Steuerflucht – alles ganz legal

Von Dr. Jürgen Glaubitz

05.10.2013 / www.verdi-bub.de, September 2013

Das Kapital, so heißt es, sei ein scheues Reh. Man müsse es gut behandeln, andernfalls würde es flüchten – nämlich dahin, wo es besser behandelt wird. Mit diesem „Argument“ haben Arbeitgebervertreter viele Jahre erfolgreich Interessenpolitik gemacht. Auch in Deutschland. Heute ist dies aus Sicht multinational operierender Unternehmen nicht mehr nötig. Es braucht keine Drohungen mehr, und Arbeitsplätze müssen nicht verlagert werden: Finanzströme werden zwischen verschiedenen Tochterfirmen einfach „steueroptimierend“ umgeleitet. Für Apple, Google, Microsoft oder Amazon ist es ein Leichtes, Nationalstaaten auszutricksen, indem sie Lizenzen oder Belastungen von einem Punkt auf der Landkarte zu einem anderen irgendwo in der Welt zu verschieben. Aus ihrer Sicht handelt es sich dabei um Steueroptimierung bzw. „Steuergestaltung“. In Wahrheit ist es Steuervermeidung, also Steuerflucht. Kein neues Thema, aber angesichts der weltweit drückenden Probleme hat es eine besondere Brisanz bekommen. Während ganzen Ländern der Staatsbankrott droht, während sogar reiche Länder, wie Deutschland, Staatsschulden drücken und die öffentliche Infrastruktur Not leidet, werden den Staaten riesige Beträge vorenthalten.

Die Firmen nutzen legale Schlupflöcher – also Möglichkeiten, die die nationalen Regierungen in der Vergangenheit geschaffen bzw. zugelassen haben. Deshalb haben Verantwortliche in den meisten Ländern lange Zeit auch ein Auge zugedrückt. Das könnte sich nun ändern. Kritik kommt sogar aus dem Mutterland des Kapitalismus, Großbritannien: Starbucks, Apple, Amazon, Google und andere machen dort riesige Umsätze und Gewinne – zahlen aber so gut wie keine Steuern.

Auch die EU hat das Thema auf die Agenda gesetzt. EU-Kommissar Algirdas ¦emeta hat nachgerechnet, dass in der EU jährlich bis zu eine Billion Euro durch Steuerhinterziehung und Steuerumgehung verloren gehen. Im Vergleich dazu: Die Schulden aller EU-Staaten betragen insgesamt 10 Billionen Euro. Demnach könnten sämtliche Schulden innerhalb von zehn Jahren auf Null gebracht werden.

Die Empörung über die Steuervermeidungsstrategien der Konzerne ist groß. Unlängst sorgte eine ARTE-Sendung („Zeitbombe Steuerflucht“, Erstausstrahlung 10.9.2013) für zusätzlichen Diskussionsstoff. Ein Fazit der Sendung lautet: Je mehr Geld ein Konzern verdient, desto niedriger sein Steuersatz.


Milliarden werden verschoben

International tätige Unternehmen haben viele Möglichkeiten, ihre Steuern äußerst gering zu halten: Gewinne werden in Länder verlagert, die sie nur gering versteuern, Ausgaben und Verluste hingegen werden in Ländern mit höherer Besteuerung (wie etwa Deutschland) geltend gemacht. Dies nutzen weltweit agierende Konzerne seit vielen Jahren aus. Sie haben sich als Steuervermeider ein enormes Know-how angeeignet: Über verschachtelte Firmenkonstrukte werden Gewinne hin- und hergeschoben. „Verlagert werden Patente, Markenrechte, Lizenzgebühren oder Darlehenszinsen in Tochterfirmen einer Steueroase“ (finanztreff.online vom 6.9.2013).

  • Insbesondere die „Stars des digitalen Zeitalters“ sind äußerst geübt darin, die Nationalstaaten gegeneinander auszuspielen. „Leichter als Autokonzerne oder Maschinenbauer können sie ihre Werte wie Lizenzen und Know-how zu jedem Ort der Welt verschieben, genau wie ihre Belastungen“ (Frankfurter Rundschau vom 2.9.2013).
Einige Beispiele: Starbucks hat in Großbritannien in 14 Jahren drei Milliarden Pfund eingenommen, aber nur neun Millionen Pfund Steuern gezahlt. Das Unternehmen bucht sein europäisches Geschäft über die Niederlande – während in Großbritannien ein Verlust ausgewiesen wurde, weil die dortigen Unternehmen Dienstleistungsgesellschaften für die Buchungsstellen in Luxemburg, Irland oder gar den Bermudas sind. Auf Druck der britischen Regierung hat das Unternehmen zwischenzeitig seine Steuerkonstruktion „überarbeitet“ (FAZ vom 4.12.2012).

