Atomenergie: Brücke ins Nichts

Plädoyer für einen energethischen Systemwechsel von Hermann Scheer*

26.03.2011 / (aus: »Blätter« 12/2010, Seite 55-65)

Lester Brown, der Gründer des World Watch Institute und heutige Direktor des Earth Policy Institute in Washington, fordert in seinem Buch „Plan B“ den Wechsel zu erneuerbaren Energien mit einer politischen Kraftanstrengung, die einer wartime mobilization in „Blitzgeschwindigkeit” entspricht. Er erinnert daran, wie US-Präsident Franklin D. Roosevelt Anfang 1942, nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor und Hitlers Kriegserklärung gegen die USA im Dezember 1941, die militärische Mobilmachung einleitete und die sofortige massive Produktion von Kriegsschiffen, Flugzeugen und Panzern veranlasste: „Und niemand soll zu sagen wagen, das sei nicht möglich.” Unter anderem wurde der Verkauf privater Autos für fast drei Jahre verboten, um das gesamte Produktionspotential der Automobilindustrie für die Produktion von Kriegsfahrzeugen einzusetzen.[1]

Eine außergewöhnliche Kraftanstrengung ist auch geboten, um den faktisch stattfindenden atomar-fossilen Krieg gegen die Lebenschancen der menschlichen Zivilisation zu beenden. Doch ist dies die einzige Analogie zu Roosevelts militärtechnischer Mobilmachung. Die Mobilisierung für den Energiewechsel bedarf gänzlich anderer Ansätze als die von Roosevelt gewählten, denn sie richtet sich gegen völlig andere Kontrahenten. Sie zielt auch auf die Produktion neuer Technologien, auf einen umfassenden wirtschaftlichen Strukturwandel, eine neue Kultur des Wirtschaftens unter neuartigen Rahmenbedingungen – und nicht, wie so oft behauptet, auf staatsdirigistische Eingriffe in Unternehmensentscheidungen. Stattdessen zielt sie darauf, den strukturellen Dirigismus der konventionellen Energieversorgung außer Kraft zu setzen.

Vorbildlich ist Roosevelt jedoch mit dem Konzept der zielbewussten Bündelung aller notwendigen Kräfte mit unkonventionellen Methoden. Er wollte keine Situation zulassen, in der er hätte sagen müssen: „Leider können wir die Kriegführung Japans und Deutschlands nicht angemessen durchkreuzen, weil dies den bestehenden Wirtschaftsstrukturen zu viel abverlangt.”

Genauso wenig dürfen wir die strategische Mobilisierung für den Energiewechsel davon abhängig machen, ob diese mit den der konventionellen Energieversorgung verhafteten Interessen und Strukturen vereinbar ist. Die nächste Generation, die mit den katastrophalen Folgen fossiler und atomarer Energien zurechtkommen muss, wird sich nicht mit der Entschuldigung besänftigen lassen: „Wir hätten sie durch den konsequenten Wechsel zu erneuerbaren Energien abwenden können, aber wir mussten auf entgegenstehende Interessen Rücksicht nehmen. Das war wichtiger. Wir bitten um Verständnis.”

Jahrzehntelang hat die etablierte Energiewirtschaft gezielt Desinformationen verbreitet, wonach erneuerbare Energien keine Alternative sein können. Doch dieses Arsenal ist mittlerweile großenteils aufgebraucht. Die neuen Mantras gegen einen Energiewechsel sind dagegen so verfeinert, dass sie auch für manche Sympathisanten erneuerbarer Energien plausibel klingen. Sie sind auf Verzögerung ausgerichtet und sollen Aufschübe rechtfertigen. Da heute niemand mehr als betriebsblind gegenüber den Gefahren der konventionellen Energien erscheinen will, spielen sich nunmehr die Energiekonzerne mit hohem Werbeaufwand als Förderer erneuerbarer Energien auf. Damit soll der Eindruck erweckt werden, das real Mögliche werde versucht. Dies ist schon anhand des Erneuerbare-Energien-Gesetzes leicht widerlegbar: Weit über 90 Prozent der durch dieses Gesetz ausgelösten Investitionen wurden von Stadtwerken, Betreibergemeinschaften oder einzelnen Betreibern realisiert und nicht von Energiekonzernen, denen die Finanzierung leichter gefallen wäre. Allein im Jahr 2009 investierten Familien deutschlandweit mehr in die Solarstromerzeugung als die vier Stromkonzerne EON, RWE, EnBW und Vattenfall zusammen.

