Belgiens Grüne plädieren gegen die Schuldenbremse - und sind damit Deutschlands Grünen Meilen voraus

Von Friederike Spiecker

24.10.2013 / www.flassbeck-economics.de, 23.10.2013

Wie hier schon mehrfach beschrieben, ist für Bündnis90/Die Grünen die Einhaltung der Schuldenbremse ein unumgängliches Politikziel. Damit stehen sie in Deutschland wahrlich nicht allein da: Außer der Partei Die LINKE sind sich in diesem Punkt alle anderen einig: Der Staat muss runter von seinem Schuldenberg. Umso bemerkenswerter ist, dass sich z.B. in unserem Nachbarland Belgien manche Menschen Gedanken zur Schuldenbremse bzw. zu seinem europäischen Pendant, dem Fiskalpakt, machen, die völlig konträr zum deutschen Mainstream verlaufen. Und noch erstaunlicher, dass es sich dabei um Menschen handelt, die für die belgischen Grünen im Parlament sitzen. Das sollte den deutschen Grünen zu denken geben. Denn sich von der CDU mit der Energiewende die grüne Butter vom Wählerbrot nehmen zu lassen und dann noch in Sachen Logik in der Wirtschaftspolitik “behind the curve”, wie das so schön neudeutsch heißt, zu bleiben, ist keine gute Ausgangsbasis für die nächste Wahl. Vielleicht regen die mahnenden Worte eines Parteikollegen von jenseits der Grenze ja zu einem Umdenken an?

Während der letzten 40 Jahre hat sich das Königreich Belgien von einem Einheitsstaat zu einem Bundesstaat gewandelt. Die Parlamente der belgischen Regionen und Gemeinschaften entsprechen in etwa unseren Landtagen. Diese müssen per Dekret gewissen internationalen Abkommen zustimmen, damit sie für Belgien als ratifiziert gelten, so auch dem Fiskalpakt. Heiner Flassbeck hatte das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens im Frühjahr besucht und seine Bedenken hinsichtlich des Fiskalpaktes deutlich gemacht. Am 14. Oktober hielt Karl-Heinrich Braun, Abgeordneter der ECOLO-Fraktion, der Partei der Grünen in Belgien, eine Rede zur Debatte um den Fiskalpakt vor dem Parlament, aus der wir hier Ausschnitte wiedergeben.

“Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus Parlament und Regierung!

Wir kommen heute zu einer der abstrusesten Abstimmungen in der Geschichte unseres Parlamentes. Die Mehrheit wird – mit Unterstützung der CSP [das ist die christdemokratische Partei der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens; Anm.d.Red.] – aus Staatsraison einem Dekret zustimmen, das sie in einer zeitgleichen Resolution letztendlich heftigst kritisiert.

ECOLO [das ist die Partei der Grünen in Belgien; Anm.d.Red.] wird den vier Parteien aber keinen Strick daraus drehen. Im Wallonischen Parlament agieren die Grünen aus der Mehrheit heraus ganz ähnlich. Wir sind also nicht diejenigen, die das Vorgehen der Mehrheit hier kritisieren können.

Dennoch haben wir uns dafür entschieden, in der Deutschsprachigen Gemeinschaft einen eigenen Weg zu gehen. Wir werden uns bei der Resolution enthalten und gegen das Zustimmungsdekret stimmen, ohne zu behaupten, dass die Staatsraison völlig unsinnig sei. In der Opposition sind wir jedoch frei und können so besser die Argumente darlegen, die letztendlich gegen eine Staatsschuldenbremse sprechen.

Wenn es einen Wissenschaftsbereich gibt, der für nachhaltige Politikgestaltung grundlegend ist, dann ist es die Volkswirtschaftslehre. Hin und wieder haben wir in diesem Hause die Gelegenheit, über solch grundsätzliche Themen zu debattieren. …

Wir alle wissen, was Geld ist und was Schulden sind. Geld ist ein Gut und somit gut, Schulden sind eine Schuld und somit schlecht. So sind wir alle erzogen worden: mach‘ keine Schulden, komm‘ mit deinem Einkommen aus und leg‘ noch was auf Seite für schlechtere Zeiten. …

Ihr positiver Kontostand von 100 ¤ bei einer Geschäftsbank belegt, dass die Bank Ihnen 100 ¤ schuldet. … Umgekehrt sind laufende Kredite oder ganz allgemein negative Kontostände eine Forderung der Bank gegenüber ihren Kunden.

