Thesen zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung

Von Christoph Butterwegge

10.03.2013 / 09.03.2013

  • 1. Nach am 27. Januar 2000 und am 19. Oktober 2001 gefassten Parlamentsbeschlüssen soll die Bundesregierung regelmäßig einen Armuts- und Reichtumsbericht (ARB) vorlegen, und zwar, wie es dort heißt, jeweils zur Mitte einer Legislaturperiode. Unterschiedlich zu­sammengesetzte Regierungskoalitionen haben dies seit der Jahrtausendwende – wenn­gleich nicht immer termingerecht – drei Mal getan. Sehr viel Zeit ließen sich CDU, CSU und FDP in der laufenden Legislaturperiode. Erst knapp ein Jahr nach dem vorgegebenen Veröffentlichungstermin, am 18. September 2012, wurde der Entwurf zum 4. ARB durch eine Indiskretion bekannt.
  • 2. Während die Öffentlichkeit mit einem kurzen Aufschrei der Empörung über die darin im­merhin dokumentierte Auseinanderentwicklung von Arm und Reich reagierte, stieß sich die FDP an einigen Bewertungen des CDU-geführten Arbeits- und Sozialministeriums, das für die Datensammlung verantwortlich zeichnet: Vizekanzler und Wirtschaftsminister Philipp Rösler kritisierte besonders Feststellungen, wonach die Privatvermögen hierzulande „sehr ungleich verteilt“ sind, die Einkommensspreizung zugenommen hat, über 4 Mio. Menschen für einen Bruttostundenlohn von unter 7 Euro arbeiten und Niedriglöhne das Armutsrisiko verschärfen und den sozialen Zusammenhalt schwächen. Daraufhin wurden Passagen, die den ausufernden Niedriglohnsektor, die zunehmende Lohnspreizung und die extreme Ver­teilungsschieflage betrafen, im Rahmen der Ressortabstimmung gestrichen bzw. abge­schwächt, was der Regierungskoalition nach Bekanntwerden der geänderten Fassung den Vorwurf eintrug, Zensur ausgeübt und das Dokument über die Lebenslagen in Deutschland geschönt zu haben.
  • 3. Zum ersten Mal wurde Berichtskosmetik dieser Art nicht hinter den ministeriellen Kulis­sen, vielmehr vor aller Augen betrieben und weiten Teilen der Öffentlichkeit klar, dass Ar­mut und Reichtum politisch-normative Begriffe sind und selbst innerhalb des „bürgerlichen Lagers“ unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe existieren. Deshalb wäre es auch falsch, den ARB künftig von „unabhängigen“ Wissenschaftlern erstellen zu lassen und die Bun­desregierung damit ein Stück weit von der Pflicht zu entbinden, selbst Position hinsichtlich der Einkommens- und Vermögensverteilung bzw. der Verteilungs(un)gerechtigkeit zu be­ziehen.
  • 4. Aufgrund der Divergenzen im Regierungslager wurde die Beschlussfassung über den 4. ARB wiederholt verschoben. Erst knapp sechs Monate nach dessen Fertigstellung be­schäftigte sich das Bundeskabinett abschließend damit. Dass die CDU/CSU/FDP-Koalition den ihr per Bundestagsbeschluss vorgegebenen Termin um anderthalb Jahre überzog, stellte eine demonstrative Missachtung des Parlaments und der Öffentlichkeit dar. Man spürte förmlich, wie unangenehm den Regierungsparteien das Thema der zunehmenden sozialen Spaltung und der Verteilungsschieflage ist, weil sie eine Mitschuld an dieser Ent­wicklung tragen.
