Billiges Eurogeld: Enteignet die Europäische Zentralbank die Sparer?

Von Rudolf Hickel

03.09.2013 / 02.09.2013

Eine neue Schreckensmeldung zur Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) macht die Runde. Bisher waren es die Ängste vor einer Hyperinflation. Eine sich beschleunigende Inflation ist trotz der Geldschwemme, die jedoch nicht die Nachfrage nach Produkten steigert, nicht in Sicht. Die aktuelle Niedrigzinspolitik der EZB, die in der nächsten Zeit beibehalten werden soll, löst andere Sorgen aus. Der durch die Europäische Zentralbank gesteuerte Leitzins liegt mit 0,5 Prozent knapp vor der Nullverzinsung. Reale Vermögensverluste vor allem für die Sparer frustrieren. Der Vorwurf einer Enteignung durch die Notenbank macht die Runde. Allein in Deutschland werden nach einer Berechnung der Dekabank die bisherigen realen Vermögensverluste auf über 14,3 Milliarden Euro geschätzt. Von der „finanzielle Repression“ ist die Rede: Die nominalen Zinserträge mit weniger als einem Prozent liegen unter dem Kaufkraftverlust durch die Inflation. Eine Modellrechnung zeigt: 100 Euro werden zu einem Zinssatz von 1 Prozent bei einer Inflationsrate mit 2 Prozent angelegt. Wird die Besteuerung der Zinseinnahmen oberhalb der Freigrenzen mit 25 Prozent Kapitalabgeltungsteuer eingerechnet, dann steigt zwar nominal das Sparguthaben. Real wird nach knapp 20 Jahren jedoch ein Viertel des Sparvermögens verloren sein.

Die durch die Notenbankzinsen ausgelösten Verluste reichen tief in die psychologische Verfassung deutscher Vermögensbildner. Die EZB gerät unter den Verdacht, die Spartugend durch Vermögensenteignung nach dem Motto mies machen zu wollen: Sparen wird bestraft. Dringend ist Aufklärungsarbeit über die Gründe und den gesamtwirtschaftlichen Wirkungen dieser geldpolitisch gewollten Liquiditätsschwemme erforderlich. Stehen den Vermögensverlusten der Sparer am Ende auch Gewinne durch eine Notenbankpolitik gegenüber, die die wirtschaftliche Rezession verhindert und steigende Arbeitslosigkeit bekämpft?

Die Niedrigzinspolitik führt über die realen Vermögensverluste der Sparer auch zu völlig neuen Belastungen im heutigen System der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Ursache liegt in der 2001 durchgesetzten Umstellung von der kompletten Umlagefinanzierung – Bezahlung der Renten aus den Sozialversicherungsbeiträgen – zum Aufbau einer wachsenden privaten Kapitalvorsorge. Die gesetzliche Rente, die bis 2030 auf 43 Prozent des Nettolohns reduziert werden soll, zwingt, um Altersarmut zu vermeiden, zur Vermögensbildung vor allem auf den Finanzmärkten. Mit der Riester-Rente versucht der Staat durch Subventionen die finanzmarktbasierte Kapitalvorsorge schmackhaft zu machen.

Was ist die Folge dieses Umbaus: Mit der privaten Kapitalvorsorge werden die Risiken der Finanzmärkte in das Rentensystem hereingeholt. Wie die Finanzmarktkrise lehrt, der Anspruch auf Altersrente wird durch Ertrags- und Wertverluste der Anlageprodukte gefährdet. Neben den Sparguthaben gehören die Lebensversicherungen zu den Verlierern der Niedrigzinspolitik. Gemessen am längerfristigen durchschnittlichen Zinssatz sind im letzten Jahr 22 Milliarden Euro den Versicherungen durch die Lappen gegangen. Neuversicherer können mit einer Überschussbeteiligung kaum noch rechnen. Aber auch der Garantiezins von derzeit 1,75 Prozent wird nicht zu halten sein. Erste Versicherungsprodukte ohne Garantieverzinsung werden produziert. Da liegt die Schuldzuweisung auf der Hand. Die EZB enteigne diejenigen, die durch den Gesetzgeber zur privaten Kapitalvorsorge gezwungen würden. Diese Kritik an der EZB ist einseitig, weil die Frage nach dem Warum dieser Politik nicht gestellt wird. Die EZB richtet ihre Geldpolitik nicht an den Sparerinteressen, sondern an der unvermeidbaren Stabilisierung des Euroraums und der Überwindung einer wirtschaftlichen Rezession aus. Den Transport der dadurch entstehenden Belastungen in die Alterssicherung hat nicht die EZB, sondern die Politik mit ihrer Rentenreform von 2001 zu verantworten. Sie hat die Abhängigkeit der Alterssicherung von den hochriskanten Finanzmärkten gewollt. Kurzfristig ausgerichtete Geschäfte mit Finanzmarktprodukten lassen jedoch eine längerfristige Kalkulationssicherheit der individuellen Altersvorsorge nicht zu. Dieser Transport der Risiken stark instabiler, zur Irrationalität neigender Finanzmärkte steht im ekla-tanten Widerspruch zur gesetzlich zu sichernden solidarischen Rente. Hier gibt es nur eine Antwort. Die gesetzliche Altersgrundsicherung muss wieder von den riskanten und mittelfristig unkalkulierbaren Finanzmärkten entkoppelt werden. Dadurch gewinnt auch die Notenbank Spielraum zurück für eine Geldpolitik zur Stärkung inflationsfreien Wirtschaftswachstums im Euroraum.

Die Euro-Notenbank, die allerdings in der Fernwirkung die Sparer durch nahezu Nullzinsen belastet, muss ihre Geldpolitik aus den gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeiten der Euro-Wirtschaft ableiten. So gesehen werden mit dem Vorwurf, die Niedrigzinspolitik würde die Sparer enteignen und die private Kapitalvorsorge für das Alter belasten, die positiven Folgen einer aktiven Geldpolitik unterschlagen. Deshalb stellt sich die Frage, wie hoch wären die gesamtwirtschaftlichen Kosten eines Verzichts auf die Niedrigzinspolitik? Zum einen richtet sich diese Zinspolitik zusammen mit den Programmen zum Aufkauf von Staatsanleihen aus den Krisenländern von den Sekundärmärkten gegen ein Auseinanderbrechen des Euroraums. Mit dieser Politik war die Notenbank bisher recht erfolgreich. Zum anderen will die EZB mit ihrer Niedrigzinspolitik der wirtschaftlichen Rezession entgegen wirken. Würde sie dies nicht tun, dann wären auch die Sparer von der Wirtschaftskrise und der steigenden Arbeitslosigkeit betroffen. Es käme zu Einkommensverlusten. Durch eine stabile Eurozone auf der Basis eines ökologisch fundierten Wirtschaftswachstums geraten die Sparer trotz vorübergehender Vermögensverluste mittelfristig auf die Gewinnerseite. Aus dem aktuellen Dilemma zwischen einer notwendigen Niedrigzinspolitik einerseits und den Vermögensverlusten der Sparer andererseits gibt es nur einen Ausweg: Der Euroraum muss ökonomisch stabilisiert werden. Entscheidend ist der weitere Ausbau zur Wirtschafts- und Währungsunion. Die EZB kann aus ihrer derzeitigen Rolle der Lückenbüßerin für mangelnde Eurostabilität nur durch einen Ausbau der fiskalischen, wirtschaftlichen und politischen Integration befreit werden.