Flächendeckende Mindestlöhne: Epochenwandel auf den Arbeitsmärkten – Sieg der Vernunft über neoklassi­sches Marktversagen

Von Rudolf Hickel

30.03.2014 / 30.03.2014

Das gesellschaftliche Megaprojekt eines flächendeckend gesetzlich regulierten Mindest­lohns ist nicht mehr aufzuhalten. Sicherlich sind gegenüber dem lupenreinen, in sich konsis­tenten Konzept einer gesetzlich fixierten Lohnuntergrenze unter dem Druck massiver Kritik von Wirtschaftsverbänden und neoklassischen Ökonomieberatern auch problematische Kompromisse durchgesetzt worden. Dazu zählt die Vorgabe, Jugendliche unter achtzehn Jahren müssten vor der Wahl eines kurzfristig günstigen Mindestlohnjobs gegenüber einem Ausbildungsplatz „selbst geschützt“ werden. Auch die geplante Sonderregelung für Lang­zeitarbeitslose ist problematisch. Allerdings sind im bisherigen Entscheidungsprozess über das Mindestlohngesetz die vielen Versuche, ganze Branchen zur Ausnahmezone zu erklä­ren, verhindert worden.

Arbeitsmarktpolitischer Paradigmenwechsel

Bei aller Vorsicht mit historischen Überhöhungen, wenn am 2. April das Bundeskabinett das Gesetz zur flächendeckenden Lohnuntergrenze auf den parlamentarischen Weg bringt, dann ist auf den deutschen Arbeitsmärkten ein fundamentaler Epochenwechsel vollzogen worden. Künftig richtet sich ordnungspolitisch eine gestaltende Politik gegen das systemi­sche Marktversagen gewinnwirtschaftlich entfesselter Arbeitsmärkte. Mit diesem Mindest­lohngesetz sowie den weiteren Maßnahmen zur Regulierung der derzeit ausbeuterischen Leiharbeit und der für die Beschäftigten inhumanen Werkverträge sowie einer Stärkung des gesamten Tarifvertragssystems wird aus der Agenda 2010 ausgestiegen. Nicht nur mit dem Hartz IV-Gesetz konzentrierte sich dieses Paradigma auf die Entfesselung der Arbeitsmärk­te. Arbeitslosen wurde am Ende der Preis abverlangt, einen schlechter bezahlten Job an­nehmen zu müssen. Der Niedriglohnsektor expandierte in Windeseile. Neue Formen der Billiglohn-Ausbeutung, mit der auch

Vollzeitarbeitsplätze verdrängt wurden, sind kreiert worden. Die Folgen dieser entfesselten Arbeitsmärkte sind unübersehbar. Über acht Millionen Menschen arbeiten unterhalb von zwei Drittel des mittleren Lohns (9,30 ¤ pro Stunde). Fast sieben Millionen werden derzeit nur mit bis zu 8,50 ¤ für die Arbeitsstunde abgespeist.

Gegenüber den Fehlentwicklungen aus der Schröderschen Agenda-Politik brachten bereits die derzeit dreizehn Branchen, in denen die Tarifparteien allgemein verbindlich erklärte Min­destlöhne durchgesetzt hatten, Entlastung. Nach Beendigung der noch geltenden Tarifver­träge unterhalb des Mindestlohns gilt ab 2017 flächendeckend der Mindestlohnsatz mit 8,50¤ pro Arbeitsstunde. Damit ist die Lohndisziplinierung nach der Agenda 2010 endgültig zu Grabe getragen. Die dumme Rechtfertigung „Arbeit sei besser als Arbeitslosigkeit“, mit der Beschäftigte in die Einbahnstraße des Niedriglohns gezwungen wurden, wird durch das Zielsystem „gute Arbeit“ abgelöst. Diese Überschrift zum entscheidenden Kapitel über die Re-Regulierung der Arbeitsmärkte im Vertrag der Großen Koalition ist aus den seit Jahren propagierten Beschlüssen der Gewerkschaften komplett übernommen worden. Es geht also nicht mehr um jede Arbeit, sondern um gut bezahlte und arbeitsrechtlich abgesicherte Jobs, die besser als Arbeitslosigkeit sind. Der Sieg der Vernunft geht maßgeblich auf die Aktionen der Gewerkschaften, aber auch auf viele gesellschaftliche Mindestlohninitiativen sowie Posi­tionen einiger Parteien zurück. Ohne die SPD wäre dieses Projekt in einem Koalitionsver­trag nicht ernsthaft verankert worden. Allerdings tut sich die SPD vor allem auf der Ebene der Führungsfiguren, die sich heute in der Großen Koalition immer noch als stolze Agenda-Politiker empfinden, mit dem Bekenntnis zum klugen Paradigmenwechsel schwer. Die SPD braucht endlich den Mut, sich ohne nostalgischen Blick auf eine gescheiterte Entfesselung der Arbeitsmärkte den durch sie forcierten Wechsel zu ordnungspolitisch regulierten, zu­kunftsfähigen Arbeitsmärkten zu bekennen. Das schafft Vertrauen in die weitere Entwick­lung dieser neuen Arbeitsmarktpolitik.

