Ein noch drakonischeres Sparprogramm für Griechenland

Von Joachim Bischoff / Richard Detje, Sozialismus Aktuell, 12.10.2011

14.10.2011 / Auflösung des Tarifrechts und Schuldenschnitt

Bis zum verschobenen Treffen der G20-Länder Anfang November wollen die Regierungen von Frankreich und Deutschland ein Gesamtpaket zur Lösung der europäischen Schuldenkrise vorlegen. Das Paket soll Vorschläge zur Stabilisierung der Währungsunion, zur Lösung der Schuldenkrise in Griechenland, zur internationalen Finanzmarktregulierung und zur Rekapitalisierung der Banken umfassen.

Auch EU-Kommissionspräsident Barroso
will einen umfassenden Restrukturierungsvorschlag vorstellen. Und schließlich hat sich auch noch Ex-Kanzler Schröder mit seinem Votum zur Umschuldung Griechenlands zu Wort gemeldet. Offenkundig will die politische Klasse die quälende Phase des Getriebenseins durch die Finanzmärkte beenden und die bisherige Politik des partiellen Zeitgewinns beenden.

Gleichsam als Vorgriff auf eine Gesamtlösung erfolgt der Beschluss zur Auszahlung der nächsten Kredittranche von acht Mrd. Euro an Griechenland. Die Troika (das Schuldenkomitee von EU, EZB und IMF) hat offenkundig grünes Licht für die Fortführung des Krisenprogramms gegeben, obgleich das griechische Haushaltsdefizit mit 8,5% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in diesem Jahr die ursprünglich angepeilte Obergrenze von 7,6% deutlich übertrifft.

Der wesentliche Grund dafür ist auch nach Einschätzung der Troika die vertiefte Rezession. Die griechische Wirtschaftsleistung ging im zweiten Quartal um 7,3% zurück. Damit ist der ökonomische Einbruch schärfer, als noch im Juni prognostiziert. Erst ab 2013 rechnet die Troika nun mit einer Erholung. Ursprünglich war mit einer Rückkehr zu wirtschaftlichen Wachstumsraten bereits für 2012 kalkuliert worden. Es gibt also eine weitere Tranche, aber zugleich eine stufenweise Verschärfung der Austeritätspolitik für 2012 bis 2014.

Trotz der Rezession – so die Inspektoren der Troika – sei die Neuverschuldung deutlich gesenkt worden. Die positive Empfehlung für Griechenland beruht auf der Bewertung, dass das Land das vereinbarte Sanierungsziel für 2012 – ein Staatsdefizit von 14,9 Mrd. Euro, das entspricht 6,8% des BIP – erreichen kann. Allerdings kann dies wegen der auch im nächsten Jahr anhaltenden rezessiven Entwicklung nur durch zusätzliche Kürzungsmaßnahmen realisiert werden. Kritikpunkt ist, dass die bisherigen Privatisierungseinnahmen zu niedrig ausfallen. Bis Ende 2014 sollen durch Privatisierungen 35 Mrd. Euro in die Staatskassen kommen. Gleichzeitig sollen die sozialpolitischen Struktur»reformen« verschärft werden.

Positiv registriert hat die Troika, dass die Steuereinnahmen im September deutlich angestiegen sind. Das Paradoxon höherer Steuereinnahmen trotz schwerem Rückgang in der Wirtschaftsleistung erklärt sich aus der vom griechischen Parlament beschlossenen »Solidaritätsabgabe« und einer Sondersteuer für Freiberufler. Jeder Haushalt muss einen »Solidaritätszuschlag« leisten, der 1-5% des Einkommens ausmacht. 650 Mio. Euro der Mehreinnahmen stammen hieraus sowie aus der Sondersteuer. Zudem wurden die Einkommensschwelle zur Besteuerung von bisher 8.000 Euro jährlich weiter abgesenkt und die Mehrwertsteuer auf 23% erhöht. Auch Luxussteuern auf Jachten, private Schwimmbäder und Autos werden erhöht. Die SteuerzahlerInnen gleichen durch diese Maßnahmen den rezessionsbedingten Rückgang der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer und der Zollämter aus. In der Öffentlichkeit werden die Sonderabgaben als »Charatsi« (eine Kopfsteuer aus der Zeit der osmanischen Besatzung) angegriffen und zum Boykott der Steuerzahlung aufgerufen.

