»Da wird gelogen, was das Zeug hält« - In unseren Medien wimmelt es von statistischen Angaben – viele von ihnen sollen bewußt hinters Licht führen. Ein Gespräch mit Gerd Bosbach

Interview: Peter Wolter

03.11.2012 / Junge Welt, 01.11.2012

Gerd Bosbach ist Professor für Statistik, Mathematik und Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung an der Hochschule Koblenz, Standort Remagen

Sie haben gemeinsam mit Jens-Jürgen Korff das Buch »Lügen mit Zahlen« geschrieben – es geht darum, wie mit statistischen Angaben manipuliert wird. Hatten Sie dabei vor allem Journalisten als Zielgruppe im Auge?

Das war eine der Gruppen, die ich im Blick hatte – viele Beispiele in dem Buch kommen aus dem Medienbereich. Ich hatte aber auch eine zweite Gruppe im Visier: die Politiker. Viele von ihnen lügen bewußt mit Zahlen, um das durchzusetzen, was sonst nicht durchsetzbar wäre.

Haben sich denn Politiker bei Ihnen für Ihre Ratschläge bedankt?

Ach was. Wenn Politiker beim Lügen ertappt werden, versuchen sie es totzuschweigen, das ist die gängige Methode. Im Buch sind ja mehrere Politiker als Beispiele genannt – auf unsere Kritik hat nicht einer von ihnen reagiert.

Nachdem Ihr Buch herausgekommen war, wurden Sie zu Vorträgen in Redaktionen eingeladen. Haben die Journalisten Ihnen zugestimmt?

Es gab fast nur Unterstützung – was anderes war auch kaum denkbar, weil die Fakten so eindeutig sind, daß ihnen schwer zu widersprechen ist. Ich hatte Ihren Kollegen angeboten, ihnen bei kniffligen Fragen zu Statistiken zu helfen, das hat aber niemand genutzt. Und leider finde ich auch in den Artikeln, die diese Kollegen nach meinem Kurzseminar geschrieben haben, dieselben Fehler wieder, die sie vorher gemacht haben. Teilweise sogar Fehler, die den Sachverhalt auf den Kopf stellen!

Welche wären das?

Zum Beispiel die angebliche Kostenexplosion im Gesundheitswesen, die immer wieder zitiert wird. Oder daß bei Statistiken über Geldentwicklungen die Inflationsrate unterschlagen wird. Das führt dazu, daß uns zum Beispiel weisgemacht wird, die Renten seien gestiegen – wenn man die Preissteigerungen abzieht, kommt das Gegenteil heraus: Sie sind gesunken!

Noch ein aktueller Fall: Da heißt es zur Zeit, in der Geschichte der BRD habe es noch nie so hohe Gewerbesteuereinnahmen gegeben wie heute. Der Trick ist, daß die Preise in den vier Jahren, die zum Vergleich herangezogen wurden, um gut sechs Prozent gestiegen sind. Und wenn ich diese sechs Prozent abziehe, kommt wiederum das Gegenteil heraus: Die Einnahmen durch die Gewerbesteuer sind gegenüber dem Jahr vor der Finanzkrise real zurückgegangen.

Können Sie kurz zwei oder drei weitere typische Statistiklügen nennen?

Fangen wir mit dem aktuellen Kanzlerkandidaten der SPD an, Peer Steinbrück. Auf einer früheren Kundgebung, damals noch Regierungschef in NRW, schwärmt er davon, daß in Nordrhein-Westfalen 2000 Lehrer neu eingestellt wurden, der Jugend also die angemessene Aufmerksamkeit geschenkt werde. Das war zweifellos richtig – richtig war aber auch, daß im selben Jahr 2200 Lehrer pensioniert wurden. Auch wenn es formal nicht stimmt, ich nenne das Lügen mit Zahlen.

Eine beliebte Lüge ist auch das Hochrechnen kleiner Zahlen über viele Jahre hinweg. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte gelobt, 18 Milliarden Euro mehr in die Bildung zu stecken. Sie erwähnte jedoch nicht, daß das Bildungswesen sich diese Summe mit der Forschung teilen muß. Und sie erklärte auch nicht, daß die genannte Summe sich nicht auf das kommende Jahr bezieht, sondern über neun Jahre gestreckt wird. Unter dem Strich kommt für das Bildungswesen deutlich weniger als zwei Milliarden Euro pro Jahr heraus.

