Das Ende des Kapitalismus

clara 10/2011

14.10.2011 / Ausgabe 21 vom 10.10.2011

Darüber sprach Heiner Flassbeck, Chefvolkswirt der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung, auf der Klausur der Fraktion DIE LINKE in Rostock. clara veröffentlicht einen Auszug aus seinem Vortrag.

Ein zentraler Zusammenhang wird derzeit nicht verstanden. Die momentane Krise ist im Kern eine globale Lohnkrise, also eine Krise des Nichtsteigens der Löhne. Das kann man sehr schön darstellen an den entscheidenden Zonen.

Japan hat schon seit 20 Jahren eine Lohnkrise. Vor allem, weil die Japaner es nicht geschafft haben, Anfang der 90er Jahre wieder auf einen Wachstumspfad zu kommen. Warum? Weil sie im Kern die Löhne nicht mehr erhöht haben und stattdessen flexible Löhne einführten: Bonuszahlungen, die die Arbeiter bekommen haben. Aber über die Kürzung der Boni haben sie so flexible Löhne produziert, dass die inländische Nachfrage nicht mehr steigen konnte. Das ist der Kern der japanischen Krise gewesen und ist es noch immer.

Verteilungsfrage vor der Wachstumsfrage lösen

Noch deutlicher ist die Lohnkrise in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort haben wir die Situation, dass seit diesem Frühjahr die Löhne nicht nur nominal stagnieren, sondern real sogar fallen. Beim letzten G-20-Treffen hat John Lipski, der Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF), das Desaster in den USA benannt. Es heiße von jetzt ab: »No hours, no wages«. Es gebe keinen Zuwachs der Arbeitsstunden und keinen Zuwachs der Löhne. Studien zeigen, dass in den USA nicht nur eine »jobless recovery« – ein »beschäftigungsfreies Wachstum« – herrscht, also eine Erholung der Konjunktur ohne Beschäftigungszunahme, nein, es gibt jetzt eine »wageless recovery«: einen Aufschwung ohne Lohnerhöhung. Das passiert zum allerersten Mal.

Wenn man in den USA von Wirtschaftszyklus zu Wirtschaftszyklus schaut, sieht man, wie von jedem Aufschwung zum nächsten der Lohnzuwachs geringer wird. Jetzt sind wir nominal fast bei einer Stagnation. Das ist real ein Rückgang. Schuld daran sind die Machtverhältnisse, wie sie sich in den letzten 20 Jahren herausgebildet haben. Das hat nichts mit Ökonomie zu tun, sondern ist eine reine Machtfrage: Wer setzt sich durch am Arbeitsmarkt? Die Machtverhältnisse sind jetzt so, dass in diesem Aufschwung der USA 95 Prozent der Einkommen, die geschaffen wurden, in erster Linie durch staatliche Ankurbelungsprogramme entstanden. Der staatliche Zuwachs des Defizits ist zu 95 Prozent bei den Unternehmen angekommen. Zu 95 Prozent ist der Zuwachs des gesamten Einkommens in den USA bei Unternehmen und nicht mehr bei den Arbeitnehmern angekommen. Das könnte man das Ende des Kapitalismus nennen, das Ende einer in irgendeiner Weise funktionierenden Marktwirtschaft.

Die Unternehmen wissen nicht mehr, was sie mit diesem Geld machen sollen. Die machen dann Casino. Das ist die dramatische Situation in den USA. Alles Geld, das der Staat als Schulden aufgenommen hat, haben die Unternehmen sich angeeignet, aber sie investieren nicht damit. Das, was man Angebotspolitik genannt hat, wo man dachte, man muss den Unternehmen nur so viel Geld wie möglich in die Tasche stecken, dann investieren sie auf Teufel komm raus, das genau tun sie nicht, sie investieren nicht.