Die Allianz der Aufschieber

Zwei Aufschubstrategien der etablierten fossilistischen Energiewirtschaft sind augenfällig: Die eine ist, Alternativen anzupreisen, die als „Brücke” zu vermeintlich erst später verfügbaren erneuerbaren Energien oder als ebenbürtiges Äquivalent zu diesen dargestellt werden. Dieser Ansatz zielt auf eine „Renaissance” der Atomenergie und den Einsatz „klimafreundlicher Kohlekraftwerke”. Zu Hilfe kommt dieser Methode die Fixierung der Weltenergiediskussion auf das CO2-Klimaproblem, als wären alle weiteren Risiken und Gefahren der konventionellen Energieversorgung inexistent.

Die zweite Strategie besteht darin, große Projekte für erneuerbare Energien ins Spiel zu bringen, deren Realisierung zum einen viel Zeit beansprucht und zum anderen überwiegend durch Großinvestoren möglich ist. Somit trachten die Energiekonzerne danach, ihre Vormachtstellung zu erhalten, indem sie die Diskussion auf Handlungsfelder lenken, auf denen sie wenig Konkurrenz zu fürchten haben. Diese Strategie findet selbst unter Befürwortern erneuerbarer Energien Anklang, solange ihnen der Zusammenhang zwischen Zeit- und Strukturproblemen nicht ausreichend bewusst ist. Über der Erleichterung, dass Energiekonzerne endlich bereit scheinen, in größerem Umfang auf erneuerbare Energien zu setzen, verkennen sie, dass es sich in Wahrheit um eine wirtschaftlich motivierte Aufschubstrategie handelt. Dazu gehören das Herunterspielen der großen Probleme atomarer und fossiler Energien und gleichzeitig das Hochspielen scheinbarer oder teilweise auch tatsächlicher, jedoch erkennbar überwindbarer Probleme, die beim Wechsel zu erneuerbaren Energien bewältigt werden müssen.

Wer immer sich durch solche „Brückenstrategien” von der Dringlichkeit des Energiewechsels ablenken lässt, gehört unfreiwillig zur Allianz der Aufschieber. Das meistgenannte Argument lautet dabei, der Wechsel müsse in einem internationalen Gleichklang stattfinden. Anders sei er nicht zu verwirklichen, weil man sich sonst selbst wirtschaftlichen Schaden zufüge. Im Übrigen nütze es, bezogen auf die Welt, ohnehin nicht viel, den Wechsel allein für sich zu versuchen.

Weltklimakonferenz und Emissionshandel als organisierter Minimalismus

Seit Mitte der 90er Jahre gelten daher die Weltklimakonferenzen als Dreh- und Angelpunkt für die Einleitung einer Energiewende, die global vereinbart und national umgesetzt werden müsse. Die Weltöffentlichkeit war deshalb vom blamablen Ausgang der Weltklimakonferenz in Kopenhagen im Dezember 2009 überrascht und entsetzt, weil sie sich deren Scheitern nicht vorstellen konnte. Alles schien zuvor für einen Erfolg zu sprechen: eklatanter Problemdruck, optimistische Regierungsankündigungen, eindringliche Appelle der Nichtregierungsorganisationen, ein Massenandrang von 65 000 Teilnehmern und die Anwesenheit von 120 Regierungschefs, so dass daraus ein „G120”-Gipfel wurde. Es war die größte politische Konferenz der Welt-geschichte.

Doch so überraschend war das eingetretene Debakel nicht. Die Weltklimakonferenz lief nämlich nach demselben Drehbuch ab wie ihre 14 Vorgängerinnen seit 1995: vor der Konferenz dramatische „Jetzt-oder-nie”-Appelle, auf der Konferenz kleinkariertes und lähmendes Gefeilsche mit peinlichen Resultaten, der Beschluss einer Folgekonferenz und anschließend Anprangern der Schuldigen. Die einzige bescheidene Ausnahme bildete bisher das 2005 in Kraft getretene Kyoto-Protokoll. Allerdings war von vorneherein klar, dass damit ein weiteres Ansteigen der Treibhausemissionen nicht zu verhindern sein würde. So liegt die Vermutung nahe, dass auch das Kyoto-Protokoll vor allem wegen seiner „Zahnlosigkeit” zustande kam.

Wenn es für die ärmlichen Resultate von Kopenhagen einen Hauptschuldigen gibt, so ist es das Konzept der Weltklimakonferenzen selbst. Es beruht auf zwei höchst fragwürdigen Prämissen: dass eine globale Vertragslösung mit relativ gleichwertigen Verpflichtungen aller Beteiligten unerlässlich sei, weil es sich um ein globales Problem handelt, das alle betrifft. Und dass die notwendigen Maßnahmen zum Klimaschutz als wirtschaftliche Last gewertet werden, weshalb auf der Basis eines breiten Konsenses eine „faire Lastenverteilung” ausgehandelt werden müsse. Letztlich heißt das: „alle oder keiner”. Was theoretisch überzeugend klingt, ist praktisch illusorisch. Das Problem liegt eher im Konformismus der zu einer „Community” zusammengewachsenen Klimadiplomatie sowie einiger internationaler Umwelt-NGOs und Klimaforschungsinstitute. Dass es „keine Alternative” gebe, ist dagegen ein Irrtum.

