Gesunder Pragmatismus

Von Heerke Hummel

14.01.2013 / Das Blättchen, 14.11.2012

Ein offensichtlich gut betuchter Tischnachbar – sein Name ist mir längst entfallen – antwortete auf meine Bemerkung, im Spielkasino unseres Kreuzfahrtschiffs, wo er Abend für Abend seinen Nervenkitzel suchte, würde er mit großer Wahrscheinlichkeit mehr Geld verlieren als gewinnen: „Eine alte Regel besagt, man soll nur mit dem Geld spielen, das man übrig hat.“ Dieser Satz kam mir oft wieder ins Gedächtnis, seitdem der Begriff „Kasino-Kapitalismus“ Mode wurde; auch kürzlich wieder, da viel über die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank debattiert wird. Deren Chef, Mario Draghi, wurde unter andrem von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz kritisiert, weil die Programme der EZB zur Bekämpfung der Eurokrise „reine Geschenke an die Banken“ seien. Dem widersprach nun der Sprecher für Finanzpolitik in der Bundestagsfraktion der Linken, Axel Troost, mit der Bemerkung, in einer Krise müsse der Staat den Banken notwendige Liquidität bereitstellen, weil sonst das Bankensystem zusammenbricht. Troosts Ergänzung, weil von funktionierenden Banken aber nicht nur indirekt die Gesamtwirtschaft, sondern vor allem direkt die Banken selbst profitieren, gehörten diese in öffentliches Eigentum und unter gesellschaftliche Kontrolle, damit die „Geschenke“ letztlich an die Öffentlichkeit fallen, zeugt von einem gesunden Pragmatismus. Hinzuzufügen wäre noch, dass die Finanzen bisher den wohl am wenigsten vom Staat kontrollierten und reglementierten Bereich der Wirtschaft darstellen. Hier wird die „private“ Kuh noch am meisten geheiligt – sicher deshalb, weil in der heutigen Gesellschaft das Geld der Inbegriff von Eigentum und Reichtum ist, wenigstens in den Köpfen der Menschen. Ist er es aber auch wirklich? Wohl schon lange nicht mehr!

