Im Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit und Billigjobs sollte die 30-Stunden-Woche eingeführt werden – bei vollem Lohnausgleich

Von Rudolf Hickel

26.02.2013 / 24.02.2013

In Deutschland sollte die 30-Stunden-Woche eingeführt werden. Die heftigen, zum Teil diffamierenden Reaktionen auf unseren Vorschlag waren zu erwarten. Offensichtlich sind mit dem Aufruf einige mühsam zusammengehaltene Tabus des vorherrschenden politisch-ökonomischen Denkens über die Arbeitsmärkte aufgebrochen worden. So wird derzeit das "deutsche Beschäftigungswunder" gepriesen. Da stört ein Vorschlag zur Vollbeschäftigung auf der Basis guter Arbeit. Jedoch, die Wirklichkeit zeigt ein anderes Bild: Von der offenen und verdeckten Arbeitslosigkeit sind über vier Millionen Menschen betroffen, die existenziell auf Arbeit angewiesen sind. Hinzu kommen über sieben Milli­onen, die in Niedriglohnverhältnissen arbeiten. Gemessen an dem Wunsch nach aus­reichend bezahlter, guter Arbeit nimmt die Zahl derjenigen zu, die zur Übernahme von tariflich nicht geschützten Billigjobs gezwungen werden. Im Klima gespaltener Arbeits­märkte dominiert das Lohndumping. Wer die Legende vom "Beschäftigungswunder" angreift, muss mit der Verunglimpfung seiner Idee als Griff in die "marxistische Motten­kiste" rechnen. Schließlich legt er mit seiner Forderung die negativen Folgen der Agen­da 2010 offen, vor allem die Deregulierung der Leiharbeit und den Zwang in Hartz IV, schlechte Jobs annehmen zu müssen.

Im Streit um die Frage, ob der Vorschlag einer 30-Stunden-Woche realistisch ist, gilt das philosophische "Prinzip Hoffnung" von Ernst Bloch. Vorgelegt wird eine "konkrete Utopie", die machbar ist, jedoch durch die politisch-ökonomischen Machtverhältnisse verhindert wird. Dabei geht es nicht darum, eine fertige Blaupause vorzulegen. Ein ge­sellschaftlicher Diskurs im Lernprozess ist beabsichtigt – mit folgenden Intentionen und Eckpunkten:

  • 1. Mit der Forderung nach der 30-Stunden-Woche soll die Debatte über die Spaltung des Arbeitsmarktes forciert werden. Die Stichworte sind: Leiharbeit, Werkaufträge, Ar­beit auf Abruf und andere Formen atypischer Beschäftigung. Heute bieten die meisten Arten prekärer Arbeit eine schlechte Entlohnung sowie einen Einsatz unterhalb der 30­ Stunden-Woche. Bei diesen "bad jobs" muss die Arbeitszeit unter tariflichen Bedingun­gen erhöht werden. Sozial regulierte Arbeitsverhältnisse sind die Voraussetzung für die Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit.
  • 2. Diese zugespitzte Forderung nach Arbeitszeitverkürzung will dazu beitragen, die in vielen Bereichen weit über die tariflichen Regulierungen hinaus praktizierten Arbeitszei­ten zu reduzieren. Dazu gehört vor allem der Abbau von Überstunden. Es geht um ei­nen Abbau von psychisch belastendem Arbeitsstress durch unzumutbare Flexibilisie­rungen.
  • 3. Die gesamtwirtschaftliche Ableitung der Arbeitszeitverkürzung wird als einfältig kriti­siert. Im Mittelpunkt steht die sich seit Jahrzehnten öffnende Schere: Die Zuwächse der Arbeitsproduktivität gehen bei Weitem über die des Bruttoinlandsprodukts hinaus. Sin­kende Wachstumschancen gegenüber der Kapitalintensivierung und dem umgesetzten technischen Fortschritt führen zum Rückgang der Nachfrage nach Arbeitskräften. Schließlich geben selbst die scharfen Kritiker unseres Vorschlags zu, dass mit einem expansiven Wirtschaftswachstum die Schere auch aus ökologischen Gründen nicht mehr geschlossen werden kann. Was bleibt dann außer Arbeitszeitverkürzungen? Selbstverständlich muss mit Gegenreaktionen der Unternehmen auf die Arbeitszeitver­kürzung gerechnet werden. Sie erhöhen die Arbeitsproduktivität und damit sinkt der Be­schäftigungseffekt der Arbeitszeitverkürzung. Nach empirischen Untersuchungen wird Beschäftigungszuwachs auf die Hälfte der Arbeitszeitverkürzung geschätzt.
  • 3. Die Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung in neue Arbeitsplätze setzt voraus, dass die Unternehmen entsprechend ihrem Anforderungsprofil neue Beschäftigte finden. Der hohe Anteil weniger und nicht qualifizierter Arbeitskräfte an der Zahl der Arbeitslosen stellt eine Herausforderung dar. Das Projekt dient auch dem Ziel, eine ohnehin erforder­liche Qualifizierungsoffensive zu starten.
  • 4. Massive Proteste löst die Forderung nach dem vollen Lohnausgleich aus. Es geht hier um die immer wieder tabuisierte Verteilung der Wertschöpfung auf die Arbeitsein­kommen und Gewinne. Was meint in diesem Kontext voller Lohnausgleich? Beispiels­weise kann der gesamte Lohnzuwachs in der Höhe von vier Prozent zur Hälfte auf die Lohnerhöhung und zur anderen Hälfte zur Finanzierung der Arbeitszeitverkürzung ver­teilt werden. Weil dann die neu Eingestellten den entsprechenden Lohn erhalten, wird die Kaufkraft zugunsten der Binnenwirtschaft gestärkt.
  • 5. Innerhalb des Rahmens einer durchschnittlichen 30-Stunden-Woche lassen sich viele Formen der Arbeitszeitverkürzung auf der Lebens- beziehungsweise Arbeitsphase un­terbringen. Dazu gehören Auszeiten, individuelle Teilzeitarbeit, Altersteilzeitmodelle und mehr. Bei der Kampagne zur 35-Stunden-Woche 1984 hat die IG Metall ein zutreffen­des Bild benutzt: "Lasst viele Blumen blühen."

Der Autor ist Wirtschaftswissenschaftler. Er war Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Bremen und bis 2009 Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft (IAW).