Die Konsenslähmung

Da für den Schutz des Weltklimas schnell einzuleitende und umfassend wirksame Initiativen geboten sind, liegt bereits im unumgänglichen Konsensprinzip beim Streben nach einem Weltabkommen das grundlegende Dilemma der bisherigen Weltklimakonferenzen. Zwischen Beschleunigung und Konsens besteht grundsätzlich ein unüberbrückbarer Widerspruch.

Ein Konsens zu einem verbindlichen internationalen Vertrag ist umso schwerer erreichbar, je mehr dieser die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der einzelnen Länder unmittelbar betrifft. Dies ist bei Energiefragen prinzipiell der Fall, allerdings in den einzelnen Staaten mit ihren sehr unterschiedlichen Verhältnissen in sehr verschiedener Weise. Appelle an die Verantwortung und den guten Willen der Regierungen können diese Divergenzen nicht aufheben. Ein wirklich substanzieller Vertrag mit gleichen und gleichzeitigen Verpflichtungen ist schon deshalb unerreichbar, weil die Verhältnisse zu ungleich sind. Auch das Kyoto-Protokoll kam nur zustande, weil es die meisten Länder, darunter auch China und Indien, von Handlungspflichten freistellte. Es war von vornherein klar, dass das in Kopenhagen angestrebte Kyoto-II-Abkommen für die Zeit nach 2012 solche Freistellungen nicht mehr einräumen darf, sollten die Bemühungen um einen Weltklimavertrag nicht endgültig zur Farce werden. Dies verstärkt aber das Grunddilemma der Weltklimakonferenzen.

Bestenfalls ist nach langen und mühseligen Verhandlungen ein Konsens über allzu niedrige Mindestverpflichtungen möglich, die aber dann weit hinter der Klimagefahr zurückbleiben. Dass selbst dieses Minimalziel – entgegen allem Handlungsdruck und allen Erwartungen und Ankündigungen – kaum erreichbar ist, hat die Konferenz von Kopenhagen spektakulär demonstriert. Sie scheiterte, obwohl es dort nur noch um ein von vornherein kompromittiertes Verhandlungsziel ging, das bereits eine Teilkapitulation vor dem Weltproblem der Klimaveränderungen darstellt: Die Klimagasemissionen sollten nur so weit begrenzt werden, dass die Erwärmung der Erdatmosphäre – von gegenwärtig 0,7 Grad, gemessen am Wärmehaushalt der Erdatmosphäre vom Beginn des Industriezeitalters – nicht über zwei Grad Celsius hinausgehen dürfte. Das bedeutet faktisch, dass eine weitere Zuspitzung der Klimagefahren (von gegenwärtig 385 ppm C02-Anteilen in der Atmosphäre auf 450 ppm) in Kauf genommen wird.

Um eine Analogie heranzuziehen: Im Jahr 2000 veröffentlichte die UNO ihre Millenniumsziele, zu denen unter anderem gehörte, die Zahl von seinerzeit 820 Millionen hungernden Menschen bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Wie hätte die Weltöffentlichkeit reagiert, wenn das erklärte Millenniumsziel gewesen wäre, die Zahl von 820 Millionen hungernden Menschen nicht auf über zwei Milliarden anwachsen zu lassen? Was ist in die Mitglieder der Community gefahren, das „Zwei-Grad-Ziel” zum Maß aller Dinge zu machen – obwohl sie selbst zugleich ständig die berühmt gewordene Studie des britischen Wissenschaftlers Nicholas Stern zitieren, wonach aus den fortschreitenden Klimaveränderungen deutlich mehr wirtschaftliche Schäden erwachsen als durch Wirtschaftswachstum erwirtschaftet werden kann? Wie kann ein in sich fatalistisches Ziel neue Perspektiven eröffnen?

Mit Minimalverpflichtung und Emissionszertifikaten in die Sackgasse

Normalerweise ist dennoch jeder Kompromiss immer noch besser als gar keiner, weil ja jeder über die eingegangene minimale Verpflichtung hinausgehen kann. Aber gerade diese Möglichkeit wird durch die favorisierten „flexiblen Instrumente” des Verrechnens von Emissionszertifikaten durchkreuzt, welche die praktische Umsetzung des Vertragsziels mit „marktwirtschaftlichen Methoden” gewährleisten und erleichtern sollen.