  • 5. Methodisch hat im 4. ARB ein Paradigmawechsel stattgefunden: Die bisher im Mittel­punkt stehenden Kernindikatoren (17 Armuts-, 5 Reichtums- und 8 Querschnittsindikato­ren) werden zwar fortgeschrieben, in den Vordergrund sind durch die Entscheidung für das Lebensphasenmodell aber die biografischen Übergänge zwischen Kindheit, Jugend sowie frühem, mittlerem, hohem und höchstem Erwachsenenalter gerückt. Der neue Schlüssel­begriff heißt „soziale Mobilität“, führt jedoch in die Irre, weil er das Problem der Armut indi­vidualisiert, ein schichtunabhängiges Gleichgewicht zwischen Aufstiegschancen und Ab­stiegsrisiken unterstellt sowie Exklusionsprozesse, soziale Ausgrenzungsmechanismen und Diskriminierungserfahrungen einzelner Bevölkerungsgruppen relativiert. Zwar werden an bestimmten Stationen im Lebensverlauf vieler Menschen entscheidende Weichen für ih­ren späteren Bildungsstand sowie ihre künftige Einkommens- und Vermögenssituation ge­stellt, die biografische Entwicklung gibt aber höchstens Aufschluss über einen Teil der Ar­mutsrisiken. Dass die Armut – ebenso wie der Reichtum – strukturell bedingt und ein ge­sellschaftliches Problem ist, entgeht der Analyse, wenn man diese auf einzelne Lebens­phasen konzentriert. Weil der 4. ARB überwiegend auf – für andere Zwecke erhobenen – Querschnittsdaten basiert, bleibt außerdem die erforderliche Längsschnittbetrachtung auf der Strecke.
  • 6. Hier liegt ein gravierender Mangel aller bisherigen Regierungsberichte: Nach den öko­nomischen, politischen und sozialen Ursachen der kaum mehr zu leugnenden Einkom­mens- und Vermögensspreizung wird überhaupt nicht gefragt. Höchstens die Auslöser persönlicher Notlagen wie Arbeitslosigkeit, Trennung bzw. Scheidung vom (Ehe-)Partner oder (Früh-)Invalidität sind Gegenstand der Betrachtung. Herrschafts-, Eigentums- und Machtverhältnisse bleiben hingegen im Dunkeln. Auf diese Weise leistet man persönlichen Schuldzuweisungen und Ressentiments gegenüber Minderheiten unnötig Vorschub.
  • 7. Wer vom Reichtum nicht reden will, sollte auch von der Armut schweigen. Trotz gegen­teiliger Absichtsbekundungen der Bundesregierung ist Reichtum im 4. ARB das Stiefkind der statistischen Datenerfassung und -analyse geblieben. Trotz aller seinen Wert mindern-den Beschönigungs-, Beschwichtigungs- und Entschuldigungsversuche dokumentiert die­ser eine doppelte Spaltung: Erstens wachsen Armut und Reichtum gleichermaßen, sind al­so zwei Seiten derselben Medaille. Dies zeigt sich besonders deutlich beim Vermögen, das sich zunehmend bei wenigen Superreichen konzentriert, die über riesiges Kapitaleigentum verfügen und meistens auch große Erbschaften machen. Während die reichsten 10 Pro­zent der Bevölkerung laut 4. ARB mehr als 53 Prozent des Nettogesamtvermögens besit­zen, kommt die ärmere Hälfte der Bevölkerung gerade mal auf 1 Prozent. Über 40 Mio. Menschen leben also von der Hand in den Mund. Zweitens geht der wachsende private Reichtum mit öffentlicher Verarmung einher, worunter die Armen wiederum am meisten leiden. Während sich das private Nettovermögen allein zwischen 2007 und 2012 um 1,4 Bio. Euro erhöht hat, ist das Nettovermögen des Staates laut 4. ARB in den letzten beiden Jahrzehnten um mehr als 800 Mrd. Euro gesunken. Folglich bedeuten im Grundgesetz, in den Landesverfassungen und im europäischen Fiskalvertrag festgeschriebene „Schulden­bremsen“, dass der Sozialstaat, wie man ihn bisher kannte, weiter ausblutet. Nur die Rei­chen können sich einen armen Staat leisten. Denn sie schicken ihre Kinder auf Privatschu­len und ausländische Eliteuniversitäten, kaufen alles, was ihr Leben verschönert, selbst und sind auf öffentliche Schwimmbäder, Bibliotheken oder sonstige kommunale Einrich­tungen – im Unterschied zu den Armen – nicht angewiesen.
