Peer Steinbrück – wirtschaftspolitischer Wolf im sozialen Schafspelz?

Von Friederike Spiecker

17.09.2013 / www.flassbeck-economics.de, 10.09.2013

Gestern habe ich mich kritisch über die wirtschaftspolitische Kompetenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel, wie sie im Interview des Deutschlandfunks und des Senders Phoenix Mitte August zum Ausdruck kam, geäußert. Ende August wurde der Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück, im gleichen Programmformat befragt, und ich will mich anhand dieses Interviews mit der Frage beschäftigen, welche wirtschaftspolitischen Perspektiven dieser Kanzlerkandidat zu bieten hat. Dabei interessieren mich in erster Linie seine Aussagen zur Wirtschaftspolitik in Europa, weil ich die wirtschaftliche Entwicklung bei uns und unseren europäischen Nachbarn für absolut vorrangig vor allen anderen Themen halte. Das Thema Eurokrise mag nicht die Aufmerksamkeit der Masse der Wähler auf sich ziehen, die ihm meines Erachtens zukommen müsste. Das hindert mich aber nicht daran, ihm meinerseits einen hohen Stellenwert beizumessen.

Nicht, dass die Energiewende, die Bildungspolitik oder öffentliche Infrastrukturmaßnahmen in unserem Land unwichtig wären, keineswegs; die offensichtlichen Mängel in diesen Bereichen hängen ja sogar mit der europäischen Misere zusammen. Man bedenke nur, dass das Konsolidierungsbestreben der öffentlichen Haushalte hierzulande aufgrund der Schuldenbremse (deren Verankerung im Grundgesetz die SPD zugestimmt hat) ganz wesentlich mit zu dem Nachfragemangel beiträgt, der in Deutschland herrscht und unsere Importfreudigkeit senkt. Aber selbst wenn in diesen Bereichen ab sofort die Weichen auf Vernunft gestellt würden, wäre damit die Krise in Europa nicht (mehr) durchschlagend zu stoppen. Der Abwärtsstrudel, den die falsche, insbesondere von Deutschland durchgesetzte Krisenpolitik mit angerichtet hat, lässt sich nicht mehr durch langfristig wirksame und sinnvolle Maßnahmen allein im Bereich der öffentlichen Güter in Deutschland aufhalten. Es bedarf eines ganz anderen Denkansatzes und daraus folgender Maßnahmen, um hier das Ruder noch herumzureißen. Und nach Spuren dieses Ansatzes suche ich in dem besagten Interview mit dem Herausforderer der Bundeskanzlerin.

Immerhin, das muss ich anerkennen, lohnt es sich weit mehr, diesem Interview in den (aus meiner Sicht) entscheidenden Passagen genau zuzuhören als bei dem der Bundeskanzlerin. Denn Peer Steinbrück sagt viele richtige Dinge in puncto Eurokrise, z.B. über das Trennbankensystem oder über das Fehlen von Wachstumsimpulsen und das verkehrte Fokussieren auf die Haushaltskonsolidierung in den Krisenländern. Allerdings greift er zu kurz, wenn er die Eurokrise in erster Linie als Bankenkrise interpretiert und meint, deren Folgen wie Rezession und Jugendarbeitslosigkeit mit dem Aufkommen aus einer Finanzmarkttransaktionssteuer bekämpfen zu können. Denn wenn ein solches Steueraufkommen regelrecht sprudeln sollte, bedeutete das ja, dass die Spekulationsgeschäfte, die Peer Steinbrück als wesentliche Ursache der Bankenkrise ansieht, weitergingen und daher dauernd neuen Krisenstoff lieferten – ein unsinniger Teufelskreis. Sprudelte diese Einnahmequelle jedoch nicht sonderlich, bedeutete das entweder, dass die Spekulation von anderem, steuerrechtlich nicht erreichbaren Boden aus weiterginge (das schlechteste aller Szenarien) oder dass sie tatsächlich prohibitiv auf reine Spekulationsgeschäfte wirkte (was ja das naheliegende Ziel einer solchen Steuer sein sollte). Nur: Wie sollten dann Wachstumsimpulse und Programme gegen Jugendarbeitslosigkeit finanziert werden? Denn die Rezession ist nun einmal da in den Krisenländern, genau so wie die hohe Jugendarbeitslosigkeit.

Hier zeigt sich eine der gravierenden Schwächen im wirtschaftspolitischen Denken der SPD: Wer der Schuldenbremse – ob aus Überzeugung oder aus reinem Populismus spielt da keine Rolle – zugestimmt hat, tut sich schwer, einen echten Impuls gegen die Abwärtsspirale durch zusätzliche staatliche Nachfrage zu setzen. Denn er ist immer auf der Suche nach einem Finanzier für diesen Impuls. Es kann aber niemals sinnvoll sein, den Staat als Croupier am Finanzmarktkasino zu beteiligen, um ihn als Nothelfer für die Folgen dieses Kasinos finanziell auszustatten. Der Staat muss dieses Kasino schließen. Das heißt auch, dass er auf keine Einnahmen aus dem Kasino bauen darf.