Wir werden täglich in den Medien mit Statistiken bombardiert – Quelle sind Ministerien, Universitäten, Wirtschaftsforschungsinstitute oder Umfragefirmen wie Emnid, Forsa usw. Wem kann man am meisten trauen?

Fragen Sie besser umgekehrt: Wem kann man am wenigsten trauen? Das sind die Institute, die von Wirtschaftsverbänden oder sonstigen Interessenten finanziert werden. Bei Meinungsforschungsinstituten ist es so, daß sie für ihre Arbeit bezahlt werden – es kommt also oft statt wissenschaftlich exakter Aussagen das heraus, was der Auftraggeber gerne hören möchte.

Leider geht der Einfluß der Politik stark in die Ministerien und untergeordnete Behörden hinein. Nehmen wir die Arbeitslosen-Statistik der Bundesagentur für Arbeit: Ihre Bemessungsgrundlagen wurden seit Mitte der 80er Jahre 17 Mal geändert – 16 der Änderungen führten zu niedrigeren offiziellen Arbeitslosenzahlen. Insgesamt stehen heute den 2,7 Millionen offiziellen Arbeitslosen über fünf Millionen Bezieher von Arbeitslosengeld I oder II gegenüber. Und auch die 4,9 Millionen registrierten Arbeitssuchenden sprechen deutlich gegen die offizielle Darstellung. Die »Stille Reserve« von etwa 1,2 Millionen komplettiert das traurige Bild, auch wenn hier die Statistik unschuldig ist.

Auch bei der Demographie wird kräftig getäuscht. Vorne dabei ist leider auch das Statistische Bundesamt, das immer wieder zu manipulierenden Darstellungen greift. Sicherlich nicht aus Böswilligkeit oder Dummheit, wohl eher im Interesse der Regierenden.

Können Sie Namen der schlimmsten Bösewichte nennen?

Der Begriff Bösewicht trifft nicht ganz. Es sind geschickte Vertreter ihrer Interessen, und dazu auch bereit, mit Daten zu lügen. Ganz vorneweg ist Professor Bernd Raffelhüschen, der merkwürdige Zukunftsprognosen zur Pflege präsentiert. Er weiß, daß seine Zahlen völlig unrealistisch sind, benutzt sie aber trotzdem. Auch der Chef des ifo-Instituts in München, Professor Hans-Werner Sinn, argumentiert oft sehr schräg. Und wenn er damit auffliegt, bringt er flugs dieselbe Aussage, begründet sie aber mit einer völlig anderen Argumentation. Zu den Täuschern zähle ich ebenso Professor Meinhard Miegel, ehemals enger Mitarbeiter des CDU-Politikers Kurt Biedenkopf. Heute fungiert er als angeblich unabhängiger Wissenschaftler, betrieb langjährig das Deutsche Institut für Altersforschung. Über seinen Mißbrauch von Statistiken im Interesse der privaten Versicherer könnte ich viele Seiten füllen. Bei der Frage »dumm oder böse?« würde ich mich bei ihm nicht immer für »böse« entscheiden.

Nächste Woche kommt das Buch »Armut im Alter« heraus, in dem Sie als einer der Herausgeber auch mit einem Beitrag vertreten sind. Ist es wiederum eine Auseinandersetzung mit der Statistikbranche?

Die Beiträge stammen von 17 Wissenschaftlern und sieben Organisationen, es sind jeweils eigenständige Aufsätze. In meinem Text, den ich wieder mit Jens-Jürgen Korff geschrieben habe, geht es um die – leider wirkungsvollen – statistischen Irrtümer, diesmal zum Thema Altersarmut und Rente.

Gerd Bosbach, Jens Jürgen Korff: »Lügen mit Zahlen – Wie wir mit Statistiken manipuliert werden«, Heyne Verlag München, 320 Seiten, 18,99 Euro