Apple
hat das Geld durch viele Länder geschleust – immer auf der Suche nach dem niedrigsten Steuersatz. So hat es Apple in den vergangenen Jahren mittels eines dichten Netzes von Auslandsfirmen geschafft, die Zahlung von mindestens 15 Milliarden Dollar an die US-Steuerbehörden zu vermeiden. Die Firma hat ihre Auslandsumsätze vorrangig über Tochterfirmen im Niedrigsteuerland Irland abgewickelt. Allein zwischen 2009 und 2012 wurden dorthin 74 Mrd. Dollar verlagert. Apple musste im Mai 2013 seine Praktiken vor einem Ausschuss des US-Senats erklären. Ein demokratischer Senator kritisierte: „Apple hat den heiligen Gral der Steuervermeidung gesucht“ (Frankfurter Rundschau vom 22.5.2013).

Amazon gilt weltweit als kompromissloser Steuervermeider. Auf dem zweitgrößten Amazon-Markt, Deutschland, zahlt das Unternehmen kaum Steuern. Den Großteil seines Umsatzes mit deutschen Kunden wickelt die Firma über Luxemburger Gesellschaften ab. Die Amazon.de GmbH hat für 2012 laut Bundesanzeiger 10,2 Mio. Euro Vorsteuergewinn in Deutschland ausgewiesen und 3,2 Mio. Euro Steuern gezahlt – und das bei einem Umsatz von 6,8 Milliarden Euro (FAZ vom 12.7.2013).

  • „Angesichts des Geschäftsvolumens, das Amazon in Deutschland erzielt, muten diese Zahlen geradezu lächerlich an“ (Focus online vom 15.9.2013).
Aber nicht nur amerikanische Konzerne betreiben intensiv Steuervermeidung, auch hiesige Unternehmen nutzen die sich bietenden Möglichkeiten. Die Chemiefirmen Bayer und BASF und der Autobauer VW nutzen u.a. Schlupflöcher in Belgien. So hat Bayer 2011 in Belgien für einen Gewinn von 254,8 Millionen Euro ganze 10,8 Mio. Euro gezahlt (Frankfurter Rundschau vom 22.5.2013).

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat ermittelt, dass sich deutsche Konzerne oft arm rechnen oder Gewinne ins Ausland verlagern. Dem DIW zufolge klafft zwischen den nachgewiesenen Profiten der Kapital- und Personengesellschaften und den steuerlich erfassten Gewinnen eine Lücke von 92 Milliarden Euro (n-tv vom 28.5.2013).


Auswirkungen der Steuervermeidung

Es geht um riesige Summen. Geld, das den öffentlichen Haushalten vorenthalten wird und das für öffentliche Aufgaben dringend gebraucht wird. Geld, das sich der Staat von „anderen“ holt bzw. holen muss: Die Steuerausfälle müssen all jene mit höheren Steuern ausgleichen, die sich einer Steuerzahlung nicht entziehen können. Das sind in erster Linie die abhängig Beschäftigten sowie kleine und mittlere Unternehmen. Eine groteske Fehlentwicklung! Mächtigen Konzernen werden enorme monetäre Vorteile gewährt, die diese Firmen wiederum nutzen, um ihre Vormachtstellung weiter auszubauen. Von gleichen Chancen kann keine Rede sein. Steuervermeidung verschafft unfaire Vorteile und untergräbt den Wettbewerb. Es kommt zu massiven Verwerfungen auf den Märkten. So zum Beispiel auf dem Buchmarkt: Während der amerikanische Konzern Amazon in Deutschland massiv Steuern vermeidet und damit gigantische Summen „einspart“, zahlt der stationäre Buchhandel in Deutschland die entsprechenden Abgaben. Damit finanziert der stationäre Buchhandel u.a. die Straßen, auf denen sein schärfster Konkurrent die Ware zu den Kunden ausliefern lässt. Amazon hingegen nutzt die „eingesparten“ Mittel zur weiteren Expansion – das nächste Versandzentrum (in Brieselang) nimmt in Kürze den Betrieb auf.

Der „Siegeszug“ von Amazon wird also praktisch staatlich gefördert – zum Schaden der Allgemeinheit. Denn in dem Maß, wie der aggressive amerikanische Onlinehändler weiter wächst, werden andernorts massenhaft qualifizierte Arbeitsplätze vernichtet, droht tendenziell eine Verödung der Innenstädte.


Die Steuervermeidungsindustrie boomt

Weil es um riesige Summen geht, überlassen die Konzerne nichts dem Zufall. Hochbezahlte Beraterfirmen werden eingespannt, um Modelle zu entwickeln, damit so wenig Steuern wie irgend möglich gezahlt werden müssen. Ein hoch profitables Geschäft für beide Seiten! Die Branche der Steuerberater und Steueranwälte erlebt einen beispiellosen Boom. Die Zahl der Steuerberater stieg in den letzten zehn Jahren um 30 Prozent, die der Steueranwälte sogar um 60 Prozent – während gleichzeitig bei den Finanzämtern hierzulande das Personal um fünf Prozent reduziert worden ist.