  • 8. Vernachlässigt werden im 4. ARB die krassen regionalen Disparitäten, unter denen das Ost-West- und das Nord-Süd-Wohlstandsgefälle besonders hervorstechen. Wenn der Sozialabbau und die Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip (im Evangelium des Mat­thäus heißt es sinngemäß: „Wer hat, dem wird gegeben, und wer wenig hat, dem wird auch das Wenige noch genommen“) fortgesetzt werden, dürften die Städte der Bundesre­publik noch mehr zerfallen: in Luxusquartiere, wo sich die (Super-)Reichen hinter hohen Mauern verschanzen und von privaten Sicherheitsdiensten bewachen lassen, einerseits sowie in Elendsquartiere, wo sich die Armen versammeln, andererseits.
  • 9. Während das Stichwort „Kinderarmut“ nur in den Fußnoten bzw. den dort aufgeführten Titeln zitierter Fachliteratur auftaucht, wird Bedürftigkeit im Alter als „kein Problem“ be­zeichnet. Undifferenzierter geht es kaum: „Die Einkommens- und Vermögenssituation der Älteren von heute ist überdurchschnittlich gut“, heißt es im 4. ARB. Es wird darauf hinge­wiesen, dass am 31. Dezember 2011 „nur“ 436.210 Personen über 64 Jahren die Grundsi­cherung im Alter bezogen, was einem Anteilswert von rund 2,6 Prozent der Bevölkerung in dieser Altersgruppe entsprach, wohingegen der Anteil von Empfänger(inne)n von Mindest­sicherungsleistungen aller Altersgruppen an der Gesamtbevölkerung bei 8,9 Prozent lag. Abgesehen davon, dass eine geschlechterspezifische Datenauswertung ergibt, dass die Armutsbetroffenheit alleinlebender Frauen im hohen Alter über dem Bevölkerungsdurchnitt liegt, ist die Dunkelziffer, d.h. der Anteil jener Menschen, die – ihnen zustehende – Sozial­leistungen nicht beantragen, weil sie zu stolz sind, weil sie sich schämen oder weil sie den bürokratischen Aufwand scheuen, unter Senior(inn)en bekanntermaßen extrem hoch. Deshalb ist von weit mehr als einer Million Ruheständler(inne)n ausgehen, die auf oder un­ter dem Hartz-IV-Niveau (durchschnittlich 707 Euro pro Monat) leben. Mehr als 760.000 haben einen Minijob; fast 120.000 davon sind 75 Jahre oder älter.
  • 10. (Alters-)Armut ist kein bloßes Zukunftsproblem, sondern längst eine bedrückende Zeit­erscheinung. Vielerorts gehören Menschen, die in Müllcontainern nach Pfandflaschen su­chen, heute zum „normalen“ Stadtbild. Wer ohne ideologische Scheuklappen durchs Land geht und genau hinschaut, kommt zu einem anderen Ergebnis als der Regierungsbericht: Momentan verfestigt sich die Armut und breitet sich in die Mitte der Gesellschaft hinein aus. In manchen Ballungsgebieten und Boomtowns der Bundesrepublik drastisch steigen­de Mieten und Energiepreise gefährden sogar den Lebensstandard von Normalverdienern und verstärken die Angst vieler Mittelschichtangehöriger vor dem sozialen Abstieg. Die so­ziale Ungleichheit wächst in erschreckendem Maße, ohne von den politischen Entschei­dungsträgern als Kardinalproblem der Gesellschaftsentwicklung wahrgenommen zu wer­den.
