Die nervöse Partei

Parteitagsauswertung der Emanzipatorischen Linken (EmaLi)

14.11.2011 / Julia Bonk, Olaf-Michael Ostertag, Christoph Spehr (EmaLi Bundessprecher*in):

Was ist da eigentlich passiert? DIE LINKE, als notorisch zerstritten verschrien, einigt sich ohne nennenswerte Auseinandersetzungen auf ein Grundsatzprogramm, das die Delegierten am Ende mit 96,9 % beschließen. Das Führungspersonal, entgegen dem Klischee, reiht sich wie auf einer Perlenkette auf und liest einträchtig aus dem Erfurter Programm der SPD von 1891. Am Ende, nach drei Tagen demonstrativer Einigkeit, reicht den Delegierten die eingespielte eine Strophe der „Internationale“ nicht, sie sin­gen noch weitere zwei.

Grandios! Oder?

Wenn es sich denn aus der selbstgewonnenen Erkenntnis gespeist hätte, dass wir alle, die wir DIE LINKE bilden, auf derselben Seite stehen und aufeinander angewiesen sind. Leider aber war DIE LINKE in Erfurt weder Herrin ihrer Sinne noch Herrin des Verfah­rens. DIE LINKE agierte unter dem Druck der Medienbeobachtung. So sehr wurde in den vergangenen zwei Jahren das Gespenst der Parteispaltung herbeigeschrieben und -gesendet, dass die angereisten Delegierten vor allem den unbedingten Willen im Ge­päck hatten, die Aufgabe, der Partei ein Grundsatzprogramm und eine in Teilen neue Satzung zu beschließen, unter allen Umständen zu „wuppen“, koste es, was es wolle. Da waren die mehrheitlich gefassten Beschlüsse zur Streichung von Tanzabend (Sams­tag) und Mittagspause (Sonntag) nur die augenfälligsten Belege für eine staunenswerte Disziplin. Fast überflüssig zu erwähnen, dass die im Zeitplan eigentlich vorgesehenen künstlerischen Darbietungen auf der Parteitagsbühne kommentarlos entfielen.

Die inhaltlichen Kapriolen, die der Parteitag aufgrund seines Willens, unbedingt zu „per­formen“, schlug, wiegen da ungleich schwerer. Die Entscheidung zur langfristigen Lega­lisierung aller Drogen war fachpolitisch in Ordnung und vom Parteitag eher unspektaku­lär vollzogen worden. Sie hatte nie die Bedeutung, die ihr im Verlaufe des Samstags von der gesamten Medienlandschaft in Deutschland zugeschrieben wurde. Diese Zu­schreibung der Medien allerdings veranlasste Gregor Gysi, nach beinahe abgeschlos­sener Programmberatung, einen „erläuternden Satz“ an den am frühen Morgen be­schlossenen Text zur Drogenpolitik anzuhängen, den er handschriftlich auf einem Zettel einreichte und dem Parteitag verlas. Der Parteitag folgte ihm in diesem durch keine Formalie gedeckten Verfahren in überwältigender Mehrheit, die Tatsachen ignorierend, dass die Textpassage jetzt keinen Sinn mehr ergibt und die drogenpolitischen Fachpoli­tiker*innen unserer Partei düpiert wurden, sowohl inhaltlich wie formal.

Hier kann ohne viel Fantasie erahnt werden: Hätte die gesamte Medienlandschaft ein­hellig von Samstag Abend bis Sonntag morgen geurteilt, das Programm der LINKEN sei absolut unleserlich, unverständlich und inhaltlich unqualifiziert, der Parteitag hätte auf Bitte von Gregor Gysi noch Sonntag Nachmittag beschlossen, gar nichts beschlossenzu haben, und den Text zur gründlichen Überarbeitung an die Redaktionsgruppe zu­rücküberwiesen. Eine Partei, die souverän über ihre Programmatik entscheidet, zeigt sich hier nicht; vielmehr zeigt sich eine mediengetriebene Organisation. Das verheißt für die weitere Entwicklung nichts Gutes.

Wir wollen hier gar nicht sagen, dass wir etwa in dem Augenblick, da Gregor seinen Zettel verlas, hätten beurteilen können, was da noch richtig oder falsch gewesen wäre. Wir wollen sagen, dass niemand in dieser Hektik zuverlässig richtige Entscheidungen treffen kann. Auch nicht Gregor Gysi. Wir geben hier eine Literaturempfehlung: „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny.