Die Geschichte lehrt etwas anderes. Darum kann der Linken-Politiker zu Recht von einer „krankhaften Inflationsparanoia“ in Deutschland sprechen. Hierzulande ist geldpolitisches Denken noch immer von den traumatischen Ereignissen vor 90 Jahren geprägt. Die damalige Hyperinflation war ein enormes ökonomisches Nachbeben der gewaltigen gesellschaftlichen Eruption, die der erste Weltkrieg dargestellt hatte. Heutige Inflationstendenzen sind damit nicht vergleichbar; weder dem Umfang nach noch was den Mechanismus in der Wirtschaft betrifft. Was wir in den Jahrzehnten seit der Währungsreform von 1948 erlebt haben, wird von Unternehmerseite gern als Lohn-Preis-Spirale bezeichnet, vom Lager marxistischer Politökonomen dagegen als Preis-Lohn-Spirale. Egal wie – beide Sichtweisen deuten auf einen wesentlichen Zusammenhang von Löhnen und Preisen hin, weshalb, das sei hier nur am Rande bemerkt, eigentlich zu fragen wäre, ob diesem Sachverhalt noch die Werttheorie von Karl Marx gerecht wird. Diese entsprach zwar bei ihrer Formulierung den damaligen Verhältnissen, aber letztere haben sich ganz offensichtlich wesentlich verändert. Der über Jahrzehnte festzustellende Zusammenhang von Lohn- und Preisentwicklung sollte uns zeigen, dass nach rund zwei Jahrhunderten wir es heute nicht mehr mit dem klassischen Austausch von Waren nach dem Wertgesetz, sondern mit einer besonderen Art gesellschaftlicher Buchführung in der Wirtschaft zu tun haben, die erstens ein Produkt ebenfalls eines gewissen Praktizismus‘ während des Kalten Krieges beziehungsweise des ökonomischen Wettbewerbs zwischen Ost und West gewesen sein dürfte, zweitens die positiven Effekte der „sozialen Marktwirtschaft“ im Zuge eines ziemlich krisenfreien Wirtschaftsaufschwungs ermöglichte und drittens alle – Arbeitsvolk und Unternehmer – ständig reicher werdend erscheinen ließ, obwohl die Kluft zwischen besser Verdienenden und schlechter Gestellten immer größer wurde.
Auf diese Weise stieg nicht nur der Konsum, sondern sogar auch der angehäufte Reichtum, wenn auch großenteils in Gestalt von Geld und Finanzwerten. Denn deren ungleiche Verteilung hatte zur Folge, dass die Einen mit ihrem Einkommen kaum zurechtkamen, sich vielfach verschuldeten, sogar Staaten, während die Anderen mehr einnahmen als sie auf dem Warenmarkt auszugeben vermochten, weil ihre aktuellen Bedürfnisse im Wesentlichen befriedigt waren. Sie hatten es, wie mein eingangs erwähnter Mitreisender schlicht sagte, übrig. Ihr vieles Geld beschleunigte eben nicht die Inflation auf dem Warenmarkt. Es wurde vielmehr auf dem Finanzmarkt „investiert“.
Dieser saugte, durch die Kündigung des Abkommens von Bretton Woods durch US-Präsident Nixon entfesselt, wie ein Schwamm überschüssiges, profitable Verwertung suchendes Geld auf. Findige „Finanzexperten“ erfanden für diesen Zweck „Finanzprodukte“, Fonds, mit denen der Finanzmarkt zum globalen Kasino verkam, das Geld aus dem Nichts schafft. Die Finanzblasen, die es erzeugt, sind nur deshalb ein Problem, weil dieses Kasino keinen geschlossenen Raum darstellt, in welchem nur gespielt, gepokert wird, sondern über die Banken auf vielfältigste Weise mit dem realen Wirtschafts- und gesellschaftlichen Leben verbunden ist, bis hin zum Gesundheits- und Rentensystem. Darum sind, wie vielfach gefordert wird, Geschäfts- und so genannte Investmentbanken sauber zu trennen und darf die Zentralbank nicht tatenlos zusehen, wenn süchtige Hasardeure des Finanzmarkts auf der irrationalen Jagd nach Profiten und Renditen ganze Staaten ins Chaos zu stürzen drohen.
Gewiss, die Aktionen der EZB und der Europäischen Union zur Bekämpfung der Krise sind bei weitem nicht ausreichend und bedürfen struktureller Ergänzungen, die das Banken- und Finanzsystem rechtlich und in seinem Wesen durch Anerkennung seines gesellschaftlichen, nicht privaten Charakters verändern. Aber die Verhinderung eines allgemeinen Chaos‘ in Europa durch die Zentralbank ist ein allererster, wenn auch äußerst kleiner praktischer Schritt in die richtige Richtung. Auch wenn ihre „Geldgeschenke“ vorerst dem Gemeinwesen bestenfalls indirekt zugute kommen, werden sie keine Inflation auf dem Warenmarkt entfachen, sondern wie anderes „überflüssiges“ Geld den Finanzmarkt weiter aufblasen. Denn die „Gefahr“, dass sie letztlich bei den wirklich Bedürftigen dieser Gesellschaft ankommen und damit das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Warenmarkt aus dem Gleichgewicht bringen, so dass die Preise steigen, ist äußerst gering. Bezeichnend ist bei der ganzen Angelegenheit, dass die deutsche Regierungskoalition mit ihrem Widerstand gegen den Praktizismus der EZB in der EU weitgehend isoliert ist. Sie leidet an Realitätsverlust, weil sie von einer realitätsfremden Ideologie getrieben wird, der das private Sein und Tun sakrosankt ist.