Wider dem Wettbewerbswahnsinn

Von Heinz-Josef Bontrup und Mohssen Massar

09.03.2013 / aus: der Freitag, 08.03.2012

Viel zu lange gibt es in Deutschland Massenarbeitslosigkeit. Seit Gründung der Bundesrepublik waren es nur wenige Vollbeschäftigungsjahre. Die überwiegende Zeit war die bundesdeutsche Volkswirtschaft personell stark unterbeschäftigt. Es hat sich unabhängig von konjunktureller und struktureller Arbeitslosigkeit eine verfestigte "Sockelarbeitslosigkeit" (Fritz Vilmar) aufgebaut.

Das kapitalistische System schafft es offensichtlich nicht, für alle arbeitsuchenden Menschen zumindest einen Arbeitsplatz bereitzustellen, einen konkreten Ort, an dem sie ihre gesellschaftlich gebildeten Arbeitsvermögen anwenden können, ob hoch oder weniger hoch ausgebildet, um von bezahlter Arbeit ohne staatliche (gesellschaftliche) monetäre Alimentierung zu leben.

Oskar Negt stellt in diesem Kontext fest: "Es ist dabei zunächst noch keine Rede von Selbstverwirklichung in der Arbeit, sondern nur von der bloßen Möglichkeit, durch gegenständliche Tätigkeit, und sollte sie auch noch so entfremdet sein, die materiellen Grundlagen der Existenz zu sichern und dadurch in den Genuss der einzig verfügbaren öffentlichen Anerkennungsprivilegien zu gelangen."

Eine Gesellschaft, die dieses Minimum nicht mehr anzubieten imstande ist, verspielt langfristig ihren moralischen Kredit, der für eine einigermaßen friedliche Konfliktregelung ihrer Interessenwidersprüche unabdingbar ist; unter solchen Verhältnissen wachsen Gewaltpotentiale sehr schnell. Seit Jahren dringt die Angst, durch Arbeitsplatzverlust aus dem gesellschaftlichen Ganzen vertrieben zu werden, in alle Poren unserer Lebenszusammenhänge.

Eine depressive Dynamik

Dass der Entzug von Arbeit, ja schon der drohende oder phantasierte Arbeitsplatzverlust sozialpsychologisch eine 'depressive Dynamik' in den Individuen auslöst, (...) scheint heute die Gesamtgesellschaft in ihren charakteristischen Merkmalen zu kennzeichnen. Entzug von Arbeit bedeutet, darin sind sich wichtige psychologische Studien zu den Folgen der Arbeitslosigkeit einig, nichts weniger als Realitätsentzug. Angst vor Realitätsentzug erzeugt wiederum erhöhte Bereitschaft zu Anpassung und Überanpassung." Wie gerade die deutsche Geschichte lehrt, erwachsen hieraus gefährliche demokratische Bestandsprobleme.

Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wurde schon immer aus Interessengründen erschwert. Dies deshalb, wie der polnische Ökonom Michal Kalecki 1943 schrieb, weil eine Situation der Vollbeschäftigung die Macht der Unternehmer im Kapitalismus schwächt und die der Gewerkschaften stärkt. Arbeitslosigkeit diszipliniert die abhängig Beschäftigten und die Arbeitslosen gleichzeitig, betonte auch die britische Ökonomin, Joan Robinson, im Jahr 1949.

Das Kapital hat daher kein Interesse an einer verkürzten Arbeitszeit zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, denn im kapitalistischen System besteht die Tendenz, die Arbeitszeit immer weiter auszuweiten, sodass Arbeitstag und Lebenstag praktisch miteinander verschmelzen. "In seinem maßlos blinden Trieb, seinem Werwolfs-Heißhunger nach Mehrarbeit, überrennt das Kapital nicht nur die moralischen, sondern auch die rein physischen Maximalschranken des Arbeitstages. Es usurpiert die Zeit für Wachstum, Entwicklung und gesunde Erhaltung des Körpers."

In der Mehrwertproduktion stehen nicht der Mensch und die Natur im Mittelpunkt, sondern diese sind nur Mittel (Instrumente) zur Gewinnmaximierung für eine kleine privilegierte gesellschaftliche Schicht. Allen anderslautenden Verheißungen in der so genannten "modernen" Management- oder Personalliteratur zum Trotz: Die Menschen bleiben unter kapitalistischen Verhältnissen lediglich "Produktionsfaktoren".

