Die doppelte Prekarität - Aufstocker/innen zwischen Erwerbstätigkeit und Hartz IV

Von Dr. Julia Graf

12.04.2013 / DGB gegenblende, 09.04.2013

Auseinandersetzungen um Teilhabe und Gerechtigkeit drehen sich aktuell häufig um Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt, die sich unter anderem in prekärer Beschäftigung ausdrücken. Die Bandbreite an unterschiedlichen Erscheinungsformen prekärer Erwerbsarbeit eint dabei, dass sie mit einer niedrigen, existenziellen Absicherung von Individuen sowie geringen langfristigen Perspektiven einhergehen und damit prekäre - also unsichere - Folgewirkungen für Individuen entfalten (können)

Wichtig ist bei dieser Thematik – es in den Blick zu nehmen, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen aber auch anderen auf dem Arbeitsmarkt marginalisierten Gruppen schon in der Vergangenheit oft sehr prekarisiert war, beispielsweise durch geringe Stundenlöhne oder Befristungen. Seit den 1980er Jahren rückt prekäre Beschäftigung aber zunehmend auch als Phänomen ins Zentrum der öffentlichen Betrachtung, weil weitere Teile der Beschäftigten, d.h. insbesondere auch immer mehr Männer, potentiell von ihr betroffen sind.

Neu ist an dieser Entwicklung, dass prekäre Erwerbstätigkeit sehr unterschiedliche Formen wie beispielsweise Leiharbeit und geringfügige Beschäftigung annehmen kann. Begleitend rückt außerdem der Tatbestand von ´working poor´ immer mehr in den Mittelpunkt. In Deutschland spielt in diesem Zusammenhang der gleichzeitige Bezug von ‘Hartz IV‘-Leistungen und prekärer Beschäftigung eine wichtige Rolle. So gibt es inzwischen circa 1,3 Millionen Personen, die trotz Erwerbstätigkeit diese Leistungen beziehen. Es sind die so genannten Aufstocker/innen, die 3,9% aller Erwerbstätigen auf dem Arbeitsmarkt ausmachen.

Prekäre Beschäftigung ist genauso unterschiedlich in verschiedenen Bereichen des Arbeitsmarktes verbreitet wie der aufstockende Hartz IV-Leistungsbezug. Es ist deshalb auch für Personen je nach Branche und Beschäftigungsform unterschiedlich wahrscheinlich zu den Aufstocker/innen zu gehören. So variiert der Anteil von Aufstocker/innen an allen Beschäftigten in den Wirtschaftszweigen zwischen 0,5% (Erbringung von Finanz- und Wirtschaftsdienstleistungen) und 17,6% in den Reinigungsdiensten, einem typischen Erwerbsbereich von Frauen.

Verwunderlich ist es dabei nicht, dass aufgrund des auf maximal 450¤ im Monat begrenzten Mini-Job-Lohns eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit einhergeht, von Hartz IV Leistungen abhängig zu sein. So gehen circa die Hälfte aller Aufstocker/innen einer solchen geringfügigen Beschäftigungsform nach und die Wahrscheinlichkeit von Hartz IV Leistungen abhängig zu sein ist bei ihnen mit 14,2% deutlich höher als bei sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (2,7%).

Trotz dieses Befundes fokussiert sich die Debatte um den aufstockenden Leistungsbezug häufig auf die Skandalisierung des Aufstockens von Vollzeitbeschäftigten, obwohl ´nur´ jede/r vierte Aufstocker/in zu dieser Gruppe gehört. Dieser häufig vorgenommene Fokus ist aus unterschiedlichen Gründen problematisch. Wesentlich ist dabei, dass so die Ausdifferenziertheit der Problematik der Gleichzeitigkeit von Erwerbstätigkeit und ‘Hartz IV‘ nur begrenzt thematisiert werden kann. Denn der aufstockende Leistungsbezug verweist auf vielfältige grundlegende Problematiken des derzeitigen Arbeitsmarktes. Zwei davon sollen im Folgenden herausgearbeitet werden.

