In die Jahre gekommen: Globale Freihandelsordnung

Von Ingo Schmidt

06.03.2014 / www.alternative-wirtschaftspolitik.de, 04.03.2014

Am 1. Januar 1994 trat der Vertrag über die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA) zwischen Kanada, Mexiko und den USA in Kraft. Mitte April desselben Jahres folgte nach siebenjährigen Verhandlungen die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO). Bereits im Jahr zuvor wurde auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen die Marschrichtung für die EU-Osterweiterung festgelegt. Zehn neue Mitgliedsstaaten, darunter Polen, Ungarn und die baltischen Staaten, wurden allerdings erst nach gut zehnjährigen Verhandlungen im Frühjahr 2004 aufgenommen. Mit diesen Freihandelsverträgen nahm die Weltordnung nach Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und der Weltmarktöffnung Chinas, das der WTO im Dezember 2001 beitrat, Gestalt an. Diese Abkommen sollten private Wirtschaftsinteressen gegen staatliche Sozial- und Umweltstandards durchsetzen. Die gleiche Prioritätensetzung lag bereits den Strukturanpassungsprogrammen zugrunde, die Internationaler Währungsfonds und Weltbank den von der internationalen Schuldenkrise betroffenen Ländern des Südens in den 1980er Jahren auferlegt hatte. In den 1990er Jahren wurde das Prinzip politisch garantierten Marktzutritts auf die Länder des ehemaligen Ostens ausgedehnt und seither auch auf expandierende Wirtschaftsbereiche, insbesondere den Handel mit Dienstleistungen und den Schutz geistigen Eigentums, angewendet.

Neue Weltordnung

Dass die neue Weltordnung gegebenenfalls auch mit Waffengewalt durchgesetzt würde, hatten die USA und ihre Verbündeten bereits mit dem Krieg gegen Irak 1990 deutlich gemacht. Der Eindämmung potenterer Staaten, allen voran den Atommächten Russland, China und Indien, diente die in drei Stufen – 1999, 2004 und 2009, erfolgte Osterweiterung der NATO. Auf diese Weise sicherten sich die USA zugleich ihren Einfluss in Europa. In Westeuropa gab es, insbesondere im Vorfeld des zweiten Krieges gegen den Irak 2003, immer mal wieder Stimmen, die Europa als sozialen Gegenpol zu den freihändlerisch-militaristischen USA weiterentwickeln wollten. Den neuen Herrschern Osteuropas galten die USA dagegen vielfach als Garant der Unabhängigkeit gegenüber der Kollaboration, die westeuropäische Sozialdemokraten und russische Kommunisten im Namen der Entspannungspolitik betrieben hatten.Den zu Sozialdemokraten verwandelten Kommunisten Osteuropas, die in den 1990er immer mal wieder Regierungsämter inne hatten, wäre die Idee eines sozialen, dafür aber antiamerikanischen, Europa vielleicht noch schmackhaft zu machen, ihre konservativen Widersacher sahen hierin einen neuen Weg zur Knechtschaft.

Die Vorstellung, Osteuropa würde, kaum dass es die Herrschaft Stalins und seiner Nachfolger abgeschüttelt hatte, von den Nachfahren Eduard Bernsteins regiert, war natürlich vollkommen irreal. Schließlich konnten die neuen Sozialdemokraten Osteuropas den Versuchungen der Selbstbereicherung ebenso wenig widerstehen wie ihre kommunistischen Vorgänger den Karrieren in Staats- und Parteiapparaten. Im Gegensatz zu letzteren, die ihre Ämter nur in Folge interner Fraktionskämpfe verlieren konnten, wurden erstere ob ihrer Korruption alsbald abgewählt –um mindestens ebenso korrupten Oligarchencliquen und ihrer politischen Entourage Platz zu machen. Auch diese waren freilich Knechte der neuen Herrschaft, die sich in Osteuropa in den 1990er Jahren durchsetzte. Und diese wurde weder von westeuropäischen Sozialdemokraten noch post-kommunistischen Kreml-Herren ausgeübt sondern den Eigentümern und Managern privaten Kapitals. Abkommen und Institutionen wie NAFTA, EU und die WTO dienten ja gerade der Absicherung dieser Herrschaft. Dabei befanden sie sich allerdings nicht in grundsätzlichem Widerspruch zu entsprechenden Funktionen des Nationalstaates, sondern unterstützen die Verschiebung von sozialstaatlichen zu repressiven Funktionen innerhalb der Staaten dar. Der Freihandel bedeutete nicht das Ende staatlicher Intervention, sondern deren Transformation von sozialem Ausgleich zu Marktöffnung und Privatisierung.

Die Rolle Deutschlands

So wenig sich die Staaten nach dem Kalten Krieg im Weltmarkt auflösten, so wenig verschwanden die Machtgefälle zwischen den Staaten. Allerdings gab es massive Umschichtungen. Am augenfälligsten ist die Abwertung der ehemaligen Supermacht Sowjetunion zur Regionalmacht Russland. Mit dem Ende sowjetkommunistischer Herrschaft in Osteuropa entstand ein Machtvakuum, dass die USA im Zuge ihrer Globalstrategie teilweise zu füllen verstanden, ohne sich nach der Rolle des regionalen Statthalters zu drängen. Dazu fühlten sich die Deutschen berufen. Nach Mauerfall und deutscher Einheit warnten britische Konservative und deutsche Antideutsche, ein gerade entstehendes IV. Reich werde nach der Weltmacht greifen. Diesen Warnungen lag die Vorstellung zugrunde, die Kräfte, die Hohenzollern und Hitler zur Anzettelung zweier Weltkriege getrieben hätten, seien durch den Kalten Krieg und die Spaltung Deutschlands unterdrückt worden, bestünden aber unverändert fort.

