Schrumpfung des Bruttoinlandspro­dukts unterschätzt wurde. Dagegen sind die positiven Multiplikatoren einer öffentlichen In­vestitionsoffensive nicht in die Betrachtung einbezogen worden.

Auch die scheinbar positive Schrumpfung des Handelsbilanzdefizits ist auf dieses Tausch­geschäft Finanzhilfen gegen Austeritätspolitik zurückzuführen. Bei chronisch niedrigen Ex­porten sinken infolge rückläufiger Binnennachfrage die Importe nach Griechenland. Diese makroökonomischen Kennziffern zum Zusammenhang von wirtschaftlicher Krise einerseits und steigender Staatsschuldenquote bei sinkenden Handelsbilanzdefiziten signalisieren katastrophale Belastungen: Durch den Sozialabbau hat sich die Armut tief in die Mittel­schicht ausgebreitet und mit der reduzierten Lohnsumme ist die binnenwirtschaftliche Nach­frage geschrumpft. Bei der Arbeitslosenquote dominiert seit 2008 ein kontinuierlicher An­stieg von 7,7% auf 27% im letzten Jahr. Besonders hart von totaler Perspektivlosigkeit be­troffen sind die Jugendlichen, denen mit über 50% kein Job zur Verfügung steht.

Die gescheiterte Rettungspolitik ist allerdings kein Beleg dafür, dass Griechenland nicht ge­rettet werden kann. Der Aderlass beim Patienten, der zum Tode zu führen droht, muss be­endet werden. Die dagegen gerichtete Forderung nach dem Exit Griechenlands aus dem Euro-Währungssystem ist niemals die Alternative. Denn bei einem strukturell schwachen Exportsektor bringen die Preisvorteile im internationalen Wettbewerb durch eine stark ab­gewertete Drachme keine Lösung. Schließlich würde auch der hohe Anteil an importierten Gütern und Dienstleistungen zum Inflationsimport führen und Realeinkommensverluste er­zeugen. Der einzige Vorteil durch den verbilligten Export von Tourismusdienstleistungen fällt gegenüber den gesamtwirtschaftlichen Schäden eines Zurück zur Drachme kaum ins Ge­wicht. Das Drachmen-Griechenland bliebe auf lange Sicht eine Elendsökonomie innerhalb der EU. Die Rückkehr zur eigenen Währung würde das gesamte Europrojekt gefährden.

Griechenland muss endlich von der Last der gesamtwirtschaftlichen Kosten der aufoktro­yierten staatlichen Schrumpfpolitik befreit werden. Das Land braucht Luft zum Atmen und unmittelbare Wirtschaftshilfen. Denn die bisher in drei Etappen verfügbar gemachten Fi­nanzhilfen aus dem Rettungsfonds dienen ausschließlich der Finanzierung von auszuzah­lenden Staatsschulden an die Gläubiger. Kein Euro steht zum Aufbau der Wirtschaftsstruk­tur zur Verfügung. Nachdem die Geldgeber und ihre Berater erkennen müssen, dass sie die belastenden Wirkungen durch ihre Politik der Schuldenreduktion peinlich unterschätzt und die Rettungsrechnung nach oben getrieben haben, ist ein radikaler Kurswechsel unver­meidbar. Ein erster Schritt ist wenigstens die Forderung nach einer inhaltlich begründeten Neuinterpretation des Fiskalpakts. Sigmar Gabriel hat ökonomisch und politisch recht, wenn er die Krisenstaaten vom Druck des Staatsschuldenabbaus befreien will. In den Mittelpunkt muss eine Politik der wirtschaftsstrukturellen Stärkung Griechenland gestellt werden. Die zu erwartenden ökonomischen Erfolge lassen sich zur Bändigung der Staatsverschuldung nut­zen. Die Alternative zur erfolglosen Austeritätspolitik ist ein „Marshall-Plan“, der sich mit un­terschiedlichen Maßnahmen auf die Stärkung der wirtschaftlichen Wachstumskräfte kon­zentiert.

Allmählich kapieren auch die hartnäckigen Protagonisten der bisherigen Politik, dass diese krisenverschärfend gewirkt hat. Einige EU-Länder sowie die SPD in der Bundesregierung verlangen „mehr Zeit beim Schuldenabbau durch Reformen“. Nicht die verabsolutierte Ziel­marke Abbau öffentlicher Schulden, sondern die wirtschaftliche, soziale und ökologische Politik des Aufbaus muss den Ausgangspunkt bilden. Damit lassen sich in der mittleren Frist über sinkende öffentliche Krisenkosten und wachsende Steuereinnahmen auch Staats­schulden abbauen bzw. vermeiden.

Der Einwand, diese inhaltliche Neuinterpretation widerspreche dem EU-Vertrag, ist nicht falsch. Aber dieser Ende 1990 im Klima von hohen Wachstumsraten der Wirtschaft verhan­delte Pakt erweist sich heute als untauglich. Seine strenge Anwendung treibt die Eurokrise voran. Bei der Beschränkung der staatlichen Neuverschuldung auf 3% des Bruttoinlands­produkts und der Gesamtverschuldung auf 60% konnte damals noch von einem nominalen Wirtschaftswachstum von fünf Prozent ausgegangen werden. Wenn heute bei insgesamt schwächeren Wachstumsraten dieser viel zu positive Erwartung unterstellt wird, dann muss die darauf abgebildete Staatschuldendeckelung scheitern. Genau diese Debatte, die die sozialdemokratischen Politiker der EU begonnen haben, muss frei von politischem Oppor­tunismus geführt werden. Dazu gehört auch der Vorschlag des italienischen Ministerpräsi­denten, öffentliche Investitionen, die volkswirtschaftlich und ökologisch künftigen Generatio­nen dienen, wieder über öffentliche Kredite zu finanzieren. Damit schöpft der Staat für sinn­volle Projekte überschüssige Geldvermögen der privaten Haushalte ab.