Casino auch in Deutschland

Nun haben wir dieselbe Situation in Europa, in Deutschland schon seit 15 Jahren, aber jetzt dank deutscher »Entwicklungshilfe« sozusagen auch für den Rest Europas – das wird jetzt zum allgemein gültigen Modell. Alle machen, was Deutschland gemacht hat. Alle verbessern ihre Wettbewerbsfähigkeit, man weiß nur nicht wogegen: gegen den Mond oder gegen den Mars? Gegen die Japaner und Amerikaner macht es keinen Sinn, die noch weiter herunterzukonkurrieren. Also gegen wen verbessern wir unsere Wettbewerbsfähigkeit?

Das heißt, auch in Europa werden die Löhne von nun an stagnieren. In Deutschland ist es besonders extrem. In Deutschland haben wir eine perverse Situation, die mit Marktwirtschaft nichts zu tun hat. Ich rede jetzt wirklich von Marktwirtschaft, wie man sie traditionell verstanden hat in den ersten 30 Jahren nach dem Krieg. In den ersten 30 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg waren in Deutschland der Hauptgegenpol der Ersparnisse der privaten Haushalte die Unternehmen. Die Unternehmen haben sich nämlich verschuldet. Die privaten Haushalte haben etwa zehn Prozent gespart, und die Unternehmen haben sich zu acht bis neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschuldet und investiert. Nun haben wir in Deutschland die perverse Situation seit zwei, drei Jahren, dass die Unternehmen per Saldo ebenfalls sparen. Sie haben so viel Geld, dass sie nicht wissen, wohin damit. Sie investieren jedenfalls nicht. Die Investitionsquote geht weiter runter.

Die Unternehmen sparen in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die deutschen Unternehmen sparen zwei Prozent, die Haushalte sparen zehn Prozent ihres Einkommens. Der Staat darf jetzt keine Schulden mehr machen. Wer macht die Schulden? Irgendeiner muss dieses Geld, das zur Bank getragen wird, aufnehmen und investieren. Wer ist das?

An die Wand gefahren

Die reine Logik sagt, wenn in Deutschland alle sparen und der Staat keine Schulden macht, dann geht die Rechnung nicht auf. Dann gibt es entweder eine gewaltige Rezession oder die anderen verschulden sich. Die anderen sind aber schon bis zum Stehkragen verschuldet, sie können sich nicht weiter verschulden. Damit ist das deutsche Modell gegen die Wand gefahren. Es wird nur noch nicht zur Kenntnis genommen. Aber es wird in Kürze zur Kenntnis genommen werden müssen, weil auch der deutsche Aufschwung zu Ende ist. Der wunderbare XXL-Aufschwung ist zu Ende, gerade mit diesem Frühjahr.

Damit haben wir jetzt weltweit eine Situation, dass fast 70 Prozent der Weltwirtschaft stagnierende Löhne haben. Die Erwartung der normalen privaten Haushalte – Japan, USA und Europa, das sind fast 70 Prozent der Weltwirtschaft – ist darauf ausgerichtet, dass ihr Einkommen nicht mehr steigt. In dieser Situation ist es absolut berechtigt zu sagen: Die Marktwirtschaft oder der Kapitalismus ist am Ende. Es gibt kein Wachstum mehr. Es gibt keine Möglichkeit mehr, in vernünftigem Rahmen zu wachsen, und damit hat sich dieses Modell sozusagen selbst gegen die Wand gefahren.

Die Umverteilung hat nicht nur dramatische soziale Folgen, sondern sie hat die wirtschaftliche Folge, dass die Weltwirtschaft stagniert. In den USA ist es seit 10, 15 Jahren der Fall. Die haben es nur eine Zeit lang überspielt mit steigenden Börsenkursen und der Hoffnung darauf, diese »Spekulationsblase« schaffe Vermögen. Sie schafft natürlich kein Vermögen, sondern nur Scheinvermögen, Scheingewinne, die übrigens jetzt auch in den Bilanzen der Banken gerade implodieren. Und wir werden in Kürze wieder über verlierende Banken reden, in Europa und weltweit.

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