Die jedem Land im Rahmen der jeweiligen Mindestverpflichtung zugeteilten Emissionszertifikate sind international handel- oder anrechenbar: Wer mehr emittiert, als ihm erlaubt ist, darf sich dafür „Emissionsrechte” bei anderen kaufen, die weniger emittieren, als ihnen zugestanden wurde. Neben diesem Handel mit „Emissionsrechten” steht als zweites Instrument der Clean Development Mechanism (CDM). Mit ihm dürfen Unternehmen die ihnen zugestandenen Emissionsobergrenzen in dem Maße überschreiten, indem sie sich durch CO2-mindernde Investitionen andernorts von eigenen CO2-Limitierungen freikaufen können.

Damit im Emissionshandel der Marktpreis über einen Angebot/Nachfrage-Mechanismus ermittelt werden kann, muss es eine Obergrenze geben: cap and trade konstituiert Handel mit Emissionszertifikaten innerhalb der vereinbarten Obergrenze. Das Land, das aufgrund eigener Initiativen weniger CO2 ausstößt, kann dafür nur dann einen finanziellen Ausgleich erhalten, wenn andere Länder mit ihren eigenen Maßnahmen ihrer Verpflichtung nicht nachkommen und deshalb Emissionszertifikate zukaufen müssen. Wenn alle ihre Verpflichtungen erfüllen, gibt es keinen Zertifikatehandel. Aber es gilt auch: Wenn einer mehr CO2 reduziert, dürfen andere dafür weniger reduzieren. Dass dieses Nullsummenspiel innerhalb der Minimalverpflichtung nicht weiterführt, war von Anfang an erkennbar.

Eurosolar warnte bereits anlässlich der Weltklimakonferenz 2001 in Bonn, auf der Umweltorganisationen wie Greenpeace und der WWF für die Durchsetzung solcher „flexiblen Instrumente” eintraten, mit der Kampagne „Unsere Luft ist keine Ware” davor, dass der Zertifikatehandel den Wechsel zu einer emissionsfreien Energieversorgung lähmt, statt ihn voranzutreiben. Von seinen Protagonisten wurde der Emissionshandel jedoch als das wirkungsvollste und wichtigste Konzept zum Klimaschutz gepriesen. Forderungen von Wirtschaftswissenschaftlern, Unternehmern und Politikern wurden laut, alle anderen politischen Instrumente, wie Ökosteuern oder das Erneuerbare-Energien-Gesetz, abzuschaffen.

Viele Umweltorganisationen begründen ihre positive Haltung damit, dass die „flexiblen Instrumente” die einzigen Schritte darstellen, auf die man sich bei Weltklimakonferenzen einigen könne und die auf alle Länder übertragbar seien. Man müsse sich auf das Konzept einlassen, um es dann für die nächste Verpflichtungsetappe – das angestrebte „Kyoto-II”-Abkommen nach dem Jahr 2012 – weiterentwickeln zu können. Von Wirtschaftswissenschaftlern wird es als „Marktkonzept” favorisiert, das zu einem optimalen Einsatz der Investitionsmittel führe: Weil Investitionen für den Klimaschutz in Niedriglohnländern weniger kosten, könne man sich die in Industrieländern vergleichsweise höheren Kosten sparen und so den gleichen Reduktionseffekt mit sehr viel geringerem finanziellem Aufwand erreichen.

Das Minimum wird zum Maximum

Tatsächlich haben sich alle Befürchtungen bestätigt, wie die Studie „Globaler Emissionshandel. Wie Luftverschmutzer belohnt werden” der schwedischen Dag Hammarskjöld Foundation belegt[2]: Die Obergrenze, unter der der Handel stattfindet, ist identisch mit dem mühsam ausgehandelten und für den Klimaschutz ungenügenden Minimalkompromiss des Kyoto-Protokolls oder der nächsten Minimalverpflichtung eines angestrebten „Kyoto-II”-Abkommens, wenn es (denn doch noch) zustande kommen sollte. Mit den flexiblen Instrumenten wird dieses Minimum faktisch zum Maximum gemacht: zum ökonomischen Anreiz, das Minimum nicht zu überschreiten! Mehr noch: Es werden Länder davor gewarnt, durch unilaterale Initiativen über diese Minimalverpflichtung hinauszugehen: Sie würden sich damit wirtschaftlich schaden.

