Deutsche Auslandsinvestoren haben bis zu 600 Milliarden Euro verzockt

Von Rainer Sommer

25.09.2013 / Telepolis, 21.09.2013

Nachdem die deutschen Unternehmen ihre aus der massiven Lohnzurückhaltung resultierten Gewinne nicht in Deutschland, sondern im Ausland investiert haben, sind darauf bislang Verluste in Höhe von rund 20 Prozent des deutschen Sozialprodukts angefallen

Seit die EU im Angesicht der Weltfinanzkrise eine "Warnschwelle" für zu hohe Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen (Verhältnis der Güter, Dienstleistung, sowie Übertragungen von Vermögenserträgen und Einkommen, die aus dem Ausland bezogen und an dieses geliefert werden) der Mitgliedsländer eingeführt hat, sind inzwischen zwar die Defizite der Krisenländer so gut wie verschwunden, Deutschland hat seinen Überschuss hingegen weiter ausgebaut und liegt nun bei annähernd acht Prozent des Sozialprodukts. Mittlerweile wird sogar China, dessen Überschuss 2007 annähernd doppelt so hoch war wie der deutsche, sowohl im Verhältnis zum Sozialprodukt (China zuletzt 2,3 Prozent) als auch absolut übertroffen, wobei Deutschland seine Handelsüberschüsse rund je zur Hälfte gegenüber den anderen EU-Staaten und gegenüber dem Rest der Welt erzielt. China liegt gegenüber dem restlichen Asien hingegen im Minus, weil es von dort Vorprodukte für seine Exporte vor allem in die USA, dem weltweit wichtigsten Defizitland, und nach Europa bezieht.

Wie diese Überschüsse zustande kommen und was das makroökonomisch bedeutet, haben nun Guonan Ma and Robert N. McCauley von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) analysiert. Sie haben zwar nicht übermäßig viele Überraschungen zutage gefördert. Die meisten ihrer Erkenntnisse sind schon länger bekannt und werden intensiv diskutiert. Allerdings kann die volkswirtschaftliche Abteilung des BIZ darauf verweisen, sich anders als der Rest der offiziellen ökonomischen Wissenschaft (mit Ausnahme von Raghuram Rajan, damals Chefökonom des IWF und seit kurzem Gouverneur der Indischen Notenbank) niemals dem neoliberalen Diktat der Greenspan-Fed gebeugt und so ihre traditionelle Position als oberste Instanz der finanzökonomischen Analyse weiter gefestigt zu haben. Ihre Analyse ist insofern also eher das Fazit als der Anfang der Diskussion - und sie hat es durchaus in sich.

Vorweg wirft die BIZ aber noch ein kurzer Blick in die Vergangenheit. So hatte Deutschland bereits in den 1980er Jahren hohe Überschüsse erzielt und wurde damals – wie zuletzt bis vor kurzem von China - nur von Japan übertroffen. Mit der Wiedervereinigung und dem darauffolgenden Bauboom, den Deutschland zu erheblichen Teilen durch den Abbau seines nach dem 2. Weltkrieg angehäuften Auslandsvermögens finanzierte, war es mit den Überschüssen aber vorerst vorbei. Ab 1991 rutschte die deutsche Leistungsbilanz ins Minus, erst 2002 wurden wieder Überschüsse erzielt, die seither jedoch substantiell anstiegen sind, wodurch die deutschen Exporte mittlerweile mehr als das halbe Sozialprodukt finanzieren.

Erreicht wurde dies laut BIZ, weil die Arbeitnehmervertretung Ende der 1990er Jahre zugestimmt hatte, das Lohnwachstum unter dem Produktivitätswachstum zu halten. Darauf folgte die Schrödersche Agenda 2010 samt Hartz-Reformen und Billigjobs, was zur Folge hatte, dass die Lohnstückkosten seither stagnierten oder fielen, während sie in den anderen EU-Staaten beträchtlich anstiegen.

Nachdem die Arbeitsproduktivität in Irland, Griechenland und Portugal noch wesentlich stärker angestiegen ist als in Deutschland, lassen die BIZ-Ökonomen zwar offen, ob der rapide Produktivitätsanstieg ein Erfolg der Reformen war oder ob das gestiegene Arbeitskräfteangebot und die Konkurrenz aus Osteuropa die Löhne so niedrig gehalten haben. Sicher sind sich die BIZ-Ökonomen jedoch, dass es das geringe Lohnwachstum war, das Deutschland diese erheblichen internationalen Wettbewerbsvorteile verschafft hatte.

