Aufstieg der Parallelgesellschaft? Kann die französische Linke hinzulernen?

Von Bernhard Sander

17.06.2014 / sozialismus.de, 15.06.2014

Die französische Linke steht weiterhin unter dem Schock des Triumphs des rechtspopulistischen Front National. Offenbar haben weder dieser oder zuvor die Große Krise nach 2008 noch das Versagen der Sozialdemokratie bei deren Bewältigung dafür gesorgt, dass die Ursachen für diese Probleme genauer untersucht wurden bzw. werden.

Man weiß aus der Nachwahluntersuchung der Präsidentschaftswahl 2012, dass in den Einkommenskategorien unter 1.000 Euro 24% Marine Le Pen wählten. 2014 gaben in einer Umfrage 46% der Befragten mit einem Haushaltseinkommen von 1.200 bis 2.300 Euro an, »Marine Le Pen habe doch gute Ideen für Frankreich« (2009 betrug das statistische Durchschnittseinkommen eines Arbeiterhaushalts 1.563 Euro). In diesen niedrigen Einkommenskategorien ist allerdings auch die Wahlenthaltung überdurchschnittlich.

Die Frage nach den Ursachen sollte sich nicht auf die bisherigen Antworten (Armut, Medienmacht und niedrige Bildungsabschlüsse) begrenzen, sondern selbstkritisch die eigene Entwicklung in die Erklärung einbeziehen. Denn nicht nur der Front National bindet Potenzial der Linken, sondern es gibt auch einen Rechtsschwenk dort, wo man ihn nicht vermutet hätte: bei den Zugewanderten. Das war bereits bei der Wahl von Nicolas Sarkozy zum Staatspräsidenten spürbar. Die Linke hat Schwierigkeiten, den Kontakt mit den Lebenswelten großer Teile der Benachteiligten zu halten.

Der Niedergang des Sozialstaats am Ende des Fordismus und die marktradikale Eigentümergesellschaft des Neoliberalismus unterminierten die Gestaltungsmöglichkeiten der Linken in den Kommunen und Stadtvierteln. Der Einflussverlust traf nicht nur die Akteure der Sozialdemokratie (14% bei der Europawahl), sondern auch den PCF und die von den Kommunisten mitgetragene Linksfront, die seit 2002 an keiner Regierung mehr auf nationaler Ebene beteiligt waren.

Zwischen den Kommunalwahlen 2008 und 2014 hat der PCF sechs Städte im Département Seine-Saint-Denis verloren. 1977 verwalteten die Kommunisten in diesem Département rd. 80% der Gesamtbevölkerung, heute sind es noch 26%. Im benachbarten Val-de-Marne[1] ging der Anteil von 50% auf 30,8% zurück. Der ehemalige sprichwörtliche rote Gürtel um die Hauptstadt Paris existiert nicht mehr.

Objektiv hat sich auch in diesen Städten die soziale Spaltung vertieft, wenn man beispielsweise den Ungleichheitskoeffizienten heranzieht, der mit 0,40 über dem französischen Durchschnittswert von 0,37 liegt. Das Netto-Einkommen der untersten 10% in Bobigny liegt mit 255 Euro unter dem französischen Durchschnitt (577 Euro) und auch das reichste Zehntel hat mit 2.156 Euro weitaus weniger Pro Kopf-Einkommen als der Durchschnitt (3.247 Euro). Noch extremer Clichy-sous-Bois (Gini-Koeffizient 0,44), wo tagelange besinnungslose Randale den damaligen Staatspräsidenten Sarkozy so erschreckten, dass er den nationalen Ausnahmezustand ausrief.

Die Verarmung ging einher mit gravierenden sozial-geografischen Verschiebungen im Großraum um die Hauptstadt, die für die Glaubwürdigkeit jeder politischen Formation von Bedeutung sind. Jede Stadt der »kleinen Krone« kämpft – meist auf sich gestellt – gegen die Attraktivität der Metropole Paris. Gleichzeitig bilden sich neue Zentren in der Fläche (Roissy, Marne-la-Vallée, Plaine de France), die nicht durch die Politik der Départements gesteuert werden, und wo die Einkommen entschieden höher liegen und damit innerhalb des Départements polarisieren. Da ist zum Dritten die Konzentration auf die Verwaltungszentren der Départements. In verändertem Maßstab kann man diese Entwicklungen auch für Marseille, Lille oder andere Agglomerationen feststellen.

Zwar haben kommunistische Lokalpolitiker diese problematischen Entwicklungen vereinzelt schon in den 1980er Jahren aufgezeigt, aber das blieb für die Politik der Partei weitgehend folgenlos. In der Folge verlor der PCF seine organische Verbindung zur Wählerschaft.

In Bobigny[2] mit 47.000 Einwohnern stellte der PCF seit 1919 den Bürgermeister. Bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2014 fiel die Stadt an die rechtsliberale UDI (unterstützt von UMP), weil die dort lebende migrantische Bevölkerung, die sich oft in die zweite Reihe gedrängt, in den Entscheidungszentren der Stadt nicht sichtbar und nur bei Volksfesten als Folklore erwünscht fühlt, sich mit dem Slogan »Gebt uns unsere Stadt zurück« identifizierte.

