Offener Brief an Merkel: "Stoppen Sie die Politik der Spardiktate"

Von den ErstunterzeichnerInnen des Aufrufes "Europa geht anders!"

29.06.2013 / 26.06.2013

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrte Frau Angela Merkel,

noch können Sie einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass die Krise der Europäischen Union im Guten gelöst wird und Europa nicht weiter in Richtung Spaltung, Verarmung und Auflösung getrieben wird.

Denn es ist zu befürchten, dass auf dem bevorstehenden Europäischen Gipfel (27.06.2013 - 28.06.2013 in Brüssel) von Ihnen und den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten bzw. der EURO-Staaten weiterhin eine Kabinettspolitik, d.h. ohne weitergehende Beteiligung oder kontrollierenden Einfluss einer Volksvertretung, exekutiert wird, obwohl die negativen Ergebnisse dieser Politik von oben herab nicht mehr zu beschönigen sind.

Unter Missachtung der vertraglich festgelegten Gemeinschaftsmethode haben Sie und der Europäische Rat seit 2008, dem Zeitpunkt der Katastrophe an den ungeregelten Finanzmärkten, oft nur mäßig demokratisch legitimierte dirigistische Maßnahmen getroffen.

Diese Politik hat weder eine gemeinsame europäische Geld- und Finanzpolitik noch eine gemeinsame europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitk befördert, sondern zu noch mehr gemeinsamen Schwierigkeiten geführt. Das Ergebnis dieser Politik ist heute eine weniger vertiefte Integration, weniger soziale Sicherheit und weniger Stabilität in Europa.

Die Bevölkerung des schwächsten EURO-Mitgliedslandes muss heute zur Kenntnis nehmen:„Griechenland wird Schwellenland“. Die von der Troika umgesetzte Sparpolitik hat die öffentliche Daseinsvorsorge Griechenlands derart zerstört, dass es im Sozial- und insbesondere im Gesundheitsbereich zu humanitären Katastrophen kommt, die uns, europäischen Bürgerinnen und Bürger die Stimme verschlägt. Diese Sparpolitik macht uns sprachlos und ist eine Schande für Europa.

Sie, Frau Merkel, und der Europäische Rat müssen spätestens auf dem kommenden Gipfel eine ebenso „schonungslose Bilanz“ ziehen, wie sie der IWF Anfang Juni 2013 vorgelegt hat. Im IWF-Bericht wird die Rolle der Troika kritisiert und erklärt: „Es wurde unterschätzt, wie negativ sich das auferlegte Sparprogramm auf die griechische Wirtschaft auswirkt“.

Zu dieser überfälligen Bilanz gehört es, daran zu erinnern, dass es Ihre, die Bundesregierung, war, die auf besonders harten Einschnitten bestand.

Sie, Frau Merkel, müssen dafür die Verantwortung übernehmen, ebenso wie für die lange Chronik der falschen EURO-Rettungspolitik, an deren Anfang das Diktum aus Deutschland stand: "Keinen Cent für Griechenland!" und die sich von einer Gipfel-Fehlentscheidung zur nächsten bewegte, aber bis heute die Krise nicht beenden konnte.

Schon vor Zeiten konnte man lesen: „Nach jedem Rettungsgipfel steigen erst Aktien- und Euro-Kurse. Dann hört man nichts. Und später kommt die nächste Panikrunde samt Notgipfel mit laufender Nummer XY. So war das nach dem Krisentreffen vom 21. Juli. So ist das im Grunde seit zwei Jahren.“ (schrieb Thomas Fricke von der Financial Times Deutschland, 28. Oktober 2011).

Es wird Zeit für einen Gipfel der Bilanz und der Besinnung.

Wenn Sie, Frau Bundeskanzlerin, heute versichern, die EZB tue das, "was nötig ist, um die Geldwert-Stabilität zu sichern", dann müssen wir Sie daran erinnern: Statt durch den Ausbau der Macht und Kompetenz der Europäischen Zentralbank (EZB) und möglicher gemeinsamer Instrumente („Eurobonds“, „Bank für öffentliche Anleihen“, „Schuldentilgungsfonds“, usw.) Europa zu stärken, hat die Bundesregierung die EZB viel zu lange daran gehindert, den Märkten das Erpressungspotential gegen die Schuldnerländer aus der Hand zu nehmen und die Spekulationsspirale gegen Europa zu stoppen.

