Putzfrau gegen Oberarzt

Von Jürgen Kiontke

16.03.2013 / DGB gegenblende, 06.03.2013

„Die feinen Unterschiede“ lautet der Titel eines Werkes des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Das Buch aus den siebziger Jahren beschäftigt sich mit den Distinktionsgewinnen gesellschaftlicher Schichten. Damals ging es um kulturelle Standards, mit denen man sich von anderen unterscheiden konnte. Die Spur war allerdings gelegt: Es ging um Abgrenzungsmechanismen der mittleren und oberen Schichten nach ganz unten. Das besitzt im neoliberalen Zeitalter eine besondere Aktualität – die Statusabsicherung mit niedrigen Steuern und Geld für eine Schönheits-OP. Einigen geht es gut, und der Rest? Egal….. Hauptsache - die Barrieren müssen unüberwindbar sein. Das Problem: Trotzdem muss einer kommen und den Müll rausbringen und dann habe ich den im Haus.

Bourdieus Werk hat Pate gestanden für Sylvie Michels Film gleichen Namens. Im Zentrum steht der erfolgreiche Reproduktionsmediziner Sebastian (Wolfram Koch) samt „seiner“ Putzfrau Jana (Bettina Stucky). Die schrubbt vom Boden der Klinik, was bei der In-Vitro-Fertilisation runtergefallen ist. Sie darf aber durchaus das Geschäftsfeld auch mal erweitern. „Holen Sie mir mal ein Ciabatta“, wirft irgendein Klinikkumpel ihr unbedacht zu. Jana kommt aus Bulgarien und ist eher konservativ. Dagegen muss der Edelmediziner Sebastian erstmal ganz modern mit der geschiedenen Ehefrau und Mutter klarkommen („Was machst du in Santa Barbara, ich denke, du bist in New York…“). Jana sagt: „In Bulgarien bin ich Lehrerin gewesen, da hatte ich selbst eine Putzfrau.“ Der Plot wird um das Thema Generation erweitert. Jana: „Der Jugend gehört die Zukunft. Wieviel Zukunft hat ein alter Mann?“ Sebastian: „Wie alt?“ Jana: „So alt wie sie und ich.“

Hier Porsche-Style, da die unbekannte Welt der Dienstleistungen. Michel will in ihrem Film nun wissen, was passiert, wenn das Verhältnis noch außerdienstlicher wird. Dazu lässt sie Janas Tochter Vera (Silvia Petkova) anrücken. Die ist 20, spricht nur Englisch und rockt Deutschland via Erasmus-Studienjahr. Sie schrubbt als Aushilfe Sebastians Bungalow. Heute lässt ihr Jana via Sebastian ausrichten, dass die Mutter sie abholen kommt. Jana sorgt sich nämlich um ihr Kind, ganz anders als der Arzt, dem sein eigener 17-jähriger Sprössling Arthur (Leonard Bruckmann) eher zu viel ist. Eine Garantie, dass mal was aus Vera wird, ist das natürlich nicht.

Sebastian und Vera können gut miteinander: Sebastian (auf Englisch) zu Vera: „Na, wenn Sie hier studieren wollen, müssen Sie schon Deutsch können.“ Vera: „Ich kenne Studenten in Bulgarien, die sprechen auch kein Bulgarisch.“ Sebastian: „Das ist nicht dasselbe.“ Vera: Ich finde Männer sind erst ab 40 interessant.“ Nun erweist sich dieser Trick als besonders brauchbarer Griff. Vera und Arthur wollen ganz schichtenunspezifisch zusammen Fußball gucken. Noch bevor Jana eintrifft, sind sie weg. Die Mutter kriegt die Panik und sich selbst nicht mehr unter Kontrolle. Schließlich ist das Kind allein in Deutschland unterwegs.