  • 11. Um persönlichen Schuldzuweisungen zu begegnen, Vorurteile zu widerlegen und wirk­same Gegenmaßnahmen ergreifen zu können, müsste man an die Wurzeln der Spaltung in Arm und Reich herangehen. Armuts- und Reichtumsberichte könnten eine gute Basis für die Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik der Bundesregierung sein, wenn sie die „Lebens­lagen in Deutschland“ nüchtern analysieren, die Ursachen für wachsende Ungleichheit er­gründen und entsprechende Handlungsempfehlungen geben würden. Solange die Bundes­regierung solche Berichte indes missbraucht, um ihre Politik dem Wahlvolk als Erfolgsge­schichte zu „verkaufen“, bringen sie nur einen geringen Erkenntnisgewinn.
  • 12. Reichtumsförderung, wie die Bundesregierung sie betreibt – erinnert sei nur an die Senkung der Mehrwertsteuer für Hoteliers –, ist keine Armutsbekämpfung, sondern das Gegenteil. Wer den Reichtum nicht antasten will, kann die Armut überhaupt nicht verrin­gern. Die kontroversen Diskussionen über den 4. ARB waren ein Lehrstück der politischen Bildung, das zeigt: Eine liberal-konservative Regierung, die den Interessen der reichen Be­sitzstandswahrer verpflichtet ist, will den Wohlhabenden nicht wehtun und vermeidet alles, was diese stärker belasten würde. Daher werden auch keinerlei Konsequenzen im Sinne einer Kurskorrektur, etwa auf steuerpolitischem Gebiet, aus dem 4. ARB gezogen. Sollte die Bundesregierung laut dem ursprünglichen Entwurf wenigstens prüfen, ob und wie pri­vater Reichtum über die Progression in der Einkommensteuer hinaus für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden könne, will sie nach dem Kabi­nettsbeschluss vom 6. März 2013 bloß noch prüfen, wie weiteres persönliches und finanzi­elles freiwilliges Engagement Vermögender für das Gemeinwohl eingeworben werden kann. Die neue, total verquaste Formulierung kann nicht überdecken, dass man es Rei­chen und Superreichen selbst überlässt, ob und wie sie sich für das Gemeinwohl engagie­ren. Auf diese Weise sind die wachsenden sozialen Probleme der Bundesrepublik gewiss nicht zu lösen. Nötig wären vielmehr eine im obersten Bereich erheblich progressivere Ein­kommensteuer, die Rücknahme der steuerlichen Privilegierung von Kapitalerträgen durch die Abgeltungssteuer in Höhe von 25 Prozent, die Wiedererhebung der 1997 ausgesetzten Vermögensteuer und eine Erbschaftsteuer, die auch große Betriebsvermögen erfasst. Schließlich ist es keine Leistung, die sich lohnen muss, der Sohn oder die Tochter eines Familienunternehmers zu sein.
  • 13. Im beginnenden Bundestagswahlkampf spielt die Kardinalfrage der sozialen Gerech­tigkeit vermutlich eine Schlüsselrolle. Vor allem die Altersarmut, der die amtierende Bun­desregierung trotz wohlklingender Versprechungen im Koalitionsvertrag aufgrund ihrer Un­einigkeit in zentralen Punkten nicht einmal durch einen kärglichen Rentenzuschuss („Zu­schuss-“ bzw. „Lebensleistungsrente“) für Geringverdiener/innen entgegentrat, dürfte also ein wichtiges Thema werden. Überzeugende sozialpolitische Konzepte und wirksame Maßnahmen gegen Armut im Alter sind ein Kriterium, nach dem Bürgerinnen und Bürger ihre Wahlentscheidung treffen. CDU, CSU und FDP haben sowohl im Hinblick auf die Ar­muts- und Reichtumsberichterstattung wie auch im Hinblick auf die Armutsbekämpfung kläglich versagt.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt sind seine Bücher „Armut in einem reichen Land“ und „Armut im Alter“ (beide im Campus Verlag) erschienen.