Die Troika will mit dem griechischen Finanzminister weitere Maßnahmen für 2013 und 2014 vereinbaren, um das öffentliche Defizit bis 2015 unter 3% zu drücken. Im Zentrum stehen die Lohneinkommen. Beschlossen worden sind bereits massive Kürzungen im Rentensystem, sowohl bezogen auf die monatliche Rentenzahlungen wie auch auf das Rentenalter. Auf dem Arbeitsmarkt sind der Mindestlohn für Berufseinsteiger gesenkt und das Entlassen von Lohnabhängigen – über kürzere Kündigungsfristen – erleichtert worden. Diese Tendenz zur Absenkung von Sozialstandards bleibt die dominierende Linie im Konsolidierungsprozess. Bei einer Abwertung der nationalen Währung wäre in vergleichbarer Weise die »Konkurrenzfähigkeit« durch Absenkung der Arbeits- und Sozialeinkommen gesteigert worden. Da die gemeinsame Währung eine solche Operation nicht zulässt, wird die Absenkung von Lebens- und Sozialstandards durch Auflagen seitens der Schuldner erzwungen.

Private Pensionssysteme nach dem Kapitaldeckungsverfahren sind in Griechenland nicht verbreitet. Es dominiert das staatliche umlagefinanzierte System, dessen Kosten 12% des BIP betragen. Ohne Kürzungen hätte sich dieser Prozentanteil laut EU-Berechnungen bis 2050 auf 24% verdoppelt. Mit den beschlossenen Anpassungen soll der Anstieg auf 2,5% beschränkt werden. Zum Abbau der Verwaltungskosten werden die über hundert Rentenkassen in sechs Fonds zusammengeführt. Die Umgehung von Beitragszahlungen soll mit verschärften Kontrollen bekämpft werden.

Durch Kürzungen bei Sozialleistungen will die Regierung in Athen bis 2015 gut fünf Mrd. Euro einsparen. Die Einnahmen der Sozialsysteme sollen gleichzeitig um 3,2 Mrd. Euro steigen. Realisiert werden soll diese Operation vor allem durch die Ausweitung von Kontrollen gegen die Hinterziehung von Sozialbeiträgen und Schwarzarbeit. Auch den Gesundheitsbereich treffen die Maßnahmen. Die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung sollen von 2012 bis 2015 um insgesamt 2,1 Mrd. Euro reduziert werden.

Die Troika-Inspektoren haben sich auch für eine Auflösung des Tarifrechtes in Griechenland eingesetzt, um die Senkung des Mindestlohns und -gehalts (heute brutto 34 Euro täglich bzw. 741 Euro monatlich) zu ermöglichen. Logischerweise sind die Gewerkschaften strikt gegen Eingriffe in die Tarifautonomie. Die Protestbewegung, die sich gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die große Mehrheit der Bevölkerung richtet, dürfte hier massiv an Schärfe gewinnen.

Es geht nicht nur um die historisch einmalige Herabsetzung von Sozialstandards, es geht auch um die Perspektive der weiteren Entwicklung. Der langjährige Chefökonom der EZB, Otmar Issing, hat die Problematik in einem Streitgespräch mit Finanzminister Schäuble in der FAZ vom 8.10. treffend zusammengefasst: »Die EZB hat in einem ihrer letzten Monatsberichte ein Szenario dargestellt, nach dem Griechenland im nächsten Jahr eine Gesamtverschuldung von 160% erreicht und nach zehn Jahren hartem Sparen schließlich bei 120% anlangt. Gleichzeitig wird unterstellt, dass das Land einen Pfad konstanten Wachstums erreicht. Die EZB nimmt das als Beleg für die Schuldentragfähigkeit Griechenlands. Dabei sagen die Zahlen nach meiner Einschätzung das Gegenteil. Ich halte es für ausgeschlossen, dass ein Land über zehn Jahre ein solches drakonisches Sparprogramm durchhält. Ich sehe auch nicht, wo der Optimismus für das Wachstum herkommen soll. Für mich heißt das: Griechenland kann seine Schulden nicht bedienen.«

In der Tat: Über Jahrzehnte eine gesellschaftliche Perspektive auf einer drakonischen Absenkung von Lebens- und Sozialstandard und heroischen Annahmen über das Wirtschaftswachstum aufbauen zu wollen, ist völlig absurd. Auch die Gewerkschaften machen deutlich, dass sie die Einschnitte nicht kampflos akzeptieren wollen. Der aufgehäufte Schuldenberg von 350 Mrd. Euro ist anderthalbmal so hoch, wie Griechenland in einem Jahr als Volkswirtschaft produziert. Ausgaben zu kürzen oder mehr Steuern einzutreiben ist keine nachhaltige Strategie zur Krisenlösung. Elementar ist vor allem eine tragfähige Wirtschaft mit nachhaltigem Wachstum.

