»Die griechische Jugend ist verzweifelt«

Von Martha Vasileiadi, Athen

28.08.2012 / LINKSFRAKTION.DE, aufgezeichnet von Ruben Lehnert.

Martha Vasileiadi stammt aus Athen. In Griechenland hat sie als Deutschlehrerin und als Reiseleiterin gearbeitet. Im Augenblick absolviert sie ein Praktikum bei der Bundestagsabgeordneten Gesine Lötzsch (DIE LINKE). Auf linksfraktion.de berichtet die 34-Jährige, weshalb ihre Schwester und sie noch bei den Eltern wohnen müssen, wieso sie nicht mehr ins Zentrum von Athen geht und warum die griechische Jugend nur zwischen Arbeitslosigkeit und Auswanderung wählen kann.

"Als die erste Vereinbarung zwischen der griechischen Regierung und der Troika (Europäische Kommission, Internationaler Währungsfonds und Europäische Zentralbank, Anm. R.L.) unterschrieben wurde, habe ich realisiert, dass Griechenland in der Krise ist. Wir wussten schon vorher, dass wir ein Problem mit unseren Regierungen hatten, dass unser Staat nicht so funktionierte, wie er hätte funktionieren sollen. Aber alle Maßnahmen, die vereinbart wurden, gingen zu Lasten der arbeitenden Menschen in Griechenland.

Eine typische griechische Familie

Wir sind eine typische griechische Familie. Ich bin 34 Jahre alt, meine Schwester ist 29 Jahre alt. Wir beide leben bei unseren Eltern, weil wir uns eigene Wohnungen nicht leisten können. Wir wissen nicht, ob wir Arbeit haben werden, und selbst wenn wir Arbeit haben, ist sie oft viel zu schlecht bezahlt. Meine Schwester arbeitet in der Verwaltung eines Altenheims. Seit fast zwei Jahren hat sie keinen vollständigen Lohn erhalten. Hin und wieder gibt es ein Taschengeld. Sie ist sehr deprimiert.

Mein Vater hat ein Reisebüro für alternativen Tourismus betrieben, meine Mutter hat als Bibliothekarin an einer Universität gearbeitet. Seit ein paar Jahren sind sie Rentner. Ihre Renten wurden um 20 Prozent gekürzt, selbst die niedrige Rente meiner Mutter.

Mein Freund wurde entlassen

Ich habe fünf Jahre als Vertretungslehrerin gearbeitet und an griechischen Schulen Deutsch unterrichtet. Im Monat habe ich etwa 1200 Euro bekommen. Plötzlich sollte ich für dieselbe Arbeit nur noch 700 Euro im Monat erhalten. Und weil zugleich die Anzahl der Stunden, die ich unterrichten durfte, gekürzt wurde, hatte ich nur noch 450 Euro im Monat.

Mein Freund wurde entlassen. Er hatte zehn Jahr lang als Verkäufer in einer Filiale des deutschen Baumarkts Praktiker gearbeitet. Viele seiner Kollegen wurden gezwungen, neue Arbeitsverträge zu unterschreiben und Teilzeit zu arbeiten.

Ärzte verschreiben keine Medikamente

Wir alle haben viele Jahre lang gearbeitet und in die Krankenversicherung eingezahlt. Aber auf einmal sagt die Krankenversicherung, dass sie pleite ist. Wo ist das ganze Geld hin? Die Krankenversicherung bezahlt die Ärzte und Apotheker nicht mehr. Die Ärzte verschreiben keine Medikamente mehr. Die Apotheker kaufen keine mehr ein. Wer krank ist, muss seine Medikamente selbst bezahlen, oder er bekommt keine Medizin. Das betrifft in diesem Jahr zum Beispiel krebskranke Menschen. Die Apotheken haben kein Geld, um für sie Medikamente anzuschaffen; die Patienten haben kein Geld, um die Medikamente zu bezahlen. Kirchengemeinden, Radiostationen und andere Organisationen mussten Spendenaufrufe starten, um diesen kranken Menschen zu helfen.