Mit anderen Worten: das Geldvermögen der Bankkunden sind Schulden der Bank an den Kunden und die Schulden der Kreditnehmer sind ein Vermögen der Bank. Es gibt bei Bankkonten also jederzeit eine Entsprechung von Geldvermögen zu Schulden. …

Diese Gleichheit von Geldvermögen und Schulden ist übrigens bei Eurostat sehr ausführlich dokumentiert. … Die Sektoren der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung sind: die privaten Haushalte, die Banken, die sonstigen Unternehmen, die öffentliche Hand und das Ausland. Die sogenannte Finanzierungsrechnung befasst sich mit den Transaktionen zwischen diesen 5 Sektoren und den Vermögensentwicklungen derselben.

Diese Eurostat-Statistiken sind überaus aufschlussreich. Sie zeigen, wie sich Privatvermögen, Staatsschulden und Forderungen gegenüber dem Ausland für jedes einzelne Land der EU von Jahr zu Jahr entwickeln. Wie zu erwarten, sind die Summen aller Geldvermögen und Schulden immer gleich Null Dies ist im Übrigen auch logisch, denn Geld ist eine Forderung und Schuld ist eine Verbindlichkeit. Forderungen und Verbindlichkeiten bestehen immer paarweise und halten sich die Waage.

So weit, so gut. Bisher habe ich vor allem die Spiegelbildlichkeit von Geld und Schulden herausgestellt. Es gibt allerdings einen fundamentalen Unterschied zwischen Schulden und Geldvermögen, und ich meine hier natürlich nicht das Vorzeichen des Betrages.

Wenn Geld durch Kredit entsteht, dann hat die entsprechende Schuld ein Fälligkeitsdatum. Das durch den Kredit gleichzeitig entstandene Geld hat jedoch kein Fälligkeitsdatum. Geld ist, mal abgesehen von der schleichenden Entwertung durch Inflation, unbegrenzt haltbar. Diese Haltbarkeit verleitet natürlich zum Horten. Wenn jedoch Geld gehortet wird, kann es ein Schuldner nicht zurückverdienen, um damit seinen Kredit zu tilgen.

Eine kleine Robinsonade ist hier für das Verständnis hilfreich. Freitag und Robinson leben auf einer Insel. Beide leihen sich Geld bei der Bank und betreiben Handel miteinander, in der Hoffnung, dass ihre jeweiligen Produkte und Dienstleistungen genügend Absatz finden, damit der Kredit fristgerecht zurückgezahlt werden kann. Nun ist Robinson aber sehr sparsam und legt seinerseits jeden Monat etwas Geld auf die hohe Kante. Die Geldmenge, die sich im Umlauf befindet, schwindet, und am Fälligkeitstag des Kredits ist Freitag im Gegensatz zu Robinson zahlungsunfähig. Robinsons Sparen hat Freitag am Tilgen gehindert.

Übertragen wir nun das Geschehen der Robinsoninsel auf die Gesamtwirtschaft. Wer immer auch spart, hindert einen Schuldner daran, zu tilgen. Das geht nur solange gut, wie es eine Nettoneuverschuldung in Höhe der Sparleistung der Volkswirtschaft gibt. Wenn ich also den Stand meines Sparkontos in einem Jahr um 500 ¤ erhöhe, müssen im Wirtschaftskreislauf 500 ¤ neue Schulden gemacht werden. Andernfalls verliert jemand irgendwo diese 500 ¤ und muss möglicherweise Insolvenz anmelden.

Und Sie spüren es, meine Damen und Herren, so langsam dringen wir zu des Pudels Kern vor. Die Identität von Geldvermögen und Schulden zwingt den Währungsraum, das Sparen der einen durch die Neuverschuldung der andern zu finanzieren. Da Schulden irgendwann fällig werden, müssen Altkredite laufend durch neue Kredite ersetzt werden. Zusätzlich zum Ersetzen der Altkredite müssen Neukredite in Höhe der gesamtwirtschaftlichen Sparleistung aufgenommen werden. …

Dabei spielt es im Grunde keine Rolle, wer sich nun konkret verschuldet. Aus den Sektorkonten können wir aber lesen, dass es in Belgien vor allem der Staat und die Unternehmen sind, die über ihre Verschuldung die privaten Geldvermögen erzeugen. Wenn ein Land darüber hinaus noch einen signifikanten Leistungsbilanzüberschuss aufweist – so wie das derzeit in Deutschland der Fall ist –, braucht es sich entsprechend weniger zu verschulden, um die privaten Geldvermögen anwachsen zu lassen.

Nun möchte Europa, dass sich die Staaten weniger verschulden. Sie sollen eine Schuldenbremse einführen. Wir wissen aber – und das war der Inhalt meiner bisherigen Ausführungen –, dass die Schulden der einen die Geldvermögen der anderen sind. Wenn die Staaten nun keine Schulden mehr machen dürfen, was passiert dann mit den entsprechenden Vermögen der privaten Haushalte?