Das Kommunalwahlrecht, das Staatspräsident Hollande nun unter dem Eindruck von Le Pens Wahlsieg aus dem Gesetzgebungsverfahren gestrichen hat, wurde auch von den Kommunisten Bobignys nicht mit Nachdruck verfolgt. Hinzu kommt, dass »der weiße, an Frantz Fanon anti-kolonial geschulte Aktivist niemals den Stolz meiner Mutter verstehen wird, als sie Rachida Dati bei ihrer Ernennung zur Justizministerin im Fernsehen sah«. Dati stammt aus einer kinderreichen Zuwandererfamilie aus der Provinz, ihr Vater war Hilfsarbeiter. Es sei eine Frage der Würde, die ein Linksradikaler niemals verstehen könne, eine gut gekleidete Araberin akzentfrei auf dem Medienparkett zu erleben, selbst wenn sie »objektiv« gegen meine Interessen gerichtet sei.

Vor diesem Hintergrund sind viele autonome Listen bei den Kommunalwahlen seit 2008 zu erklären, die sich »außerhalb des weißen politischen Feldes« definieren, auch wenn ihr Erfolg in Bobigny bescheiden blieb. Aber der UMP-Bürgermeisterkandidat hat diese Stimmung aufgenommen. Dass »uns« in »Gebt uns unsere Stadt zurück!« ist die verschleierte Frau, der Fabrikarbeiter, der Rentner, der für die Unabhängigkeit Algeriens demonstrierte und dafür 1961 fast erschossen worden wäre wie Hunderte andere. Das ist der Wunsch nach einer Moschee, in der man sich nicht eingepfercht fühlt; der Wunsch, dass im Ramadan, den drei Viertel der Stadt feiern, die Straßen genauso festlich dekoriert sind wie zu Weihnachten; das ist der Wunsch nach einer besseren Ausstattung der Schulen mit Personal und Material.

Die Bevormundung (»Wir wissen schon, was richtig für euch ist; wir sind die Guten«) durch die PCF-Kommunalverwaltung stößt auf Misstrauen, zumal die Spielräume für die Lokalpolitiker immer enger werden. Das kann sich in den Vorwurf verkehren lassen, dass die kommunistische Verwaltung davon lebt, die Engpässe zu verwalten, soziale Anwartschaften zu verteilen (z.B. Wohnungen usw.) und die Leute daran zu hindern, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen.

Auf der Liste der amtierenden kommunistischen Partei waren 14 von 43 Kandidierenden Zuwanderer, auf der UMP-Liste 27, darunter zwei Verschleierte. Die Forderungen der UMP nach Video-Überwachung und Auflösung der Roma-Camps sind bei den Zugewanderten verbreitet, auch wenn die Algerier Anfang der 1960er Jahre in ebensolchen Wellblechhütten hausten. Die Wahl gewann 2014 der UMP-Kandidat. Die Wut auf die selbstbezügliche, paternalistische und an universalistischen Werten orientierte Linke war zu verbreitet.

Der Publizist René Monzat kommt bei einer Detail-Analyse der Wahlergebnisse von Marseille zu ähnlichen Ergebnissen. Neben der teilweisen massiven Enthaltung haben autonome Listen das Rechts-Links-Spiel durchbrochen.

Der Rechtspopulismus reagiert ähnlich auf die gesellschaftlichen Entwicklungen, die der Neoliberalismus ausgelöst hat. Dabei geht es ebenfalls um das Element der Selbstbestimmung, ohne die Produktionsverhältnisse (Konkurrenz) in Frage zu stellen: »Die Franzosen wollen wieder Herr im eigenen Land werden. Sie wollen über ihre Wirtschaft bestimmen, ihre Einwanderungspolitik. Sie wollen, dass ihre Gesetze über denen der EU stehen. … Wir waren eines der reichsten Länder der Welt, nun befinden wir uns auf dem Weg in die Unterentwicklung.

Diese Austerität, die den Menschen auferlegt wird, funktioniert nicht. Die Leute werden sich nicht erdrosseln lassen, ohne aufzubegehren. … faire Konkurrenz. Das Problem ist die totale Öffnung der Grenzen, das Gesetz des Dschungels: Je weiter ein Unternehmen heute geht, um Sklaven zu finden, die es wie Tiere behandelt, für einen Hungerlohn, ohne die Umweltgesetze zu beachten, desto mehr verdient es. … Wir haben Millionen Arbeitslose und können uns keine Einwanderung mehr leisten. Wo sollen wir diese Leute unterbringen? Das kann nicht funktionieren.«[3]

[1] Val-de-Marne gehört zu den Départements, die nach den Modernisierungsplänen Präsident Hollandes aufgelöst werden sollen, auch wenn sich zwei Drittel der Bevölkerung dem entgegenstellen.
[2] Diese Ausführungen basieren auf Aya Ramadan, www.indigenes-republique.fr, die Seite einer kleinen politischen Partei.
[3] Marine Le Pen Spiegel-Interview 2.6.2014