Doch eigentlich wird der spannende Punkt in der wirtschaftspolitischen Haltung des Kanzlerkandidaten schon vor dem Thema Eurokrise angesprochen, aber, wie leider nicht anders zu erwarten, mit diesem weder von ihm selbst noch von den Journalisten klar in Verbindung gebracht. So erklärt Peer Steinbrück, dass er nach wie vor für die Agenda 2010 stehe. Aber er sei bereit, gegebenenfalls Fehlentwicklungen wie etwa Dumpinglöhne, zu denen die Agenda 2010 “ja durchaus auch” geführt habe, zu korrigieren. Deutet sich hier der erste Silberstreif am wirtschaftspolitischen Horizont der SPD an? Wörtlich: “Politische Klugheit gebietet es, Fehlentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zu korrigieren.” Wie bitte, politische Klugheit? Nicht wirtschaftlicher Sachverstand? Nicht eine gewachsene Einsicht in wirtschaftliche Zusammenhänge? Nicht das soziale Gewissen? Nun gut, jeder mag unter “politischer Klugheit” etwas anderes verstehen, der eine z.B. gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein oder Weitsicht. Mancher aber wird eine solche Formulierung, noch dazu kurz vor einer Bundestagswahl, mit ‘wahltaktisches Kalkül’ übersetzen und entsprechend misstrauisch werden. Ich will diese Formulierung zwar nicht auf die Goldwaage legen, weil sie in einem life-Interview gefallen und nicht das Ergebnis etwa einer wohl vorbereiteten schriftlichen Äußerung ist. Trotzdem gefällt sie mir nicht.

Ganz ähnlich geht es mir mit dem kurz darauf fallenden Satz: “Wir brauchen in diesem Land vielleicht eine Rückbesinnung auf die soziale Marktwirtschaft, auf Balance, auf Maß und Mitte.” Vielleicht? Nein, ganz sicher brauchen wir das, da hat ein ‘vielleicht’ in meinen Augen nicht den geringsten Platz. Das ist so halbherzig wie der Satz, den Peer Steinbrück an sein Plädoyer für ein Trennbankensystem anhängt: “Dabei will ich das deutsche Universalbankensystem, um hier alle nicht zu beunruhigen, gar nicht aushebeln. Das kann in einer Holding-Konstruktion nach wie vor durchaus weiter getrieben werden.” Entweder ich habe ein Trennbankensystem, in dem Investmentbanken für sich allein agieren müssen und nicht auf Spareinlagen der “normalen” Banken zurückgreifen können und dürfen, oder ich habe dieses System nicht. Wird hier versucht, es allen recht zu machen nach dem Prinzip “Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass”?

Aber noch einmal zur Agenda 2010, die Heiner Flassbeck und ich seit Jahren als den großen “Beitrag” der Politik zur Erosion der deutschen Löhne und damit zur Eurokrise ansehen. Wenn Peer Steinbrück die Zunahme der deutschen Dumpinglöhne nicht als direkt beabsichtigte Folge der Agenda 2010 sondern eher als eine Art Kollateralschaden darstellt, ist das ein Zeichen für Unaufrichtigkeit oder für mangelhafte Kenntnis internationaler makroökonomischer Zusammenhänge.

Ist das nicht doch ein zu harter Vorwurf? Muss man im Wahlkampf nicht ein bisschen Nachsicht üben, was Darstellung und Interpretation der Vergangenheit betrifft? Nun gut, es geht mir nicht darum, Selbstanklage zum Prinzip zu machen, sozusagen als Maßstab für Glaubwürdigkeit. Mir geht es lediglich darum herauszufinden, was von Peer Steinbrücks Ankündigung, “Fehlentwicklungen” korrigieren und eine andere, bessere Europapolitik betreiben zu wollen, tatsächlich zu halten ist. Ich nehme also einmal für einen Augenblick an, dass er wirklich versteht, dass und warum Löhne einen, wenn nicht sogar den essentiellen Bestandteil einer florierenden Wirtschaft ausmachen und dass es daher grundsätzlich falsch ist, für deren Erosion zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit eines Landes zu sorgen. Wie aber kann er dann, gefragt nach der möglichen Vorbildfunktion der Politik des französischen Staatspräsidenten Hollande, folgendes sagen: “Er [gemeint ist Hollande, Anm.d.Verf.] macht eine völlig zutreffende Analyse auf. Er hat sich vorgenommen, Frankreich zu reindustrialisieren. Er will insbesondere Arbeitsmarktreformen durchführen, er versucht eine Art Sozialpartnerschaft neu zu begründen in Frankreich … . Er redet in diesem Zusammenhang von einem Instrumentenkasten und da geht er ran.” Also doch Agenda 2010 reloaded, dieses Mal eben in Frankreich? Alle “Fehlentwicklungen” also noch einmal, nämlich bei unserem Nachbarn? Sieht so das Krisenmanagement der SPD zur Rettung des Euro aus? Wo ist da der Unterschied zur gegenwärtigen deutschen Regierung? Was bringt das oben bereits kritisierte Sahnehäubchen namens Finanzmarkttransaktionssteuer auf einem generell ungenießbaren Cocktail?

Alle, die unter den Folgen der Agenda 2010 hierzulande leiden und den ökonomischen Zusammenhang zwischen dieser Agenda und der Eurokrise verstanden haben, werden sich da wohl (weiterhin) enttäuscht von der SPD abwenden, weil sie den wirtschaftspolitischen Wolf im sozialen Schafspelz erkennen. Wen sollte das wundern?