Sie haben es erraten: Bei fortschreitender Tilgung der Altschulden durch den Staat werden die Privatvermögen schrumpfen, es sei denn, wir finden neue Schuldner, die den Staat in dieser Funktion ersetzen. Unmöglich ist das nicht. Nach dem 2. Weltkrieg hatten die Staaten sehr wenig Schulden. Es waren die Unternehmen, die sich über Kredit vorfinanzierten und letztendlich so die Guthaben der privaten Haushalte aufgebaut haben. …

Guthaben und Schulden bestehen immer nur paarweise. Wenn man eine Schuldenbremse für den Staat einführt und keinen Ersatzschuldner findet, führt die Schuldenbremse automatisch zu einer Guthabenbremse. Das verschweigt jedoch die Politik. Aber die Menschen werden es schon selbst merken. Entweder müssen sie vermehrt ihre Geldguthaben auflösen, um über die Runden zu kommen, oder es geschieht das, was in Zypern passiert ist: die Guthaben der privaten Haushalte werden einfach eingezogen, um den Staat zu retten.

Die ECOLO-Fraktion ist daher der Auffassung, dass die Schuldenbremse uns in eine Sackgasse führt. Die Schuldenbremse ist über kurz oder lang nicht haltbar. Zwar sind die meisten Bürgerinnen und Bürger der Meinung, dass der Staat sich nicht oder so wenig wie möglich verschulden sollte. Die Konsequenz aus dieser Haltung nennt sich aber Deflation und ist deshalb weitaus dramatischer als die Staatsverschuldung selbst.

Wir wollen private Geldvermögen zulassen und gleichzeitig die Staatsverschuldung einschränken obwohl die Staatsverschuldung ja gerade erst private Geldvermögen ermöglicht. Wir wünschen uns sozusagen Geld ohne Schuld. Das ist reichlich naiv und volkswirtschaftlich unmöglich. Wir befinden uns hier in einer … Rationalitätenfalle…

Staatsschulden sind der Anteil der Kollektivität an den privaten Geldvermögen. Wenn Staatsschulden nicht gewollt sind, dann sollte man keine staatliche Schuldenbremse sondern eine private Geldvermögensbremse einführen. Das kann man über Vermögenssteuern und Ähnliches erreichen. Weshalb sich niemand traut, das Problem auf diese Weise anzugehen, obwohl mehr als 80% der Wähler Gewinner wären, bleibt wohl für immer ein Geheimnis der Politik.

Eine Guthabenbremse kann man offensichtlich politisch nicht verkaufen, obwohl sie die Wirkung einer Schuldenbremse hätte. Also verkauft man den Bürgerinnen und Bürgern eine Schuldenbremse und kündigt an, dass der Staat den Gürtel enger schnallen muss. Dies führt uns aber geradewegs in die Rezession, wie man im Süden Europas beobachten kann. …

Wähler und Gewählte sind in Rationalitätenfallen gefangen. Es ist und muss jedoch die Aufgabe des Staates sein, die Bürgerinnen und Bürger vor den Gefahren dieser Fallen zu schützen. Daher müssen Politiker sich als Erste mit volkswirtschaftlichen Themen auseinandersetzen. Nur dann hätte die Modellfunktion der schwäbischen Hausfrau in der Politik keinen Platz mehr.

… eine Volkswirtschaft [ist] wegen des Geldhortens ihrer Akteure zur Schuldenspirale verdammt. Wenn der Staat aus dem Schuldenmachen aussteigt, bricht das System zusammen. Das mag eine unbequeme Wahrheit sein, aber ich kann sie nicht ändern.

Wer den Staat wie ein Unternehmen führen will und egoistisches Standortdenken zum Maß aller Dinge macht, führt die Menschen, für die er Verantwortung übernimmt, in den Abgrund. Denn letztendlich sind wir in einer globalen Welt alle miteinander verknüpft. …

Die vornehmste Rolle der Politik ist es, alle Bewohner dieses Planeten gleichermaßen vor den Trugschlüssen aus Rationalitätenfallen zu schützen. Man könnte auch sagen, dass der Sinn des Gemeinwesens gerade darin besteht, die Rationalitätenfallen aufzudecken und zu umgehen. Wir Gewählten können die Wähler nur um Vergebung bitten, dass uns dazu manchmal der Mut oder das Verständnis fehlt.

Dieses hohe Haus wird heute Abend über den sogenannten Fiskalpakt abstimmen. Aus den genannten Gründen wird die ECOLO-Fraktion dagegen stimmen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.”