Abgesehen davon haben auch die Öffnung der Märkte und die Einführung des Euro Deutschland geholfen, Auslandsvermögen ohne Währungsrisiko anzuhäufen. Denn zuvor waren die Banken einer anderen Studie zufolge nicht imstande, Leistungsbilanzüberschüsse von mehr als vier Prozent zu "recyceln" (makroökonomisch steht jedem Überschuss ein gleich hoher Anstieg der Forderungen an das Ausland gegenüber), da diese die Positionen überstiegen, die die Unternehmen und Versicherungen bereit waren, im Ausland einzugehen. Folglich kam es in diesen Fällen zu einer Aufwertung der D-Mark mit entsprechendem Rückgang der internationalen Konkurrenzfähigkeit und einer realen Abwertung des Auslandsvermögens:

Ein Muster, das erst durch die Wiedervereinigung unterbrochen wurde, als hohe inländische Investitionen und damit verbunden hohe Außendefizite die über eine Generation aufgebauten Netto-Auslandsvermögen Deutschlands auslöschte

Ab 2002 stieg jedenfalls der Anteil der Unternehmensgewinne am Sozialprodukt zulasten der Löhne erheblich an, was zur Folge hatte, dass die Unternehmen, die im Jahr 2000 noch sechs Prozent des BIP an Krediten aufgenommen hatten, sich ab 2002 in Netto-Kreditgeber verwandelten. Das bedeutet laut BIZ, dass "die Früchte der niedrigen Löhne und der Arbeitsmarktreformen nicht im Innland investiert wurden, sondern die Anhäufung von Auslandsvermögen finanzierten".

Während das Kreditrisiko dabei offenbar weiterbestand, wurde das Währungsrisiko durch den Euro eliminiert, was 2007 fast acht Prozent Leistungsbilanzüberschuss zuließ. Die Kehrseite der Medaille bestand bekanntlich darin, dass einige periphere Euroländer aufgrund niedriger Zinsen und hoher Kreditverfügbarkeit Konsum und Investitionen massiv erhöhten, was zu enormen Leistungsbilanzdefiziten führte.

Warum der anhaltende außenwirtschaftliche Erfolg Deutschlands an so vielen Menschen in Deutschland vorbei gegangen ist

Im Ergebnis ist die internationale Bilanz Deutschlands heute hinter den USA und Großbritannien die drittgrößte der Welt und umfangreicher als jene Japans oder Chinas. Bis zur Wiedervereinigung hatte Deutschland vor allem Kredite vergeben, die dann bis Anfang der 2000er Jahre fast vollständig zurückgeholt wurden, während gleichzeitig weiter in reale Vermögenswerte investiert wurde. Nach 2000 überstiegen die Kreditvergaben aber wieder die Direktinvestitionen, so dass das Netto-Auslandsvermögen zuletzt zu 60 Prozent aus vergebenen Krediten und zu 40 Prozent aus realwirtschaftlichen Beteiligungen bestand.

Gleichzeitig erfreuen sich Deutschlands Schuldtitel bei ausländischen Notenbanken großer Beliebtheit, so dass Deutschland sich in diesem Bereich – und vermehrt seit Ausbruch der Eurozonenkrise – in einer Netto-Schuldner-Position befindet. Durch die Eurozonenkrise hat sich auch die Rolle der Banken verändert, die zwischen dem ersten Quartal 2008 und dem letzten Quartal 2012 ihre Kredite an Kreditnehmer aus Griechenland, Irland, Portugal, Italien und Spanien um 300 Milliarden Euro reduziert hatten. Mangels anderer privater Kreditgeber wandten sich die Banken dieser Ländern an das Eurosystem, so dass dadurch die Forderung der Bundesbank an die EZB über das TARGET 2-Verrechnungssystem entsprechend anstiegen und die BIZ den Anteil der öffentlichen Forderungen (d.h. der Bundesbank) am Auslandsvermögen Deutschlands mittlerweile auf rund 15 Prozent schätzt. Das ist immerhin bereits mehr als das Netto-Auslandsvermögen Deutschlands

Dieses Auslandsvermögen wurde zudem offenbar suboptimal angelegt. Denn seit die Leistungsbilanz 2002 wieder ins Plus drehte, wurden bis 2012 kumuliert immerhin 1,4 Billionen Euro an Überschüssen gegenüber dem Ausland erzielt. Der kumulierte Netto-Kapitalfluss ins Ausland wird von der BIZ sogar mit 1,6 Billionen beziffert. Gleichzeitig stieg das Netto-Auslandsvermögen Deutschlands nur von rund 0,1 Billionen auf knapp über eine Billion Euro, was folglich eine Lücke in Höhe 0,4 bis 0,6 Billionen offen lässt. Neben statistischen Diskrepanzen könnten laut BIZ davon rund 100 Milliarden Euro auf die Abwertung des Dollar entfallen, dazu kommen Preisanstiege von im Ausland gehaltenen Bundesanleihen im Vergleich mit von Deutschland gehaltenen Bonds der Eurokrisenstaaten, Verluste aus strukturierten US-Immobilienanleihen, wozu sich wohl noch fehlgeschlagene Investitionen der Industrie und Kursverluste auf Aktien addieren, was sich insgesamt auf rund 20 Prozent des deutschen Sozialprodukts summiert.

Während die BIZ-Ökonomen sich nicht weiter darüber auslassen, scheinen von der Strategie, den Gürtel der deutschen Werktätigen deutlich enger zu schnallen, also vor allem diejenigen profitiert zu haben, die den deutschen Auslandsinvestoren Schrottpapiere und Investitionsruinen unterjubeln konnten. Damit wird klar, warum dieser gewaltige und anhaltende außenwirtschaftliche Erfolg Deutschlands an so vielen Menschen in Deutschland glatt vorbei gegangen ist und wohl auch noch weiter
vorbeigehen wird.

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