Dass am Sonntag zum Schluss ein Delegierter beantragte, der Parteitag möge ihm das gleiche Recht einräumen wie Gregor Gysi, und von ihm einen einzelnen Satz von einem handgeschriebenen Zettel in das Programm aufnehmen, worauf ihm der Parteitag mit überwältigender Mehrheit das Recht verweigerte, seinen Satz auch nur vorzulesen, das machte die Absurdität des Vorgangs vom Samstag noch einmal dramatisch deutlich. Denn der Parteitag war willens, Gregor Gysi und Oskar Lafontaine unbesehen in allem zu folgen – und alle anderen Genoss*innen für irrelevant zu halten. Aber: „Quod licet Iovi, non licet bovi“ darf nicht der Maßstab einer linken Partei sein. Bei uns ist er es, und das ist kein gutes Zeugnis für DIE LINKE.

Das Hollywood-Prinzip

Das in Hollywood erfundene Starsystem dient dazu, mangelhaften Inhalt mit ausstrah­lungsstarkem Personal zu kompensieren, nach dem Motto: „Der Film ist Mist, aber George Clooney spielt mit!“ In Erfurt hat DIE LINKE versucht, sich dieses Prinzip zunut­ze zu machen.

Da hatte zum Beispiel der KV Tübingen beantragt, in den Satz „DIE LINKE steht gegen die Militarisierung der EU“ das Wort „kompromisslos“ einzufügen. Zuvor hatte noch Har­ri Grünberg von der „Sozialistischen Linken“ erklärt, die Tatsache, dass Gerry Woop vom „Forum Demokratischer Sozialismus“ am friedenspolitischen Teil des Textes, an einer der sechs zentralen Kompromisslinien des Parteivorstandes, mitgeschrieben hat­te, belege eindeutig, dass sich im Text Schlupflöcher hin zu einer militaristischen Außenpolitik unter Beteiligung der LINKEN befinden müssten. Und nun tritt Oskar La­fontaine ans Mikrofon und erklärt, dass der Text enthalten könne, was er wolle, mit ihm gebe es keine Schlupflöcher, und er garantiere persönlich für die schlupflochfreie frie­denspolitische Ausrichtung der Partei. Gerührt tritt eine Vertreterin des KV Tübingen ans Mikrofon und zieht den Antrag auf Einfügung des Wortes „kompromisslos“ zurück. Eine Garantie von Oskar sei besser.

Wo sind wir da eigentlich hineingeraten? In diesem Zustand kann die Partei auch jegli­che Konflikte in der Sache nicht mehr anders wahrnehmen als als Konflikte zwischen Personen. Auf diese Weise eine Differenz in der Sache auf die personale Ebene zu zie­hen, das müssen wir uns nicht nur möglichst schnell abgewöhnen, das muss sofort auf­hören. Sachfragen sind Sachfragen. Personalfragen sind Personalfragen. Punkt.

Form über Inhalt?

Es kann kaum verwundern, dass in dieser „Personal-über-Inhalt“-Atmosphäre keine der sechs zentralen vom Parteivorstand als solche benannten Kompromisslinien (Arbeits­begriff, ÖBS, BGE, Friedenspolitik, Haltelinien, Israel/Palästina) vom Parteitag aufgeho­ben wurden. Der Parteitag wurde letztlich inhaltlich nicht über die Antragsberatung be­stimmt, sondern über die Reden. Und auch hier kann man/frau Verwunderliches festhal­ten.

Reden haben immer mehrere Ebenen. Wir müssen uns selbst befähigen, auch ange­sichts der brillantesten Rhetorik die inhaltliche Ebene parallel mit der gleichen Aufmerk­samkeit wahrzunehmen. Denn in Erfurt goutierten wir die Reden weitaus mehr über ihre Oberfläche und weniger entsprechend ihrer Substanz.