Es ist eine immer noch verbreitete neoliberale Illusion, davon auszugehen, dass über eine Abwertung oder durch den Druck der Schuldner ein massiver Schnitt des Lebensstandards erzwungen werden und über die so eingeleitete Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit die Ökonomie auf einen Wachstumspfad zurückgeholt werden kann.

International wettbewerbsfähige Industrien und Dienstleistungen gibt es in Griechenland nur in sehr begrenztem Umfang. Die herausragenden Pluspunkte für Griechenlands Wirtschaft sind die Schifffahrt und der Tourismus. Das Land hat nach wie vor die größte Handelsflotte der Welt, gemessen an der Kapazität der Schiffe – vor Japan oder China. Sorgen bereitet der Tourismus, der für 16% des BIP und jeden fünften Arbeitsplatz verantwortlich ist. Die für die Sommersaison vorliegenden Buchungen lagen laut Branchenexperten um 10% bis 12% unter dem Vorjahresniveau; die Endabrechnung für dieses Jahr steht noch aus, aber auch hier sind vielfach zusätzliche öffentliche und private Investitionen notwendig, um eine vorhandene Stärke auszubauen. Die Nahrungsmittelindustrie, Textil- und Chemieindustrie sind weitere wichtige Zweige der griechischen Ökonomie.

Aber das gebotene massive Investitions- und Aufbauprogramm kam bislang nur in den Sonntagsreden der Politiker vor. Ein massiver Schuldenschnitt für Griechenland vermindert zwar die Zinslasten, bedeutet aber keine automatische Stabilisierung und Wachstumsimpulse für die angeschlagene Ökonomie.

Auch die Hoffnung, dass die Eurozone ihre Probleme selbst nach einem Staatskonkurs Griechenlands endgültig lösen könnte, bleibt illusionär. Mit Hochdruck wird offenkundig an der Stärkung des Eigenkapitals der europäischen Banken gearbeitet. Schon in der Finanzkrise 2008 konnten viele Banken, darunter deutsche Institute, nur durch Verstaatlichung oder massive Finanzunterstützung gerettet werden. 400 Mrd. Euro haben die europäischen Länder seitdem in »ihren« Bankensektor gesteckt und die Schulden der öffentlichen Haushalte damit in die Höhe getrieben. Die Schuldenprobleme fallen nun wiederum auf die Banken zurück. Auch jetzt wäre die Bankensanierung ohne entsprechende Intervention und zusätzliches Kapital über die öffentlichen Haushalte in einer Größenordnung von 200-300 Mrd. Euro nicht zu haben.

Ein massiver Schuldenschnitt für Griechenland, faktisch die geordnete Insolvenz der Landes, hat kurzfristig enorme Folgewirkungen auf die Eurozone. Zunächst sind zur Eindämmung an Ansteckungseffekten weitere monetäre Einsätze unvermeidbar. Dies bezieht sich neben den Krisenstaaten auch auf andere hochverschuldete Länder der Euro-Zone und auf die EZB. Der Chef der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, hat Recht, wenn er betont, dass mehr und mehr Experten einen Schuldenschnitt für unausweichlich ansehen. »Aber man sollte nicht denken, dass es einfach reicht, jetzt einen brutalen Schuldenschnitt in Griechenland vorzunehmen.« Man müsse dafür sorgen, dass dies nicht zu Ansteckungsgefahren in der Euro-Zone führe. Und diese »Brandmauer« ist nicht zum Nulltarif zu haben.

Eine weitere Konsequenz: Das Wirtschaftswachstum würde in den meisten Ländern nahezu zum Stillstand kommen, auch Länder wie Spanien und Italien könnten in die Rezession abrutschen. Selbst für die deutsche Wirtschaft besteht ein Risiko: Die Ökonomie ist mit einer harten konjunkturellen Bremsung konfrontiert und sie kann eine Rezession nur dann vermeiden, wenn die Schuldenkrise eingedämmt wird. Eine Ausweitung der wirtschaftlichen Abwärtsspirale auf den Großteil der europäischen Länder hätte wie 2008 eine wirtschaftliche Talfahrt der Globalökonomie zur Folge.