Eine hoch organisierte „Steuervermeidungsindustrie“ ist am Werk. Sie wird dominiert von vier Großen: Deloitte, PricewaterhouseCoopers, KPMG und Ernst & Young. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist es, ihren jeweiligen Auftraggebern so viel Steuern zu „ersparen“ wie irgend möglich. Die Big Four beschäftigen weltweit 700.000 Spezialisten in 150 Ländern und erwirtschaften pro Jahr rund 100 Milliarden Dollar. In den USA hat sich der Senat in einem Untersuchungsausschuss mit ihnen beschäftigt. Fazit: „Der Verkauf von potentiell missbräuchlichen Steuerschlupflöchern ist ein lukratives Geschäft. Und die Steuerberatungsfirmen sind die wichtigsten Akteure dieser Entwicklung“ (Stern vom 14.3.2013).

Banken leisten aktive Hilfestellung – und profitieren von der Entwicklung. „Allein BNP Paribas betreibt 360 Außenstellen in berüchtigten Steueroasen wie Luxemburg, der Schweiz oder auf den Cayman-Inseln“ (Bild.de vom 11.9.2013).

  • „Gerade erst mit dem Geld der Steuerzahler gerettet, erarbeiten die Banken neue Strategien, um ihre reichen Kunden die Steuerhinterziehung zu ermöglichen“ (Arte, „Zeitbombe Steuerflucht“).

Der Staat macht’s möglich


So berechtigt die Kritik an den Beraterfirmen und Banken ist, der Zorn sollte sich insbesondere auf die Regierungen in den jeweiligen Ländern richten. Fakt ist, dass die Firmen Gestaltungsspielräume nutzen, die Regierungen zuvor geschaffen haben. Trotz manch kritischer Debatte und allerlei öffentlichen Mahnungen findet immer noch ein regelrechter Unterbietungswettbewerb statt. Luxemburg bietet Steuerbefreiung, Irland wirbt mit Niedrigsätzen usw. Der zuständige EU-Kommissar stellt nüchtern fest: „Leider gibt es in der Europäischen Union zu viele Möglichkeiten, seine Steuern ganz offen zu minimieren.“ Bislang haben die Politiker und Politikerinnen innerhalb der EU wenig Interesse daran gezeigt, Steuerflucht, Steuerhinterziehung und Steuerumgehung wirksam zu verhindern. Meist argumentieren sie damit, dass ein Land alleine nichts ausrichten könne. Nahezu paradiesische Zustände aus Sicht der international operierenden Konzerne!

Das soll jetzt anders werden. Es soll Schluss sein damit, dass Konzerne die Staaten gegeneinander ausspielen. Sowohl die EU wie auch die G20, also die Gruppe der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer, streben Regelungen an, um die Steuerflucht der Multis einzudämmen. Geplant sind neue abgestimmte und transparente Standards. Ein Aktionsplan sieht vor, dass multinational tätige Konzerne Gewinne und Kosten nicht mehr beliebig weltweit verlagern können. Multis sollen ihren angemessenen Anteil an der Steuerlast in den Ländern zahlen, in denen sie tätig sind.

Es handelt sich jedoch bislang lediglich um Absichtserklärungen – das Treiben der Multis und ihrer Helfershelfer wird also noch einige Zeit so weitergehen.

Höchste Zeit zum Handeln!


Die Praxis der aggressiven Steuervermeidung ist eine schreiende Ungerechtigkeit, die beendet werden muss! Die Politik hat allzu lange zu- bzw. weggeschaut – und damit zugelassen, dass die Gesellschaft ausgeplündert wird.

An vollmundigen Absichtserklärungen hat es nicht gemangelt, jetzt muss endlich etwas Wirksames gegen diese milliardenschwere Steuerflucht unternommen werden. Den Vorschlägen von EU und G20 müssen Taten folgen. Nötig sind zudem mehr Transparenz und ein automatischer, grenzüberschreitender Datenaustausch. Aber auch mehr Personal bei den Steuerverwaltungen ist erforderlich. Allein in Deutschland fehlen nach den Bedarfszahlen der Arbeitgeber über 10.000 Steuerbeamte und -beamtinnen. ver.di macht sich stark für ein Register, in dem die wahren Begünstigten von Briefkastenfirmen in Steueroasen verzeichnet sind. Finanztransaktionen in Steueroasen müssen mit einer hohen, direkten Steuer belegt, Banken, die bei der Steuerflucht helfen, müssten mit Lizenzentzug bestraft werden.