Marginalisierte Arbeitsmarktposition: Geringfügige beschäftigte Aufstocker/innen

In der Debatte um den aufstockenden Leistungsbezug kommt häufig die geringfügige Beschäftigung zu kurz - eine Beschäftigungsform, deren Implikationen und Folgewirkungen inzwischen häufig thematisiert werden, deren umfassende Problematik für Individuen, Arbeitsmarkt und die Gesellschaft aber trotzdem immer wieder aus dem Fokus verschwindet. Ob einhergehend mit oder ohne gleichzeitigen Bezug von Hartz IV-Leistungen, ist es eine Beschäftigungsform, die mit einem hohen individuellen Risiko von Altersarmut und dem gleichzeitigen Bezug von Sozialleistungen einhergeht und somit langfristig hohe Kosten für die Individuen und die Gesellschaft erzeugt.

Hinzu kommt, dass diese Beschäftigungsform bei Arbeitgebern aufgrund der niedrigen Stundenlöhne und der Möglichkeit der Umgehung arbeitsrechtlicher Standards sehr beliebt ist und dadurch mit der Gefahr der Verdrängung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung verbunden ist. Darüber hinaus ist sie die Form prekärer Beschäftigung, die die geringsten Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten bietet, eine andere - weniger oder nicht - prekäre Beschäftigungsform aufnehmen zu können. Sie stellt also häufiger als andere prekäre Beschäftigungsformen eine langfristige Sackgasse dar, die eine deutliche Abwertung erworbener Qualifizierungen bedeutet.

Bei den geringfügig beschäftigten Aufstocker/innen zeigt sich empirisch, dass die Arbeitssituation einhergeht mit dem Eingebundensein in das ‘Hartz IV‘-Regime und damit zu einer besonders problematischen Arbeits- und Lebenslage wird. Neben der prekären materiellen Lebenslage, die sich beispielsweise darin zeigt, dass circa 60% aller geringfügig Beschäftigten Aufstocker/innen arm sind, mangelt es auch an einer als ausreichend empfundenen Integration in die Gesellschaft. So verorten sozialversicherungspflichtige Aufstocker/innen ihre eigene Position in der gesellschaftlichen Statushierarchie deutlich niedriger als andere sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, die nicht von ‘Hartz IV‘ abhängig sind. Noch mal deutlich niedriger verorten sich allerdings geringfügig Beschäftigte Aufstocker/innen. Hier offenbaren sich also die starken Merkmale der Marginalisierung von geringfügig Beschäftigten.

Hinzu kommt, dass geringfügig beschäftigte Aufstocker/innen nur geringe Möglichkeiten sehen, den doppelt ungewollten Zustand der geringfügigen Beschäftigung UND des ‘Hartz IV‘ Bezugs langfristig zu beenden. Dies gilt insbesondere für gesundheitlich eingeschränkte Personen oder gerade auch für alleinerziehende Frauen. Es befinden sich somit viele Personen in einer langfristigen Sackgasse, aus der es nur wenige Auswege gibt, sowohl die geringfügige Beschäftigung als auch den aufstockenden Hartz IV-Bezug zu verlassen. Hieran wird deutlich, dass geringfügige Beschäftigung teilweise eine andere Dynamik und Problematik besitzt als andere Formen von prekärer Beschäftigung.

Spezifik des Aufstockens

Hinzu kommt für alle Aufstocker/innen, dass sie nicht nur von den Einschränkungen eines Regimes prekär strukturierter Erwerbstätigkeit betroffen sind, wie es schon vielfach thematisiert wurde. Vielmehr sind sie gleichzeitig in ein zweites Regime involviert, dass durch noch mal besondere Governanceformen strukturiert ist. Denn bei ‘Hartz IV‘ handelt es sich nicht um irgendeine beliebige soziale Leistung, deren Bezug für Empfänger/innen mit einer ebenso hohen Selbstverständlichkeit verbunden ist wie beispielsweise der Erhalt von Kindergeld.