Ein signifikantes Beispiel dafür ist das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des deutschen Bundesfinanzministeriums „Klimapolitik zwischen Emissionsvermeidung und Anpassung” vom Januar 2010, dem 29 Professoren der Finanz- und Wirtschaftswissenschaften angehören. Dieser Beirat kommt zu dem Ergebnis, dass „unkoordiniertes einzelstaatliches Handeln” – womit Initiativen gemeint sind, die über internationale Verpflichtungen hinausgehen – unterlassen werden sollte, weil es nicht nur für das eigene Land, sondern insgesamt schädlich sei: „Anstrengungen einzelner Länder, durch eine Vorreiterrolle in der Klimapolitik und hohe selbst gesetzte Emissionsminderungsziele die Klimapolitik zu beeinflussen, können dazu führen, dass andere Länder in ihren klimapolitischen Anstrengungen nachlassen, statt diese zu erhöhen. Eine klimapolitische Vorreiterrolle führt deshalb in der Regel zu hohen Kosten in dem Vorreiterland, ohne dass eine entscheidende Verbesserung des Weltklimas sichergestellt werden kann. Besondere Anstrengungen und Vorreiterinitiativen einzelner Länder verbessern auch nicht die Ausgangssituation für eine weltweite Klimavereinbarung, sondern können das Zustandekommen einer solchen gefährden. Die Verringerung des verbleibenden Vorteils aus weltweiten Klimavereinbarungen macht das Zustandekommen einer solchen Lösung unwahrscheinlicher.” Denn wenn ein Land durch „Investitionen in Vermeidungstechnologie” seine eigenen Emissionen unilateral senkt, reagierten andere Länder darauf „mit einer Erhöhung ihrer eigenen Emissionen”. Ein Land würde deshalb für seine „frühzeitigen Investitionen in Vermeidungsstrategien bestraft”. Eine unilaterale Emissionsvermeidung führe dazu, dass der „Kreis der Nutznießer und der Kostenträger” auseinanderfalle. Damit entstünde eine „Trittbrettfahrerproblematik”. Deshalb solle man sich unilateral auf Anpassungsmaßnahmen an erfolgte Klimaveränderungen konzentrieren, etwa gegen Überschwemmungen und Sturmschäden, weil hier „Kostenträger und Nutznießer” zusammenfallen.

Die Regierungen als Geschäftspartner der Emittenten

Diese These des Wissenschaftlichen Beirats entspricht mustergültig der Logik der flexiblen Instrumente: Das Konzept der Weltklimakonferenzen führt zu absurden Konsequenzen, zu einer hoffnungslosen Lähmung der Weltklimapolitik. Es blendet alle weiteren Probleme und Gefahren der konventionellen Energieversorgung aus und verkennt, dass die Menschen unabhängig von globalen Emissionsverrechnungen ein elementares Interesse daran haben, alle sie unmittelbar belastenden Energieemissionen zu reduzieren. Lasten durch andere Schadstoffe aus konventioneller Energienutzung, die keine Treibhausgase sind und also nichts mit dem globalen Klimaschutz zu tun haben, werden von diesen Klimaschutzinstrumenten nicht erfasst.

Gäbe es das CO2-Problem nicht, hätten wir jedoch immer noch die Gesundheits- und Umweltbelastungen durch die weiteren Schadstoffe, und das Weltenergiesystem wäre keineswegs intakt. Hinweggegangen wird auch über das Problem der Ressourcenerschöpfung sowie über die volks- und regionalwirtschaftlichen Interessen der einzelnen Länder. Alle sollen in der – vielfältige gesellschaftliche Fragen betreffenden – Energieversorgung im Gleichschritt vorgehen, nach der Maßgabe des globalen cap ausgehandelter CO2-Emissionsminderungen. Hauptsache, man folgt einem theoretischen Modell, und mag es noch so unzulänglich sein. Es gibt mittlerweile eine Flut von „wirtschaftswissenschaftlichen” Empfehlungen, die genauso argumentieren wie der zitierte Beirat. Da die Emissionshandelsinstrumente aber als sakrosankt gelten, führt dies zu der dogmatischen Schlussfolgerung, dass jede Aktivität zur Förderung des Energiewechsels – ob in Deutschland oder andernorts – unterbleiben müsse, solange der Zertifikatemarkt als Maß der Dinge gilt. Diese krude Logik ist vielen Befürwortern der „flexiblen Instrumente”, die zugleich auf einen schnellen Ausbau erneuerbarer Energien drängen, nicht hinreichend bewusst.