Jeder zweite Grieche ist arbeitslos

Offiziell pendelt die Arbeitslosigkeit zwischen 20 und 30 Prozent. Ich glaube aber, dass die tatsächliche Zahl ist viel höher, dass mittlerweile jeder zweite Grieche keine Arbeit hat. Trotzdem haben wir bei den vergangenen Wahlen gehofft, dass die Situation besser wird. Wir haben gehofft, dass es Investitionen gibt, die zu Wachstum führen und Arbeitsplätze schaffen. Stattdessen gab es noch mehr Entlassungen, noch mehr Lohnkürzungen, noch mehr Rentenkürzungen.

Überall betteln Menschen

Im Zentrum Athens ist die Situation dramatisch: Viele Menschen müssen auf der Straße leben. Immer mehr Menschen versuchen zu überleben, in dem sie für ein Trinkgeld an roten Ampeln Autoscheiben waschen oder im Supermarkt Einkaufstüten tragen. Überall betteln Menschen. Ich gehe nicht mehr ins Zentrum. Es deprimiert mich zu sehr. Ich kann nicht mehr.

Die Jugend ist verzweifelt, sie hat in Griechenland keine Perspektive. Das alltägliche Leben ist schwer. Ohne Arbeit kann man nicht leben. Wenn wir keine Arbeit finden, müssen wir auswandern und dort Arbeit suchen. Viele Griechen sind nach Deutschland gegangen. Freunde leben mittlerweile in Österreich und in den USA. Das alles ist ein Schock. Vor zehn Jahren habe ich ein Erasmus-Programm gemacht, in Regensburg studiert, ich habe mich als Europäerin gefühlt. Jetzt bin ich eine Arbeitssuchende. Das ist deprimierend. Ich fühle mich minderwertig. Ich habe nichts Schlechtes getan: Ich bin zur Schule gegangen, habe eine Ausbildung gemacht, studiert, dann habe ich gearbeitet. Aber für meine Arbeit bekomme ich nur 450 Euro, davon kann man nicht leben.

Nur Banken profitieren

Weil ich als Lehrerin Deutschunterricht gebe, bin ich von meinen Kollegen angefeindet worden. Mir haben sie vorgeworfen, ich würde deutsche Propaganda machen. So ist die Stimmung in der griechischen Bevölkerung. Mein Vater sagt immer, dass die deutsche Kanzlerin Merkel und ihre Freunde Griechenland besetzten wollen – wie im Zweiten Weltkrieg, nur mit klügeren Methoden. Er sagt, dass von den ganzen Programmen nur die Banken profitieren. Ich selbst will nicht so denken. Ich will nicht denken, dass sich alles nur ums Geld dreht. Ich will weiterhin Hoffnung haben.

Von der deutschen Regierung wünsche ich mir, dass sie logisch denkt und vernünftig handelt. Wenn es so weitergeht wie bisher, kann Griechenland nichts zurückzahlen. Wenn wir keine Arbeit haben, kein Wachstum, wie wollen wir jemals irgendetwas zurückzahlen? Mir ist wichtig, dass die Deutschen verstehen, dass die griechische Bevölkerung von ihren Steuermilliarden nichts erhält. Ich bekomme kein Geld, meine Mutter bekommt kein Geld, wir haben kein Geld. Das Geld geht von den Banken an den griechischen Staat, damit er den Bank Zinsen zahlen kann. Das darf doch nicht wahr sein!

Ich wünsche mir eine Familie

Meinem Ministerpräsidenten würde ich gerne sagen, dass er zu uns kommen sollte, um mit eigenen Augen zu sehen, wie wir leben. Ich würde ihn fragen, ob er auch leben könnte wie ich. Und ich würde ihn fragen, ob er auch Verantwortung für uns übernehmen möchte. Er hat gegenüber der deutschen Regierung die Verantwortung übernommen, dass Griechenland die Schulden zurückgezahlt. Aber er hat uns gegenüber keine Verantwortung übernommen, dass wir endlich Arbeit finden und ein gutes Leben führen können.

Ich wünsche mir, dass ich bald eine Familie haben kann. Ich bin in einem Alter, in dem ich nicht mehr ewig warten kann, ich will auch nicht mehr. Ich möchte mit meinem Freund zusammen ziehen können. Und ich will meine Energie nutzen, arbeiten, etwas leisten."