Wie ganz anders hätte die Krisenlösung aussehen können, wenn diese Maßnahme schon von Anfang an getroffen worden wäre. Man hätte den Rücken frei gehabt und damit die nötige Zeit, besonnen und mit demokratischen Verfahren echte und solidarische Strukturreformen umzusetzen. ESFS und ESM wären womöglich gar nicht nötig gewesen. Die Staatsschulden der Krisenländer hätten nie in diese Höhen getrieben werden können. Man hätte - wie in Deutschland auch - mit Konjunkturpaketen die Krise auffangen und transformieren können. Stattdessen steht die halbe Jugend der Krisenländer im Abseits.

Frau Merkel, beenden Sie die Politik der Spardiktate und Magerökonomie, die nur Not verordnen und die Grundlagen unseres gemeinsamen, freien, demokratischen und sozialen Europas der Vielen zerstören. Die Politik der Ignoranz und Missachtung des Europäischen Parlamentes durch den Europäischen Rat, wie etwa bei der Regelung des Fiskalpakts, zerstört die institutionellen Grundlagen eines gemeinsamen Europas.

Akzeptieren Sie die Gebundenheit des Europäischen Rates an die demokratische Zusammenarbeit mit den europäischen Institutionen und vor allem der Kontrolle des Europäischen und der nationalen Parlamente in der Gemeinschaftsmethode, mit der Europa erfolgreich aufgebaut wurde.

Wir fordern Sie auf, keine weiteren Schritte zu unternehmen, die nicht mit vorheriger Beratung und Billigung der Parlamente ohne Zeitdruck und anderen repressiven Mitteln erarbeitet wurden. Wir fordern Sie auf, die Beschlüsse des Europäischen Parlamentes aufzunehmen und zu akzeptieren.

Wir erwarten von Ihnen, dass die kommende Europäische Ratssitzung die Hinweise und Forderungen der Entschließungen des Europäischen Parlaments zu „künftigen Legislativvorschlägen zur Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)“ (23. Mai 2013) und zur „Stärkung der Demokratie in der EU in der künftigen WWU“ (12.Juni 2013) umsetzt.

Dies gilt insbesondere für das Instrument für „Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit“. Dieses Instrument darf nicht so ausgestaltet sein, dass schuldengeplagte nationale Regierungen vor die erpresserische Alternative gestellt werden könne, EU-Fördermittel nur bei Befolgung von Sozial-Abbau zu gewähren.

Die Konvergenz und damit die Wettbewerbsfähigkeit, eine Angleichung der Lebensverhältnisse und der Kaufkraft zwischen den Mitgliedstaaten, ist vor allem über eine Angleichung der sozialen Verhältnisse, also über eine Sozialunion, zu erreichen und weniger über Haushaltsdirigismus.

Deshalb brauchen wir vor allem Investitionen in Kinder, Jugend, Bildung, Gesundheitsschutz und gute Arbeit: „Sozialinvestitionen für Wachstum und sozialen Zusammenhalt“, so wie sie von der Kommission ebenfalls vorgetragen und vom Europäischen Parlament in seiner Entschließung vom 4. Juni 2013 beschlossen wurden.

Deshalb fordern wir Sie, Frau Bundeskanzlerin, auf, ziehen Sie eine ehrliche Bilanz und vollziehen Sie eine Kehrtwende in der Europapolitik, bevor es zu spät ist. Sonst wird es Ihnen und uns mit Ihrer Politik so ergehen, wie einem ihrer Vorgänger, der „blühende Landschaften“ versprach, –allerdings mit europaweiten Auswirkungen, die Sie sicher auch nicht verantworten wollen.

Von den ErstunterzeichnerInnen des Aufrufes „Europa geht anders!“:

Michael Groß, MdB, Dierk Hirschel, Gustav Horn, Katja Kipping, MdB, Bärbel Kofler, MdB, Knut Lambertin, Anke Martiny, Hilde Mattheis, MdB, Matthias Miersch, MdB, Mathieu Pouydesseau, Mechthild Rawert, MdB, Nina Scheer, Werner Schieder, MdB, Ralf Stegner, Jan Stöß, Axel Troost MdB, Sascha Vogt, Peter Wahl, Andrea Ypsilanti, MdL

Weitere Hintergrundinformationen finden Sie auf www.neues-deutschland.de

Downloads