In der Konzeptfalle der Weltklimakonferenz ist man bereits, wenn man alle Energiemaßnahmen in erster Linie daran misst, wie viel sie zur CO2-Minderung beitragen. Andere Kosten und Belastungen durch konventionelle Energien spielen dann keine Rolle mehr – ebenso wenig wie andere Schattenseiten, die schon für sich genommen die Konsequenz nahelegen, diese Instrumente aus dem Verkehr zu ziehen. So variieren die Preise für die Zertifikate auf dem dafür geschaffenen Markt ständig. Dies führt zwangsläufig zur Investitionsunsicherheit, weil sich die Amortisationsraten ständig verändern. Der Handel mit den Zertifikaten oder deren Verrechnung findet innerhalb des Systems der fossilen Energieversorgung statt, konserviert damit deren Strukturen, wirkt innovationshemmend für erneuerbare Energien und bremst auch dadurch den Energiewechsel. Die Rolle der konventionellen Energiekonzerne und deren Einfluss auf das Regierungshandeln bleiben weitgehend unangetastet. Aus Instrumenten des Klimaschutzes werden Vehikel für die Bestandssicherung der fossilen Energiewirtschaft.

Regierungen, die ab 2013 die Emissionszertifikate versteigern wollen, hoffen auf Einnahmen für die Staatskasse. Das an die Staatskasse zu entrichtende Entgelt für die Zertifikate hat dann die Funktion einer CO2-Steuer, nur dass der bürokratische Aufwand und die Kosten dafür wesentlich größer sind als bei einer Besteuerung. Auf diese Einnahmen wollen die Regierungen dann voraussichtlich nicht mehr verzichten, was sie dazu motivieren könnte, Initiativen für erneuerbare Energien zurückzustellen. Indirekt werden sie zu Geschäftspartnern der Emittenten. Voraussehbar ist auch das Entstehen neuer Spekulationsblasen, zumal der Emissionshandel als einer der am stärksten wachsenden Finanzmärkte gilt. Luftbuchungen von Geldspekulanten, die 2008 die weltweite Finanzkrise ausgelöst haben, sind wahrscheinlich umso unkontrollierbarer, je mehr tatsächlich mit Luft spekuliert wird.

Der Emissionshandel vollzieht sich auf einem „Kunstmarkt” erratischer Preisbewegungen, auf die sich niemand verlassen kann. Da ein echter „Markt für Verschmutzungsrechte nicht existiert”, so die Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Elmar Altvater und Achim Brunnengräber, musste „zur Handelsware gemacht werden, was eigentlich nicht handelbar ist”. In der neoliberalen Vorstellung ist dies ein „politischer Kunstgriff”, mit dem explizit national und international legalisierte „Rechte zur Verschmutzung durch den Staat konstruiert werden”. Dies setzte voraus, die „Knappheit des Wirtschaftsguts Verschmutzungsrecht künstlich durch Obergrenzen von Emissionen (cap) festzulegen.”[3]

Von der fossilistischen Monokultur zu den Multikulturen der Erneuerbaren

Jede Strategie für den Energiewechsel verlangt, Hindernisse zu beseitigen. Diese Hindernisse, das gilt es den Apologeten der globalen Lösung entgegenzuhalten, sind jedoch von Land zu Land unterschiedlich. Aufgrund des jeweils unterschiedlichen natürlichen Angebots erneuerbarer Energien können die Gestaltungsschwerpunkte des Energiewechsels nicht weltweit die gleichen sein. Aus den Monokulturen der konventionellen Energieversorgung, die sich im internationalen Vergleich stark ähneln, entstehen verschiedenartige Multikulturen erneuerbarer Energien.

Die strategische Mobilisierung erneuerbarer Energien muss schon deshalb vor allem eine einzelstaatliche sein – nicht aus engen nationalistischen Gründen, sondern weil sie sich auf das jeweilige natürliche Angebot erneuerbarer Energien sowie auf die jeweiligen Wirtschaftsstrukturen und Rechtsordnungen beziehen muss, die mit der konventionellen Energieversorgung vielfältig verquickt sind.

Hinzu kommen die sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsstadien: Es gibt Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländer, Länder mit einem durchstrukturierten Strommarkt und solche, in denen nur spärliche Netze existieren. Es gibt Energieexport- und -importländer, großflächige Länder mit geringer und kleinflächige mit hoher Siedlungsdichte. Für den durchgehenden Energiewechsel kann es also nicht eine Strategie geben, die auf alle übertragbar ist. Erfolgreiche Konzepte, wie etwa das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz, können zwar vielen Ländern zum Vorbild werden. Aber auch dies ist nur möglich, wo Netzinfrastrukturen bestehen – und nur, wenn es um Strom- oder Gaslieferungen geht. Ein flächendeckender Ausbau eines Stromnetzes, woran es in vielen Entwicklungsländern fehlt, ist aber dort für die Mobilisierung der erneuerbaren Energien gar nicht mehr nötig und würde sie erheblich verzögern. Überdies geht es nicht allein um die Stromversorgung und um den Strommarkt, sondern auch um Fragen der Wärme- und Kraftstoffversorgung, um Marktordnung, Raumordnung, um das Bau- oder Steuerrecht und nicht zuletzt um Fragen der jeweiligen politischen Handlungskompetenzen in unterschiedlichen Verfassungsordnungen.