Kämpferisch waren alle auf dem Parteitag gehaltenen Reden. Aber ein Satz wie „So, wie wir für uns in Anspruch nehmen, aus unseren Fehlern zu lernen, so müssen wir das auch anderen zugestehen“, den Gesine Lötzsch formuliert hat, wäre Oskar Lafontaine in seiner Rede nicht über die Lippen gekommen. Im Gegenteil, er entwickelte seine Rhetorik aus der alten linken Krankheit, völlige eigene Fehlerlosigkeit zu behaupten. Und während Klaus Ernst anzumerken war, dass er zum Saal sprach und zum Pro­gramm, für das er bemerkenswerte Traditionslinien aufführte bis hin zum 2001 in Genua erschossenen Carlo Giuliani, sprach Gregor Gysi mehr oder weniger direkt zu den Me­dien. Wie immer unterhaltsam, aber statt konkreten Aussagen zur Partei gab es nur die verklausulierte Ankündigung, dass Gysi als selbsternanntem einzigem „Zentristen“ selbstverständlich keine Quotierung des Fraktionsvorsitzes zuzumuten sei.

Der Parteitag war klüger als die Leitung

Die kritische Situation des Parteitags kam bereits am Freitagnachmittag, als die An­tragskommission verkündete, das bisherige Verfahren der Antragsbehandlung zum Programm müsse „gestrafft“ werden. Natürlich hätten sich Antragskommission wie auch PV vorher schon mit Hilfe eines Taschenrechners ausrechnen können, dass 850 Ände­rungsanträge (die nicht übernommen oder als „redaktionell“ gekennzeichnet waren) mal 3 Minuten etwa 42 Stunden macht. Falk Neubert beantragte für die Antragskommission,dass blockweise abgestimmt werden solle, ob überhaupt Änderungsanträge zu diesem Block eingebracht werden sollen. Nach einigen Minuten wurde überdeutlich, dass demParteitag mit diesem Verfahren jede Chance genommen wurde, aus eigener Kraft Än­derungen am Programmentwurf vorzunehmen. Bei steigender Unzufriedenheit der De­legierten blieb es Katja Dahme von [’solid] vorbehalten, per Geschäftsordnungsantrag das unmögliche Verfahren zu korrigieren. Alle AntragsstellerInnen sollten das Recht behalten, ihre Anträge wenigstens einzubringen, der Parteitag solle dann aber block­weise entscheiden, ob zur jeweiligen Passage Änderungsanträge abgestimmt werden sollten oder nicht. Dieses Verfahren, dem der Parteitag mit großer Mehrheit zustimmte, funktionierte dann auch. So hatten die Delegierten in der wichtigsten Frage dieses Par­teitags, wie nämlich Änderungsanträge zum Programm behandelt werden, selbst eine tragfähige Lösung gefunden. Das war ein ermutigendes Zeichen für die Fähigkeiten der Basis, die Partei selbst in die Hand zu nehmen.

Die Satzungsdebatte

Es war schon spät am Sonntag und das Programm war schon verabschiedet, als zwei bemerkenswerte Entscheidungen zur Satzung fielen. Das eine war der Antrag der BAG Hartz IV, der in ähnlicher Form auch vom Landesparteitag NRW unterstützt wurde: Nicht nur im Parteivorstand insgesamt, sondern auch im Geschäftsführenden Parteivor­stand soll die Anzahl der MandatsträgerInnen maximal 50 Prozent betragen. Im Klar­text: Kein Geschäftsführender PV mehr, der nur noch aus Abgeordneten besteht, wie derzeit. Der Antrag erhielt eine überraschend breite Mehrheit von 70 Prozent Ja-Stimmen, scheiterte aber knapp daran, dass die Anzahl der Ja-Stimmen aufgrund vieler abgereister Delegierter nicht mehr für die vorgeschriebenen 50 Prozent der gewählten Delegierten reichte. Dass es aber der überwiegende Wille der Partei ist, den Geschäfts­führenden PV künftig nicht mehr eins zu eins aus der Bundestagsfraktion zu beschi­cken, war sehr klar und sollte bei den nächsten PV-Wahlen berücksichtigt werden.

Das andere war die Abstimmung über die Frauenstruktur. Der Antrag, einen Bundes­frauenrat in die Satzung aufzunehmen, erreichte mit 55 Prozent nicht die erforderliche Mehrheit für Satzungsänderungen. Bedenken gab es gegen eine Frauenstruktur, die auch von Männern mitgewählt werden sollte und in die auch FunktionsträgerInnen mit Stimmrecht direkt entsandt werden sollten. Daraufhin riefen die Antragstellerinnen dazu auf, den Bundesfrauenrat auch ohne Satzungsverankerung selbst zu gründen – gewis­sermaßen als autonome Struktur. Zumindest darüber, dass DIE LINKE dringend ver­besserte – und mächtigere – Frauenstrukturen braucht, herrschte jedenfalls breite Ei­nigkeit.

