Kämpfe um Zeit - Auswertung einer Strategieberatung Rosa-Luxemburg-Stiftung/WISSENTransfer

Von Sybille Stamm und Richard Detje

23.07.2013 / Juli 2013

1. Auch in Deutschland – nicht nur in den »Krisenstaaten« der EU – ist Arbeitslosigkeit eine Geißel und schwere Hypothek der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwick­lung. Dabei hat nicht erst die Entschärfung der Krise 2008/2009 gezeigt, dass Arbeits­zeitverkürzung ein probates Mittel ist, mit dem ein weiterer Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindert, damit erheblicher »Angstrohstoff« aus dem betrieblichen und gesellschaftli­chen Leben genommen und zugleich eine Stabilisierung der Nachfrage im Binnenmarkt erfolgreich gelingen kann. Also: »Arbeit umfairteilen« durch Einführung der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich? Diese Initiative ist hoch kontrovers.

Die arbeitsmarktpolitische Zuspitzung der »Kämpfe um Zeit« droht angesichts veränder­ter Rationalisierungs- und Steuerungsprozesse ins Leere zu laufen. Dass Arbeitszeit­verkürzung Beschäftigung sichert, gilt dort, wo die vorhandene Beschäftigung das Auf­trags-/Arbeitsvolumen überschreitet. Doch das Gegenteil ist betriebliche Realität: Auf­grund einer Personalpolitik der untersten Linie aufgrund von permanentem cost cutting herrscht das Gegenteil: Beschäftigungs- bzw. Zeitnotstand. Arbeitszeitverkürzung selbst bei vollem Personalausgleich würde an diesem Status quo nichts ändern. Anders for­muliert: Der gesellschaftliche Widerspruch zwischen erzwungener Null-Arbeit auf der einen und pathologischer Überarbeit auf der anderen Seite ist unter diesen Bedingun­gen nicht durch die Konzentration der »Kämpfe um Zeit« auf die Forderung nach um­gehender Wochenarbeitszeitverkürzung aufzubrechen.

2. Mit »Vermarktlichung«, »indirekter Steuerung« und »Flexibilisierung« werden Steue­rungsprozesse in Unternehmen und Betrieben gefasst, mit denen der Zusammenhang von Arbeit und Leistung verflüssigt wird. Nicht mehr definierte Arbeitsquanta und Leis­tungsnormen, sondern das Arbeitsergebnis ist vorgegeben (was, wie viel, bis wann). Mit weit reichenden Folgen: Vor die Regulierung der Arbeitszeit schieben sich die Leis­tungsbedingungen. Die enorme Intensivierung der Arbeit und Verdichtung der Poren des Arbeitstages lässt die Verlängerung der Arbeitszeit zu einem Ventil werden – des­halb die de facto Wiedereinführung der 40 Stunden/Woche. Das heißt aber: Nicht die Verkürzung der Wochenarbeitszeit, sondern die Regulierung der Leistungsbedingungen wird zum Kern von Konflikten und Auseinandersetzungen.

3. Die Forderung nach allgemeiner Arbeitszeitverkürzung – 35-Stunden-Woche – bün­delte Mitte der 1980er Jahre die Kämpfe um Zeit. Die seitdem erfolgte massive Flexibili­sierung der Arbeitszeit und die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse lassen es fraglich erscheinen, dass diese Bündelung mit einer neuen Maßzahl der Wochenarbeitszeit – 30 Stunden – gelingen kann: für Projektarbeit in Forschungs- und Entwicklungsabtei­lungen bis in weite Bereiche der Arbeitsvorbereitung über Service- und Dienstleistungs­arbeiten bis hin zu Teilzeitarbeit, geringfügiger und temporärer Beschäftigung. Richtig ist: Es gibt einen weit verbreiteten Wunsch nach kurzer Vollzeit. Doch um dahin zu kommen, scheinen heute unterschiedliche Pfade gegangen werden zu müssen.

Dies gilt auch im Hinblick auf die Regulierung und Normierung der Arbeitszeit. Hier ist nicht nur Neuland zu betreten, weil – aufgrund von neuen Steuerungsmodellen und nach politischen Niederlagen – an die Stellen der Erfassung und Kontrolle von Arbeits­zeit Marktsteuerung bis hin zu »Arbeit ohne Ende« getreten ist. Sondern auch deshalb, weil sich die Akteursperspektive verschoben hat: Die Regulierung und Kontrolle der Ar­beitszeit muss durch die Beschäftigten jeweils selbst erfolgen, oder es wird sie nicht geben. Dass dafür Leitplanken und Haltegriffe erforderlich sind, ist selbstverständlich.

4. Statt Konzentration auf eine fixe Größe allgemeiner Wochenarbeitszeit hat sich in den betrieblich-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ein Bündel unterschiedlicher Problemlagen herauskristallisiert:

  • die Gesundheitsbelastungen von wachsendem Arbeitsstress bei gleichzeitiger In­tensivierung, Extensivierung und Flexibilisierung der Arbeit – damit die Forde­rung nach Guter Arbeit
  • die Verlängerung der Lebensarbeitszeit (Rente mit 67) bei progressivem Ver­schleiß aufgrund nicht alternsgerechter Arbeitsbedingungen – damit die Forde­rung nach flexiblen Altersübergängen
  • die exkludierenden Widersprüche zwischen Familie und Beruf ebenso wie die massive Ungleichverteilung zwischen den Geschlechtern (vom Lohn über die Ar­beitsinhalte und -organisation bis hin zur Arbeitszeit) – damit die Forderung nach Work-Life-Balance und Geschlechterdemokratie.

Mit diesen Problemlagen stehen wiederum besonders belastete Personengruppen im Focus.

Ebenso wie die Regulierung und Kontrolle der Arbeitszeit – ihrer Intensität und ihrer ab­soluten Größe nach, sowie hinsichtlich Lage und Verteilung – durch das Nadelöhr indi­vidueller Ansprüche und Bedürfnisse gehen muss, so ist von den unterschiedlichen Zu­gängen und Problemlagen bei der Wiederaneignung der Zeit auszugehen. Neue gesell­schaftliche Normierungen und Standards können – sollen sie mehr sein als eine blutlee­re Durchschnittsberechnung – nicht Voraussetzung sondern nur (spätes) Resultat der Kämpfe um Zeit sein.

5. Die zentralen Topoi – Gesundheit, demographische Entwicklung, Geschlechterfrage

  • verweisen darauf, dass die »Kämpfe um Zeit« nicht auf die Verteilung und Regulie­rung von Arbeitszeit enggeführt werden können. Die Wiederaneignung der Zeit ist gleichermaßen ein arbeits- wie gesellschaftspolitisches Projekt. Das war es auch be­reits in dem Kämpfen um die 35-Stunden-Woche Mitte Anfang der 1980er Jahre.

6. Die »Kämpfe um Zeit« sind komplexer und anspruchsvoller geworden. Entsprechend die Durchsetzungsbedingungen. Die Wiederaneignung der Zeit trifft den Kern eines finanzmarktgetriebenen Akkumulationsregimes, dessen Verwertungsansprüche mehr als je zuvor auf dem Raubbau lebendiger Arbeit basieren. Galt von Beginn des Kapitalis­mus mit der Regulierung des Arbeitstages, dass der Kampf um Zeit ein Kampf um diePolitische Ökonomie in Gänze ist, so gilt dies heute im Besonderen. Dabei geht es um Hegemonie im eminenten Sinne – nicht um Themensetting.