Unter den Bedingungen hoher Arbeitslosigkeit und dem "neuen Geist des Kapitalismus", der fast nur noch markt- und wettbewerbsgetrieben als Shareholder-Kapitalismus daherkommt, ist eine Prekarisierung, eine Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse zu konstatieren. Diese haben nicht nur zu einem gefährlichen gesamtwirtschaftlichen Lohndumping geführt, sondern auch die für Arbeitsmärkte wichtige Machtbalance zwischen Kapital und Arbeit in Richtung einer einseitigen kapitaldominierenden Struktur zunehmend aufgelöst.

Ein System von Widersprüchen

Der Druck auf die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften wächst mit zunehmender oder auch nur stagnierender Massenarbeitslosigkeit und sie müssen immer weitergehende Zugeständnisse an Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit und ihre Bezahlung machen. Hierin manifestiert sich ein System von Widersprüchen und hieraus erwachsen schwerwiegende und vielfältige gesellschaftliche, als auch ökonomische Pathologien.

Um dem entgegen zu wirken haben wir uns - neben dem "Offenen Brief an die Vorstände der Gewerkschaften, Parteien, Sozial- und Umweltverbände und Kirchenleitungen" – zur Herausgabe der Broschüre "Arbeitszeitverkürzung jetzt!" entschieden. Sie will Wissen über die sträflich vernachlässigte Arbeitszeitfrage vermitteln. Dazu wurde als erstes das von den Herausgebern im Mai 2011 geschriebene und initiierte "Manifest zur Bekämpfung der Massen­arbeitslosigkeit" in die Broschüre aufgenommen.

Das Manifest zeigt auf Basis einer gesamtwirtschaftlichen Berechnung, wie dringend notwendig die Einführung einer rechnerischen 30-Stunden-Woche in Deutschland ist. Fritz Vilmar hat als Nachwirkung der Weltwirtschaftskrise von 1974/75 schon 1977 die Gewerkschaften in einem bahnbrechenden Aufsatz vor den Folgen einer Nichtumsetzung von Arbeitszeitverkürzungen eindringlich gewarnt. Schon damals forderte er eine "Systematische Verknappung des Arbeitskraft-Angebots" als eine "Unverzichtbare Strategie erfolgreicher Vollbeschäftigungspolitik".

Es geht auch um menschliche Würde

Oswald von Nell-Breuning, Sozialethiker und Berater von Konrad Adenauer, ging in Sachen Arbeitszeitverkürzung 1985 noch viel weiter, als er schrieb: "Ich stelle mir vor, daß wir dahin kommen werden, das zur Deckung des gesamten Bedarfs an produzierten Konsumgütern ein Tag in der Woche mehr als ausreicht." Arbeitszeitverkürzung hat, so auch der große Nachkriegs-Sozialphilosoph und Soziologe Oskar Negt nicht nur einen ökonomisch wichtigen Charakter, sondern Arbeitszeitverkürzung ist ebenso im Kontext mit menschlicher Würde zu sehen. Der von Negt in der Broschüre erneut abgedruckte Essay macht dies deutlich.

Nach den Erfolgen von Arbeitszeitverkürzungen in den 1980er Jahren (hin zur 35-Stunden-Woche) ist es etwa ab Mitte der 1990er Jahre still um weitere Arbeitszeitverkürzungen geworden. Die Gewerkschaften haben seitdem zu sehr auf reine Lohnforderungen gesetzt, die aber aufgrund der bestehenden Massen­arbeitslosigkeit nicht den gesamtwirtschaftlichen verteilungsneutralen Spielraum aus Produktivitäts- und Inflationsrate haben ausschöpfen können.

Infolge kam es zu einer Umverteilung von den Arbeits- zu den Besitzeinkommen und gleichzeitig zu Arbeitszeitverlängerungen und Arbeitszeitverdichtungen in Richtung der alten durchschnittlichen Arbeitszeit von 40 Stunden pro Woche. Dies zeigt, dass ohne eine Verknappung von lebendiger Arbeit der Preis für die Arbeitskraft zugunsten des Kapitals immer mehr verfällt und am Ende noch länger gearbeitet werden muss.