Vielmehr bedeutet die im Gesetz erhaltene Vorgabe des ‚Forderns’ ein Einhergehen des Bezugs dieser Leistungen mit Zwangselementen und hohen Eingriffsmöglichkeiten in individuelle Entscheidungen, Lebenslagen und Perspektiven. Wesentlich ist dabei, dass es gar nicht erst dazu kommen muss, dass Sanktionen ausgesprochen werden, damit Betroffene die Eingriffsmöglichkeiten spüren. Vielmehr wirkt die bloße Möglichkeit dies zu tun und der den Leistungsbeziehenden entgegengebrachte Anspruch, private Lebensverhältnisse offenlegen zu müssen und Entscheidungen zur Disposition zu stellen, marginalisierend auf erwerbslose und auch erwerbstätige Leistungsbeziehende. Das hat zur Folge, dass nicht selten der Eindruck entsteht, einen geringeren gesellschaftlichen Wert zu haben, als Personen, die diese spezifische Leistung nicht beziehen müssen.

Bei den Aufstocker/innen kumuliert also Zweierlei: Prekäre Beschäftigung, einhergehend mit niedrigen Stunden- und Monatslöhnen, teils weiter nach unten gedrückt dadurch, dass Arbeitgeber diese zur Verfügung stehende Lohnsubvention dankend nutzen. Hinzu kommt aber noch, dass man in ein ‘Hartz IV’-Regime (neben dem Disziplinarregime im Job) einbezogen ist, dass durch die mit Zwangselementen flankierten Anteile des Forderns und der Anforderung Lebensverhältnisse weitreichend offen legen zu müssen, den Beziehenden dieser Leistung einen niedrigeren gesellschaftlichen Status vermittelt.

Teilhabe von Aufstocker/innen stärken

Es zeigt sich bei den Aufstocker/innen also die doppelte Problematik prekärer Beschäftigung und des gleichzeitigen Bezugs einer sozialen Leistung, die mit der Zuweisung eines niedrigen gesellschaftlichen Status einhergeht. Der kritischen Debatte um dieses Thema mangelt es häufig daran, beides gleichwertig in den Blick zu bekommen und hierbei insbesondere die Problematik geringfügiger Beschäftigung nicht unter den Tisch fallen zu lassen. Erfreulicherweise gibt es inzwischen eine Reihe von Akteuren, die auf eine quasi Abschaffung der geringfügigen Beschäftigung abzielen, wie sie unter anderem im Gleichstellungsbericht der Bundesregierung gefordert wurde.

Übergangsweise könnte sich ein veränderter Umgang mit geringen Monatseinkommen sicherlich am vom DGB favorisierten Stufenmodel orientieren. Langfristig kann angesichts der massiven Gefahren, die von dieser Beschäftigungsform ausgehen, allerdings nur eine Sozialversicherungspflicht ab dem ersten verdienten Euro anvisiert werden, was einer Abschaffung der Mini-Jobs gleichkommt. Ganz wesentlich ist allerdings im Zusammenhang mit dem aufstockenden Leistungsbezug nicht nur auf Problematiken prekärer Beschäftigung zu verweisen und eben die Abschaffung geringfügiger Beschäftigung und die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns zu fordern, sondern auch auf die mit ‘Hartz IV‘ einhergehenden Zwangsaspekte und deren Folgen für das gesellschaftliche Statusgefüge kritisch in den Blick zu nehmen.

Denn in ihnen manifestiert sich ein massives Demokratieproblem, weil hier manche aufgrund häufig eher zufälliger Lebens- und Arbeitskonstellationen - und eben nicht fehlender Erwerbsmotivation, wie häufig unterstellt - zu Bürger/innen zweiter Klasse degradiert werden. Das Element des ‘Forderns‘ hat deshalb ebenso wie die geringfügige Beschäftigung für eine Demokratie eher kontraproduktive Wirkungen und sollten deshalb besser früher als später der Vergangenheit angehören.

Literatur

Graf, Julia (2013): Teilhabe von Aufstocker/innen. Die Gleichzeitigkeit von Erwerbstätigkeit und SGB II. Marburg [http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-337286] aufstocker.wordpress.com