Der Kontakt zum „Draußen“

Was haben wir als Emanzipatorische Linke von diesem Parteitag mitzubringen? Keiner unserer Anträge hat es in das Programm geschafft (so wie 1385 andere auch). Dass die Brecht-Erben die Rechte an den „Fragen eines lesenden Arbeiters“ freigaben, „Wir sind Helden“ die Rechte an der „Reklamation“ aber nicht, das zeigt dann doch mehr, wo in der Gesellschaft DIE LINKE angekommen ist und wo nicht; weniger sagt es etwas aus über unsere eigenen Ansprüche.

Da ist die Ablehnung der Traditionslinie „Anarchismus“ schon viel bedeutender. Wie kann es eigentlich sein, dass DIE LINKE sich explizit dieser, einer ihrer gedanklichen und philosophischen Quellen, verweigert und sich somit direkt in die Tradition des Erfur­ter SPD-Programmparteitags 120 Jahre früher stellt, wo die „Jungen“ ausgeschlossen wurden? Sind wir jetzt wirklich wieder eine stramm durchorganisierte Kaderorganisa­tion, wollen wir das sein? Können wir uns etwa doch den Verlust von GenossInnen oder MitstreiterInnen leisten? Straft das nicht die hehren Worte: „Wir brauchen jede*n“, die sich in so vielen Reden fanden, Lügen?

Es scheint so zu sein. Denn durchaus konsequent wurde nicht nur unser Programman­trag abgelehnt, auch weiterhin der Einbindung von SympathisatInnen in unsere politi­sche Arbeit einen hohen Stellenwert einzuräumen, sondern auch der Satzungsände­rungsantrag des Parteivorstandes angenommen, auf Gastmitglieder zukünftig kein Wahlrecht mehr übrtragen zu können. Im Klartext: Dies war der letzte Parteitag, auf dem Gastmitglieder noch Delegierte sein konnten. In Zukunft muss die Mandatsprü­fungskommission keinen Prozentanteil der Delegierten mehr ausweisen, die Parteimit­glieder sind, denn er beträgt ab sofort immer 100 %.

Und das in einer Zeit, in der die SPD unter Schmerzen und enormer medialer Beglei­tung sich um die Öffnung ihrer Strukturen bemüht, in einer Zeit, in der die Forderung nach mehr Partizipation, Transparenz politischer Prozesse, Einmischen und Direktbetei­ligung gesellschaftliche Kraft entfaltet und den Aufstieg der Piratenpartei befeuert – in derselben Zeit sendet DIE LINKE ein Signal der Abschottung nach außen? Ein Be­kenntnis, noch mehr als früher ein „closed shop“ sein zu wollen? Wahrlich ein fatales Signal. Es spielte bei der bisherigen Rezeption des Erfurter Parteitags kaum eine Rolle, wird seine Wirkung aber langfristig entfalten. Eine Lösung des Problems der Überalte­rung und der mangelnden Anziehungskraft auf junge WählerInnen ist damit jedenfalls in noch weitere Ferne gerückt.

Nein, inhaltlich haben wir, haben die Delegierten in Erfurt kein Selbstbewusstsein be­wiesen. Vielmehr war die zur Schau getragene Coolness, Gelassenheit, Disziplin und Einigkeit Ausdruck einer großen Nervosität. Eine Kompensation, ein Überspielen eige­ner Unsicherheit. Aber: Solidarität im Umgang miteinander muss nicht zum Zukleistern inhaltlicher Differenzen führen. Erst, wenn wir uns die Freiheit nehmen, ganz offen – und vor allem vor und mit der Öffentlichkeit – über unsere unterschiedlichen Vorstellun­gen zu streiten, zu beraten, zu beschließen und unsere Beschlüsse und damit uns selbst ernst zu nehmen, dann sind wir eine Partei mit Substanz. Zurzeit sind wir eher die Möglichkeit einer solchen.

Ja, auch wir haben verstanden, dass der Partei DIE LINKE in Erfurt ein historischer Er­folg gelungen ist. Das, was wir zum Ausdruck bringen wollen, ist: Nicht ist so gut, als dass man/frau es nicht noch besser machen kann. Zwei Männer allein können keine Partei retten. Und seien sie auch Gregor Gysi und Oskar Lafontaine.