Die SPD feiert 10-jähriges Jubiläum der Agenda 2010 - Die „alte Tante“ muss weiter gezüchtigt werden

Von Friedhelm Grützner

18.03.2013 / 17.03.2013

Im Bundestagswahlkampf 2005 – noch unter dem frischen Eindruck der Schröderschen „Sozialreformen“ und der Hartz-Gesetzgebung – formulierte der Autor dieser Zeilen: „Die LINKE ist die Rute, mit der die ‚alte Tante‘ SPD für ihre Missetaten gezüchtigt wird“. Und das Ergebnis dieser wohlverdienten Züchtigung ist bekannt. Nach historisch zu nennenden zweistelligen Verlusten bei den Landtagswahlen erreichte die „alte Tan­te“ 2009 mit lediglich 23% ein Ergebnis, das mit dem Wort „desaströs“ nur unzureichend beschrieben wird. Die Agenda-Politik „kostete der SPD die Kanzlerschaft, sechs Minis­terpräsidentenposten, ein Drittel ihrer Mitglieder und die Hälfte ihrer Wählerstimmen“ (Christoph Butterwegge). Der seit 2003 zu besichtigende elektorale Niedergang der So­zialdemokratie scheint jedoch in ihren Führungsetagen keinerlei Bereitschaft zum Um- oder Nachdenken und eine damit verbundene Neujustierung der eigenen Politik bewirkt zu haben. In autistischer Fehlwahrnehmung der Realität und unter souveräner Missach­tung der Wählervoten beweihräuchert das Agenda-Personal in diesen Tagen das von ihm angerichtete Desaster und verunmöglicht dadurch einen allgemeinen Paradigmen­wechsel, der mit der neoklassischen Dogmatik bricht und den Primat der Politik sowohl gegenüber den Finanzmärkten als auch gegenüber den einzelwirtschaftlichen Privatin­teressen durchsetzt. „Wir können sehr stolz auf die Agenda 2010 sein“, die „eine große historische Leistung“ gewesen sei, „von der wir heute profitieren“ so der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel im März gegenüber SPIEGEL-online. Allerdings bleibt un­klar, wen Gabriel hier unter den profitierenden „wir“ versteht. Gewiss sind es nicht die 6 Millionen Hartz-IV-Bezieher, welche durch die sozialdemokratische Politik in materielle Not und gesellschaftliche Ausgrenzung gestoßen wurden. Und der SPD-Bundestags­fraktionsvorsitzende Frank Walter Steinmeier – Agenda-Architekt im Bundeskanzleramt und blamabel gescheiterter Kanzlerkandidat von 2009 – ergänzt, ohne die Agenda 2010 „stünden wir jetzt in einer Reihe mit Italien, Frankreich und Spanien vor deutlich größe­ren Problemen inmitten der Euro-Krise“. Ganz ähnlich wie Angela Merkel mit ihrer Aus­teritätspolitik setzt auch die SPD auf ein „Hartz IV für Europa“ („Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.“), womit sie als glaubhafte sozialstaatliche Alternative bei der nächsten Bundestagswahl ausscheidet. Bei all diesen Lobeshymnen darf natürlich der Altkanzler Gerhard Schröder nicht fehlen, der sich nicht entblödete, via BILD-Zeitung seine dümmlichen populistischen Hetzparolen gegen Langzeitarbeitslose aus dem Jah­re 2003 wiederzukäuen. Die „alte Tante“ bedarf also weiter der „Rute“.

Wenn wir die 10 Jahre Agenda-Politik der SPD und ihre Folgen vor uns Revue passie­ren lassen, dann stellen wir fest:

  • 1. Es war die SPD (und ihr grüner Koalitionspartner), welche die Deutschland AG des Rheinischen Kapitalismus auflöste und mit verschiedenen steuerpolitischen Gesetzen (u.a. steuerliche Freistellung von Veräußerungsgewinnen) sowie De­regulierungsmaßnahmen all den destruktiven Elementen des Finanzmarktkapita­lismus Tür und Tor öffnete, woran wir heute laborieren.
  • 2. Es war die SPD (und ihr grüner Koalitionspartner), die in einem bisher nicht vor­gestellten Ausmaß den Sozialstaat abholzte und in der Arbeitsmarktpolitik nur noch fürsorgerische Rudimente stehen ließ, welche überdies mit einer autoritär­paternalistischen Verhaltenskontrolle der Betroffenen verbunden wurden. Die Sozialdemokraten übernahmen hier in subalterner Dienstbotengesinnung für die Konservativen die Drecksarbeit, an die Angela Merkel und Schwarz-Gelb dann später problemlos anknüpfen konnten. Und auf diese Drecksarbeit für den politi­schen Gegner ist die Agenda-2010-Personage auch noch „stolz“! Kann da noch jemand tiefer sinken?
  • 3. Mit der Destruktion einer auf soziale Teilhabe ausgerichteten Arbeitsmarktpolitik agierte die Sozialdemokratie direkt gegen die eigene arbeitnehmerzentrierte Kernklientel, die durch den Ausbau des Niedriglohnsektor und der Drohung durch den Hartz-IV-Knüppel massiv unter Druck gesetzt wurde. An den Statisti­ken lässt sich ablesen, dass der Rückgang der Lohnquote zu Gunsten der Ein­kommen aus Kapital und Vermögen gerade in der zweiten Amtszeit Schröders dramatische Formen annahm.

Nun heißt es bei Lukas 15,7 (Gleichnis vom „verlorenen Schaf“): „Ich sage euch: Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, vor 99 Gerechten, die der Buße nicht bedürfen“. Diese biblische Weisheit setzt auf unserer Seite einem fortdauernden SPD-Bashing Grenzen. DIE LINKE allein (einschließlich der ihr mehr o­der weniger zugerechneten außerparlamentarischen Gruppierungen) wird nicht den wünschenswerten Paradigmenwechsel weg von Sparwahn und Austeritätspolitik hin zu einer Wirtschafts- und Sozialpolitik, welche sich der Verantwortung für das materielle Wohlergehen der breiten Bevölkerungsmehrheit bewusst ist, bewerkstelligen können. Hierzu bedarf es einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit, die bis ins linksbürgerliche Lager hineinreicht, zu der DIE LINKE als Repräsentantin der durch den Marktradikalis­mus abgehängten unteren Mittelschicht und der Prekarisierten gehören müsste. Diese gesellschaftliche Mehrheit ist derzeit als strategisch handlungsfähiger Machtfaktor nicht in Sicht, da sich die Sozialdemokratie mit ihrem Agenda-Personal immer noch im ge­scheiterten Paradigma der neoklassischen Volkswirtschaftslehre und damit in einer fak­tischen Großen Koalition mit den marktradikal-konservativen Parteien bewegt. An die­ser faktischen Großen Koalition wird sich auch bei einem rot-grünen Wahlsieg im Herbst nichts ändern, da in den Grundzügen der Austeritätspolitik, der Schuldenbremse und der Exportorientierung auf Kosten der Binnennachfrage mit der CDU Angela Mer­kels nach allen Bekundungen sozialdemokratischer Spitzenpolitiker ein breiter inhaltli­cher Konsens besteht. Von daher sind die sozialdemokratischen Absagen an eine rot-rot-grüne Alternative konsequent und logisch nachvollziehbar. Und wir sollten hier nicht den „billigen Jakob“ machen und uns einer Truppe aufdrängeln, die allenfalls marginal etwas verändern will, ohne den „großen Wurf“ zu wagen, den einst 1934 in einer ver­gleichbaren Situation der linksbürgerliche Franklin D. Roosevelt in den USA in Angriff nahm.

Wenn wir uns die SPD-Kanzlerkandidaten seit 2003 von Schröder über Steinmeier hin zu Steinbrück vergegenwärtigen, dann fallen mir stets Passagen aus den Eröffnungs­absätzen des „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ von Karl Marx ein: „Auf Augustus folgt Augustulus, auf Napoleon le Grand folgt Napoleon le petit“. Gerhard Schröder re­präsentierte als politicalanimal in seiner unverstellt sozialdarwinistischen Art noch den principe aus dem gleichnamigen Werk von Machiavelli. Seine Nachfolger Steinbrück und Steinmeier sind dagegen nichts weiter als avancierte Ministerialbürokraten ohne eigenen Gestaltungswillen und gewohnt, als Exekutoren einer vorgegebenen Politik zu „funktionieren“. Es muss wahrscheinlich noch der letzte Agenda-Vertreter in der jetzigen SPD-Führung vergleichbare Ergebnisse wie das von 2009 einfahren, bis der Weg frei wird für eine grundlegende Neuorientierung der Politik und für handlungsfähige neue gesellschaftliche Mehrheiten links von CDU/CSU und FDP. Und bis es soweit kommt, bedarf die „alte Tante“ weiter der „Rute“.