Volkswirtschaft vor Betriebswirtschaft

Für jede politische Mobilisierungsstrategie zu erneuerbaren Energien sind daher zwei Handlungsgrundsätze von maßgeblicher Bedeutung: Zum einen muss über den konventionellen energiewirtschaftlichen Kalkulationsrahmen hinausgegangen werden, der sich nur auf aktuelle Kostenvergleiche zwischen konventionellen und erneuerbaren Energietechniken bezieht. Die größten volkswirtschaftlichen Kostenfaktoren der konventionellen Energieversorgung bleiben dabei in der Regel unbeachtet und tauchen in den Energiepreisen nicht auf, nämlich die Belastung der Zahlungsbilanz durch Energieimporte sowie Gesundheits-, Umwelt- und Klimaschäden. Unberücksichtigt bleiben auch die über die Kraftwerks- oder Raffineriekosten hinausgehenden Infrastrukturkosten der konventionellen Energielieferkette.

Das Maß der Dinge sind die volkswirtschaftlichen Vorteile, die sich durch erneuerbare Energien ergeben. Sie gelten jedoch nicht für alle Wirtschaftsteilnehmer gleichermaßen. Politische Konzepte zur Mobilisierung erneuerbarer Energien müssen deshalb die volkswirtschaftlichen Vorteile in einzelwirtschaftliche Anreize übersetzen. Diese Vorteile – und damit die volkswirtschaftlichen Spielräume für einen Energiewechsel – gingen aber verloren, wenn erneuerbare Energien aus anderen Ländern importiert würden, wo sie kostengünstiger produziert werden können. Volks- und regionalwirtschaftliche statt isolierter betriebswirtschaftlicher Kalkulationen müssen deshalb der Maßstab für Transformationsstrategien sein.

Zum anderen muss durch eindeutige, vom höheren gesellschaftlichen Wert der erneuerbaren Energien legitimierte Vorrangregelungen gewährleistet sein, dass die konventionellen Energieangebote in dem Maße verdrängt werden, in dem der Beitrag der erneuerbaren Energien zur Energieversorgung wächst. Die Anpassung der Systemfunktionen der überkommenen Energieversorgung an die erneuerbaren Energien muss politisch sichergestellt werden. Für die etablierte Energiewirtschaft ist dies in der Tat eine Zumutung, weil ihr diese Unterordnung schon abverlangt werden muss, wenn sie noch den überwiegenden Beitrag zur Energieversorgung leistet. Das Maß der Dinge darf jedoch nicht länger sein, wie viel erneuerbare Energien das konventionelle Energiesystem verträgt.

Konkret bedeutet das, für die konventionelle Energieversorgung keine Neuinvestitionen mehr zu genehmigen, die eine mehrere Jahrzehnte dauernde Amortisationszeit erfordern. Nur dadurch kann verhindert werden, dass die Mobilisierung erneuerbarer Energien immer wieder von den Systemfunktionen der konventionellen Energieversorgung durchkreuzt wird. Deshalb passen weder neue Kohlegroßkraftwerke noch neue Atomkraftwerke oder verlängerte Laufzeiten in eine Strategie des Energiewechsels.

Für eine ökologische Ordnungspolitik: Der politische Raum als Hauptkampfplatz

Beide Handlungsgrundsätze können nur mit Hilfe ordnungspolitischer Entscheidungen durchgesetzt werden. Die erste Grundsatzentscheidung sprengt den bisherigen energiewirtschaftlichen Betrachtungs- und Handlungsrahmen und macht aus einem geschlossenen Energieversorgungssystem ein offenes, das Spielräume für viele Initiatoren eröffnet. Die zweite ist auf das strukturkonservierende Interesse der Energiewirtschaft gerichtet. Sie zwingt diese, innerhalb des Energiewechsels selbst eine konstruktive Rolle zu übernehmen. Sie stellt diese vor die Frage, ob sie weiter um ihre Bestandserhaltung – noch ein paar Jahrzehnte bzw. eine Generation von Großanlagen mehr – kämpfen will, statt sich auf völlig neue Unternehmensperspektiven einzustellen, in anderem Format und mit anderen Schwerpunkten, auch jenseits ihres bisherigen Kerngeschäfts.