Dem war nicht so. Mit der Bodenreform in der DDR sowie dem Verlust Ostpreußens, Pommerns und Schlesiens an Polen bzw. die Tschechoslowakei war dem Bündnis zwischen Schwerindustrie und Junkertum, das dem deutschen Imperialismus vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Zusammenbruch des Nazi-Regimes seinen Stempel aufgedrückt hatte, ein für allemal den Boden entzogen. Nach der Maueröffnung 1989 hatten weder deutsche noch anderswo beheimatete Kapitalisten ein Interesse daran, die vorkapitalistischen Verhältnisse der junkerlichen Produktionsweise wiederherzustellen. Folgerichtig wurden die Ergebnisse der Bodenreform in der DDR im Zwei-plus-Vier-Vertrag, mit dem die ehemaligen Siegermächte die deutsche Einheit absegneten, festgeschrieben. Zudem ist die Schwerindustrie in Westdeutschland zwischen 1945 und 1990 gegenüber Chemie, Maschinenbau, Elektrotechnik und Automobilindustrie bis zur Bedeutungslosigkeit zusammengeschrumpft. In Ostdeutschland wurde dieser Schrumpfungsprozess nach1990 im Zeitraffer nachgeholt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg galt der deutschen Bourgeoisie der Weltmarkt mehr als die Weltmacht. Daran hat sich auch nach 1990 nichts geändert. Schutzzölle, der Preis, den die Schwerindustrie für ihr Bündnis mit den Junkern zu zahlen hatte, waren das letzte, woran die Exportmacht Deutschland interessiert war. Die Gelegenheit, die Geschäftsbedingungen in den neuen Märkten Osteuropas zu bestimmen, wollte man sich freilich nicht entgehen lassen. Dafür erkannten Kohl und Genscher1991 die Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens an und trieben damit den Zerfall Jugoslawiens voran. Dafür zogen Schröder und Fischer 1998 in den Krieg gegen Serbien. Deshalb drang die Bundesregierung darauf, dass die Staaten Osteuropas ihren EU-Beitritt nicht als gleichberechtigte Partner aushandeln konnten, sondern einzeln ihre Anerkennung des EU-Regelwerkes beweisen mussten.

Neue Peripherien

Der Erfolg blieb nicht aus. Deutsche Unternehmen dominieren nicht nur die Absatzmärkte Osteuropas. Sie beschäftigen zudem billige Arbeitskräfte, sei es durch Produktionsverlagerung nach oder Arbeitsmigration aus Osteuropa. Diese Arbeitskräfte müssen auch als Sündenbock für den Unmut über zunehmende Arbeitsmarktkonkurrenz herhalten. Die Internationalisierung des Kapitals führt, sofern keine politische Gegenbewegung entsteht, zur Spaltung der Arbeiter unterschiedlicher Herkunft. Und sie führt zu Wirtschaftskrisen. Osteuropa, allen voran die Vorzeigemarktwirtschaften im Baltikum, fielen Schuldenkrise und Spardiktat schon im Zuge der globalen Rezession 2008/9 zum Opfer. Kurz bevor die südeuropäischen Peripherien vom gleichen Schicksal ereilt wurden.

Die Brüsseler und Berliner Herren des Marktes sind in Osteuropa mittlerweile ebenso verachtet wie früher die Verwalter des Fünfjahresplans. Nach der Diskreditierung real existierender Sozialismen und Kapitalismen erscheint vielen Osteuropäern der Traum nationaler Größe als einzige Alternative zu den Problemen des Alltags. Diese Probleme unterscheiden sich von denen, die Arbeiter, Arbeitslose, Studenten und Rentner in anderen Ländern haben, aber nur graduell. Der Sache nach stehen sie vor den gleichen Problemen der Existenzunsicherheit;in den Peripherien Ost- und Südeuropas aber auch in den Gläubigerstaaten des europäischen Zentrums. Wenn überhaupt, so lässt sich hieraus ein Internationalismus von unten entwickeln, der dem Internationalismus des Kapitals und dem damit verbundenen Nationalismus für das Volk entgegengestellt werden kann. Dies müssen sich auch die Zapatistas gedacht haben, als sie die NAFTA-Gründung mit ihrem Aufstand in Chiapas begrüßten. Mit ihrer Einladung, Linke verschiedenster Überzeugungen mögen ihre Strategie bei einer Reihe von der EZLN organisierten intergalaktischen Treffen in Chiapas ausarbeiten, legten sie den Grundstein der globalisierungskritischen Bewegung. Der poetisch-utopisch Überschwang der Zapatistas und ersten Sozialforen hat die Kriege und Krisen seit der Jahrhundertwende nicht überlebt, bleibt aber eine Inspiration für die realistisch zu kalkulierenden Kämpfe unserer Tage.