Empirie: Vergebliche Suche nach Jobkillerwirkungen

Das Primat der Politik hat endlich mal wieder gesiegt. Die Wirtschaftsverbände befinden sich im Kampf um Ausnahmen von der Regel auf dem Rückzug. Schließlich gibt es auch Unternehmen, die endlich vor der Lohn-Schmutzkonkurrenz geschützt werden wollen. Es gibt nur noch eine hartnäckige Gruppe, die gegen die Mindestlöhne Fundamentopposition betreibt. Es ist die beratende Wirtschaftswissenschaft, die mit ihrer neoklassischen Deutung der Arbeitsmärkte gegen den Paradigmenwechsel zu Felde ziehen. Nach dem Hegelschen Motto, schade um die Realität, wenn sie nicht mit dem Modell übereinstimmt, wird der politi­sche Ausstieg aus einer „ökonomischen Sachlogik“ der Marktgesetze gegeißelt. Im Zentrum steht die Deutung des Arbeitsmarkts nach den Regeln der Preisbildung auf den Bananen­märkten oder Aktienbörsen. Auch eine desinformierende Gutachteritis wird im Meinungs­kampf um Mindestlöhne eingesetzt. Die Deutsche Bank-Research und Hans Werner Sinn vom Ifo-Institut verkünden die geschätzten Arbeitsplatzverluste bei 8,50¤ Mindestlohn pro Stunde in der auffällig offenen Bandbreite zwischen 450 000 bis zu einer Million. Übrigens kritisieren jetzt wirtschaftswissenschaftliche Institute den gesetzlichen Mindestlohn, die bei der Analyse der Beschäftigungswirkungen von Branchen – etwa der Bauwirtschaft oder bei den Dachdeckern - negative Beschäftigungseffekte nicht nachweisen konnten. Im Zentrum der jetzt zum allgemein gesetzlichen Mindestlohn vorgelegten Schätzungen steht nur die Kostendominanz der Löhne im Zentrum. Wer Mindestlöhne nur als Kosten betrachtet, der hat derartige Horroraussagen vorprogrammiert. Aber Mindestlöhne sind mehr als Kosten. Die Deutsche Bank-Research geht sogar so weit, die internationalen Studien, die gegen die Jobkiller-These sprechen, einfach für nicht übertragbar auf Deutschland abzulehnen. Chris­toph Schmidt, der Vorsitzendes des sog. „Rats der fünf Weisen“, kann die Kritik an seiner auffällig unpräzisen Erwartung, es gingen „hunderttausende Stellen“ verloren, im ausge­zeichneten Minderheitenvotum von Peter Bofinger nachlesen. Bofinger arbeitet die vielen hochwertigen Studien aus anderen Ländern und im internationalen Vergleich, die zu opti­mistischen Beschäftigungseffekten kommen, auf. Ein Forschungsteam um Michael Reich von der Berkley- University of California konnte nach umfangreichen Studien „keine negati­ven Beschäftigungseffekte finden.“ Auch in vergleichenden Metastudien bleibt zumindest die Aussage über die Beschäftigungswirkungen offen. Die großen US-Empiriker D. Card und A. Krueger erkennen bei den vorgenommenen Messungen viel „Mythos“. Der große Ökonom Alan Blinder von der Princton-University bekennt seinen Meinungswechsel: „Die Empirie scheint gegen die einfach gestrickte Theorie zu sein, in der ein leichter Anstieg des Mindestlohn einen erheblichen Verlust an Arbeitsplätzen bedeutet.“ Der Blick auf die Erfah­rungen im Ausland belegt, Mindestlöhne sind machbar, ja sie erhöhen die Funktionsfähig­keit der Arbeitsmärkte.

Theorie: Elend der neoklassischen Arbeitsmarktmodelle

Den Paradigmenwechsel zu Arbeitsmärkten durch die Schaffung einer Lohnuntergrenze sollte die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft in Deutschland endlich als theoretische und empirische Herausforderung aufnehmen. Obwohl viel prophezeit wird, findet sich in den beherrschenden Lehrbüchern nicht einmal ein Kapitel zur systematischen Ableitung von Mindestlöhnen. Dafür gibt es einen zentralen Grund. Das Modell der Arbeitsmarkttheorie, bei dem das Problem der die Existenz sichernden Löhne nicht interessiert, würde erschüt­tert. Wie gesagt, der Urfehler ist die Gleichsetzung der Lohnbildung auf den Arbeitsmärkten mit Kartoffel- oder Anleihemärkten. Aus einer typisierten Angebots- und Nachfragefunktion wird die Fiktion eines Gleichgewichtslohns abgeleitet. Was aber passiert, wenn dieser Preis der Arbeit zwar die Arbeitsmärkte räumt, jedoch die Existenz nicht sichert. Beim Bananen­markt gehen die Produkte in den Müll, beim Gütermarkt auf Lager. Der schwedische Öko­nom Knut Wicksell (1851-1926) sah frühzeitig die Lösung in einzurichtenden Armenhäu­sern. Heute steht für die Armenhäuser der Staat, der mit Kombilöhnen oder Aufstockung die Hungerlöhne kompensiert. Hier bietet das Konzept der Mindestlöhne eine klare Alternative. Unternehmen dürfen nicht aus der Verantwortung für die Entlohnung ihrer Beschäftigten entlassen werden. Dabei verdrängt die neoklassische Arbeitsmarkttheorie, die das Angebot unabhängig von der Nachfrage konzipiert, auch die positiven Rückwirkungen einer Lohnun­tergrenze für Unternehmen. Löhne sind nicht nur Kostenfaktor. Wie Untersuchungen zei­gen, stärken diese über die Arbeitsmotivation die Produktivität. In der gesamtwirtschaftlichen Rückwirkung profitieren Unternehmen von der durch Mindestlöhne erhöhten privaten Kon­sumnachfrage. Schließlich wird durch eine allgemeine Lohnuntergrenze ein Anreiz für Un­ternehmen geschaffen, anstatt auf den Wettbewerb um unproduktives Lohndumping auf Innovationswettbewerb zu setzen.