Der politische Raum ist der Hauptkampfplatz dieses strukturellen Energiekonflikts, was nicht zu trennen ist von dem Kampf um die öffentliche Meinung. Jeder Ruf nach einem Energiekonsens, in dem alle Energien ihren „berechtigten” Platz haben bzw. zugewiesen bekommen, läuft auf einen quotierten und damit begrenzten Beitrag der erneuerbaren Energien hinaus. Die Träger des konventionellen Energiesystems wie auch seine Protektoren in politischen Institutionen und Parteien übersehen jedoch, dass es eine Entwicklungsdynamik zu erneuerbaren Energien gibt, die ab einem bestimmten Punkt der Verfügbarkeit der dafür erforderlichen Technologien weder von den Strukturen der konventionellen Energieversorgung noch von politischen Institutionen aufzuhalten ist, sondern allenfalls gebremst werden kann. Dies gilt zumindest für demokratische und marktwirtschaftliche Ordnungen.

Diese Dynamik bezieht sich vor allem auf solche Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energien, die netzunabhängig sind und deshalb autonom eingesetzt werden können. Das herausragendste und bedeutsamste Beispiel dafür sind Gebäude, die sich selbst aus der natürlichen Umgebungsenergie mit Energie versorgen können. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine technologische Entwicklung etablierte Strukturen und politische Hindernisse unterminiert oder überrollt. Dies ist in der Energieversorgung allein mit erneuerbaren Energien möglich. Jede Strategie für den Energiewechsel muss dieses Potential im Auge haben, weil nicht zu erwarten ist, dass jemals die Situation eintreten wird, in der alle Regierungen und Parteien gleichzeitig die Zeichen der Zeit erkennen und ihre Entscheidungen für den Energiewechsel unabhängig von strukturkonservativen Energieinteressen treffen. Das war noch nie der Fall, auch nicht in den Zeiten der rot-grünen Koalitionsregierung in Deutschland.

Die Regierungen zum Jagen tragen!

Im Gegenteil: Regierungen müssen zum Jagen getragen werden, von einer demokratischen Öffentlichkeit und von den wirtschaftlichen Akteuren der technologischen Revolution hin zu erneuerbaren Energien. Die wichtigste politische Aufgabe ist es, die Räume dafür zu öffnen, indem alle willkürlichen Beschränkungen zur autonomen Nutzung erneuerbarer Energien aufgehoben werden.

Die generelle Ausrede der Träger des überkommenen Energiesystems lautet, der schnelle Energiewechsel sei gar nicht realisierbar oder zu riskant. In dem gewachsenen und ihr auch lange Zeit zugestandenen Anspruch auf Allkompetenz in den Fragen der Energieversorgung verwechselt sie dabei sich selbst mit der Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt: Was für sie nicht realisierbar oder zu riskant ist, wird generell disqualifiziert. Deshalb müssen sich alle die Frage stellen, ob es sich bei den vielerlei Blockaden und Bremsen, die den Wechsel zu erneuerbaren Energien erschweren und aufschieben, um bloße Ausflüchte handelt oder um berechtigte Einwände.

Dies zu erkennen, ist im Durchsetzungskonflikt um erneuerbare Energien von entscheidender Bedeutung. Solange dagegen widerlegbare Aussagen als begründet und stichhaltig gelten, halten sie viele in der Politik, in der Gesellschaft und in der Wirtschaft davon ab, den Wechsel zu erneuerbaren Energien konsequent voranzutreiben und den schnellsten Weg dahin einzuschlagen.

Angesichts der sich zuspitzenden Gefahren aus der überkommenen Energieversorgung geht es heute jedoch nicht mehr nur um eine Politik als „Kunst des Möglichen“, sondern um eine möglich zu machende Politik der „Kunst des Notwendigen“. Das ist der reale Realismus, der für den Energiewechsel notwendig und unabdingbar ist.

*/* Dieser Beitrag basiert auf dem im Verlag Antje Kunstmann erschienenen Buch „Der energethische Imperativ“, das zum Vermächtnis des am 14. Oktober verstorbenen Trägers des Alternativen Nobelpreises geworden ist. Noch unmittelbar vor seinem Tod hatte Hermann Scheer es in Stuttgart der Öffentlichkeit vorgestellt.

[1]Lester Brown, Plan B 2.0, New York 2006, S. 254 ff.

[2] Tamra Gilbertson und Oscar Reyes, Globaler Emissionshandel. Wie Luftverschmutzer belohnt werden, Frankfurt a. M. 2010.

[3] Elmar Altvater und Achim Brunnengräber: Mit dem Markt gegen die Klimakatastrophe? In: dies. (Hg.), Ablasshandel gegen Klimawandel? Hamburg 2008, S. 10f.