Zwischen persönlichem Optimismus und gesellschaftlicher Skepsis

Redaktion Sozialismus: Momentaufnahmen des Alltagsbewusstseins 2012

09.02.2012 / 5. Februar 2012, Sozialismus Aktuell

Der jüngste Deutschlandtrend besagt: 79% der bundesdeutschen (68% der EU-) Bevölkerung glauben, der schlimmste Teil der Finanzkrise stehe noch bevor. Mehr als ein Drittel aller erwerbstätigen EU-Bürger_innen (35%) sorgt sich derzeit um ihren Arbeitsplatz. Damit hat sich der Wert seit dem Jahr 2009 – als die Krise ihren ersten Tiefpunkt erreichte – noch um gut zwei Prozentpunkte erhöht. Ein Großteil der Befragten in Europa teilt die Beobachtung, dass die EU in letzter Zeit Rückschritte gemacht hat.

Das Eurobarometer und der Deutschlandtrend belegen zudem den akuten Vertrauensverlust in Politik und staatliche Institutionen. Der Befund: Durchschnittlich trauen 70% der Europäer_innen ihren Regierungen nicht über den Weg. Gerade einmal 23% stimmen der Aussage zu, die EU sei derjenige Akteur, der am ehesten die Krise in den Griff bekommen kann.

Die Krise bedroht nach Auffassung der Mehrheit der Bundesbürger auch den Wohlstand in Deutschland. 55,4% der Befragten befürchten, dass das materiell Erreichte auf dem Spiel steht, 52,9% sehen den sozialen Zusammenhalt gefährdet. Hier gilt es aber genauer hinzuschauen. Trotz aller Unsicherheiten über den Fortgang der globalen Wirtschaftsentwicklung und der Schuldenkrise in der Euro-Zone überwiegt nach wie vor Optimismus: 49% der Bevölkerung blicken den nächsten Monaten mit Hoffnungen entgegen, nur 17% äußern Befürchtungen. 26% sind skeptisch.

Allerdings hat sich die optimistische Erwartungshaltung eingetrübt: Im Vorjahr blickten noch 56% der Bürger_innen dem neuen Jahr mit Hoffnung entgegen. Und zu differenzieren ist selbstverständlich hinsichtlich der sozialen Stellung: In den unteren Einkommensklassen überwiegen mit 51% Skepsis und Befürchtungen, während in den oberen Klassen 55% zuversichtlich sind.

Und eine weitere Unterscheidung ist wichtig: die zwischen der Einschätzung der gesellschaftlichen und der individuell-familiären Entwicklung. Auch eher pessimistische Aussichten für die gesellschaftliche Entwicklung können den Optimismus für die persönliche Zukunft nicht trüben. Trotz Euro-Krise erwarten 71% der deutschen Bevölkerung, im Vergleich zum Vorjahr mehr oder genauso viel Geld zur Verfügung zu haben (West: 72 %, Ost: 66%) – ein Anstieg von drei Prozentpunkten gegenüber 2011.

Die Mehrheit der Bundesbürger_innen bleibt also bemerkenswert gelassen. Weder ihr genereller Zukunftsoptimismus noch ihre Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung werden bisher von der Flut der Hiobsbotschaften angegriffen. Die Eurozonen- und Finanzkrise kann der positiven wirtschaftlichen Stimmung der Deutschen zum Jahresbeginn wenig anhaben: 66% der BundesbürgerInnen bewerten die aktuelle wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik positiv. Aber das ist – siehe oben – nicht gleichzusetzen mit Arbeitsplatzsicherheit und bedeutet – trotz optimistischerer individueller Perspektive – auch nicht, dass alle an der »guten wirtschaftlichen Lage« teilhaben.

Es überrascht angesichts dieser widersprüchlichen Konstellation im Alltagsbewusstsein nicht, dass im aktuellen ARD-Deutschland-Trend die Hälfte der Bundesbürger_innen (50%) mit dem Funktionieren der »sozialen Marktwirtschaft« in Deutschland unzufrieden ist. Drei Viertel der Deutschen (77%) finden, die soziale Marktwirtschaft »macht die Reichen reicher und die Armen ärmer«. 73% denken, die soziale Marktwirtschaft »funktioniert nicht mehr so wie früher«. 51% sind der Ansicht, die Wirtschaftsordnung »muss grundlegend verändert werden«.

Allerdings finden 65%, die soziale Marktwirtschaft »ist für Deutschland immer noch am besten«. 67% sind der Ansicht, die soziale Marktwirtschaft »ist maßgeblich für die derzeit gute wirtschaftliche Lage in Deutschland«. Dass sie persönlich vom aktuellen Wachstum in Deutschland profitieren, denken aber nur 25% der Deutschen. 73% finden, dass sie persönlich nicht vom Wachstum profitieren.

Auch die Reaktionen auf die europäischen Entwicklungen zeugen eher von differenzierten Einschätzungen. Während beispielsweise häufig suggeriert wird, die Bevölkerung blicke verständnislos und voller Zorn auf die Proteste der Griechen gegen die verordneten Spar- und Streichmaßnahmen, bekunden die Bürger mehrheitlich Verständnis für diese Proteste.

Das eigene Wissen über die Euro-Rettung stuft die Mehrheit der Deutschen allerdings als ausbaufähig ein. 62% der Bevölkerung bezeichnen ihr Know-how höchstens als mittelmäßig, 15% sogar als schlecht oder sehr schlecht. Die Mehrheit der Deutschen interessiert sich immer noch für die Berichterstattung. Knapp 73% der Bundesbürger_innen verfolgen nach wie vor die Meldungen zur Lage an den Finanzmärkten in der Euro-Zone. Gleichwohl ist das Interesse an der Entwicklung der Finanz- und Schuldenkrise deutlich abgeebbt.

Die wiedergegebenen Befunde sind Momentaufnahmen über die Widersprüchlichkeit des Alltagsbewusstseins, die zudem durch die Art der Fragenstellungen beeinflusst sind. Gleichwohl dokumentiert diese kleine Skizze auch: Von einer Unkenntnis und einer massenhaften Apathie an politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen kann keine Rede sein. Es existiert eine relativ gute Ausgangslage dafür, durch Informationen und geduldige Aufklärung über Ursachen- und Vermittlungszusammenhänge eine stärkere Unterstützung für eine gesellschaftliche Reformpolitik zustande zu bringen.