War das Verhältnis zu Arthurs Vater vorher relativ moderat, geht’s jetzt richtig rund. Die reaktionäre Hausangestellte macht Sebastian rund wegen seines liederlichen Sohnes. Man begibt sich auf die Suche. Alsbald werden alle Grenzen überschritten, nicht nur zwischen den beiden, sondern auch in Sebastians Familie. Schließlich findet er seinen verkaterten Sohn. Es folgen Szenen wie in den fünfziger Jahren bzw. in der Europäischen Union 2013: Arthur: „Alter, entspann dich mal.“ Sebastian: Du nutzloser, kleiner Schmarotzer. Du rufst deine Mutter an. Was du hier für eine Sauerei gemacht hast.“

So kennt man den Mann eigentlich gar nicht. Mit der Erziehung des ehelichen Besitzstandes will er so gar nichts zu tun haben. Bei seiner jungen Freundin gefällt es ihm viel besser. Deswegen hat er auch ein schlechtes Gewissen, weil er Arthur am Abend nicht weiter kontrolliert hat. Denn Jana ist sich sicher, dass ihre Tochter nie und nimmer Mist baut bzw. zu älteren Männern ins Auto steigt. Genau das lässt Arthur aber anklingen. Er war gar nicht mit ihr unterwegs, kaum aus der Tür, soll Vera in irgendein Auto zu einem älteren Typen gestiegen sein. Beim Zugucken denkt man: Das hier nimmt kein gutes Ende. Regisseurin Michel lässt ihre Figuren in den Matsch fallen oder auch verdächtige Spuren im See finden. Was ist das dort? Ein T-Shirt. Vera ist weg. Die Ratlosigkeit ist da.

Eine rundliche Putzfrau als Heldin eines deutschen Spielfilms, die sich mit dem Oberarzt im Schlamm prügelt - wer hätte das gedacht! Standesdünkel, Verlustangst bis zum Wahnsinn (berechtigt!) und missverstandene Informationen bilden die komplexe Versuchsanordnung, in der sich die sozialen Widersprüche zeigen: in den Erziehungsstilen, den Vorstellungen, dem Innenleben. Bald merkt man, dass die Geschichte, die hier erzählt wird, immer nebensächlicher wird. Das hier kann sich an einem beliebigen Ort in der gegenwärtigen Eurozone abspielen. Die Darsteller, allesamt ideal für ihre Rollen, haben hier genug Freiheit, ihren jeweiligen Part auszuleben. Gesten, Aktionen, Dialoge: Die feinen Unterschiede zeigen sich am Rande, im kleinen oder im ganz großen, wörtlich. In einer Szene wollen die Darsteller in Sebastians riesigen Mercedes einsteigen. Die schwarz glänzende Luxuskarre füllt das ganze Bild aus, die Schauspieler müssen sich am Leinwandrand zusammenquetschen. Kaum möglich, dass man überhaupt die Türen aufkriegt! Das teure Fahrzeug will eben nicht jeden in sich drin haben, für Putzfrauen ist es nicht gebaut. Und irgendwann sitzt Sebastian bei Jana zu Hause - wo sprichwörtlich die Bude wackelt: Sie wohnt über der U-Bahnstrecke.

Ob die Regisseurin auch so gedacht hat, sei dahingestellt. Sie selbst sieht in ihrem sozialen Kammerspiel verschiedene Themen im Vordergrund: „Wie genau sehen die tief verankerten emotionalen und kulturellen Einstellungen aus, die wir bei den Einheimischen einerseits und bei den Zugewanderten andererseits finden, und welche Haltung zum jeweils ‚Anderen’ ergibt sich daraus?“ Nicht nur Sebastian gelange in diesem Kampf an seine Grenzen, sondern auch Jana, die ebenso voller Vorurteile gegen den Arzt stecke wie umgekehrt - gegenseitige Verachtung als Kommunikationsgrundlage. „Die feinen Unterschiede“ ist ein Berlin-Film der etwas anderen Art, ein Film des neuen Europas. Nicht nur die Spuren Veras verlieren sich hier.

„Die feinen Unterschiede“. D 2012. Regie: Sylvie Michel. Mit Wolfram Koch, Bettina Stucky u.a. Kinostart: 7. März 2013