Mit der heute noch modellhaften Erklärung des Angebots von Arbeitssuchenden auf ne­oklassischen Arbeitsmärkten kann sich die Wirtschaftswissenschaft nur blamieren. Die Be­reitschaft, einen Arbeitsplatz nachzufragen, hängt nach dieser Fiktion von der Höhe des Lohns ab. Im Vergleich mit sinkenden Preisen für rückläufige Kartoffelnachfrage reduziert der Lohnabhängige seine Arbeit, wenn der Markt seine Lohnerwartungen nicht erfüllt. Auch der verbohrteste Vertreter der Zunft müsste wissen, das kann nur der, der über andere Ein­kommen, etwa aus Vermögen, verfügt. Dagegen ist die große Mehrheit von der Lohnarbeit existenziell abhängig. Anstatt des Rückzugs, sieht sich der Betroffene gezwungen, auch zu niedrigen Löhnen zu arbeiten. Ja, er versucht, mit zusätzlichen Jobs sein Arbeitsangebot auszuweiten. Walter Eucken (1891-1950) hat bereits auf diese „Anomalie der Arbeitsnach­frage“ hingewiesen. Wolfgang Stützel betonte in einer Schrift 1981, wie das „Wettbe­werbsparadoxon“ die Menschenwürde in Widerspruch zu den Marktpreisen bringt. Im An­gebotsverhalten zeigt sich, wie die existenzielle Abhängigkeit vom unternehmerischen „In­vestitionsmonopol“ dazu zwingt, zu jedem Lohn Arbeit anbieten zu müssen. Da ist kein Platz für individuelle Entscheidungen. Aus dieser Verletzung der Menschenwürde leitet sich die verfassungsrechtlich gewollte Notwendigkeit von Tarifverträgen ab, die kollektiven Schutz gegen die ansonsten individuelle Ausbeutung bietet. Wenn das Tarifsystem nicht mehr greift, werden gesetzlich geregelte Mindestlöhne erforderlich. Dieses ordnungspoliti­sche Instrument richtet sich gegen das systemische Marktversagen und die Verletzung der Menschenwürde.

Mindestlohnhöhe anpassen und strenge Kontrollen sichern

Wegen der Erfahrungen mit einem wachsenden Niedriglohnsektor und einer dagegen zu setzenden mutigen Ordnungspolitik lohnt es sich, in einem breit angelegten Lernprozess den Epochenwechsel zu vollenden. Die Diskussion muss sich unverzüglich auf die künftige Höhe der Mindestlohnhöhe konzentrieren. Denn eine Erhöhung der 8.50 ¤ frühestens ab 2018 käme gemessen an dem definierten die Existenz sichernden Lohn (2/3 des mittleren Lohns) viel zu spät. Kriterium sollte die allgemeine Tariflohn- und Geldwertentwicklung sein. Wie bei der erfolgreichen „Low Pay Commission“ in Großbritannien sollten Arbeitgeberver­bände, Gewerkschaften und die von der neoklassischen Blickverengung befreite Wirt­schaftswissenschaft die Anpassung der Mindestlöhne verantworten.

Drohende Vollzugsdefizite müssen verhindert werden. Dazu gehören die strenge Überwa­chung und Kontrolle auch, wie in Großbritannien, durch die Einrichtung einer Infohotline, die auch anonyme Meldungen vorsieht. Die „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“, bei der derzeit 500 Planstellen nicht besetzt sind, muss auch durch zusätzliche Personalaufstockung gestärkt werden. Schließlich ist das Verbandsklagerecht, das derzeit nur eingeschränkt etwa beim Umwelt- und Verbraucherschutz gilt, einzuführen. Damit können Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften direkt per Klage gegen Unternehmen vorgehen, wenn diese den Mindest­lohn unterlaufen.

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung eines Beitrags aus der Frankfurter Rundschau vom 26.3. 2014 www.fr-online.de